Der Anden-Nietzsche
Wer einmal anfängt, ihn zu zitieren, mag nicht mehr aufhören. „Dummkopf ist, wer Meinungen hat zum Gesprächsstoff des Tages.“ Oder: „Die Dekadenz einer Literatur beginnt, wenn ihre Leser nicht schreiben können.“ Oder: „Der Elfenbeinturm steht in schlechtem Ruf bei den Bewohnern intellektueller Kaschemmen.“ Oder: „Die sterbenden Gesellschaften häufen Gesetze an wie die Sterbenden Heilmittel.“ Oder aber: „Der Linke zahlt nur mit vorausdatierten Schecks.“
1977 erschien in zwei Bänden sein Hauptwerk, die „Scholien zu einem inbegriffenen Text“, 1986 durch „Neue Scholien“ und 1992 durch „Fortgesetzte Scholien“ weitergeschrieben. Scholien sind kommentierende Randbemerkungen des Bibliothekars am klassischen Text. Wenn Dávila seinen Haupttext als diesen Glossen inbegriffen bezeichnet, heißt das, dass es dem Leser vorbehalten bleibt, ihn bei der Lektüre mitentstehen zu lassen. Er wird von einem aristokratischen Reaktionär, rigiden Antifortschrittler und tiefkatholischen Schöngeist handeln, dessen Aversionen sich aus der Vulgarität der modernen Welt speisen und dessen Trost die Gespräche mit den großen toten Autoren sind. Und jene Scholien, die das fiktive Werk umzüngeln, sind schlicht und einfach Weltliteratur.
Einer sieht das nicht so: nämlich der Stanforder Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht. Für ihn ist Dávila ein „südamerikanischer Bruder“ von Gustave Flauberts schnurrigem Hobbygelehrtem Pécuchet, dem er neben jeder Originalität kurioserweise auch noch die Fähigkeit zu „aphoristischer Kompression“ abspricht. Der Professoralsdünkel bezieht sich freilich einzig auf die „Notas“, das von Dávila nie zur Herausgabe autorisierte Frühwerk, mehr hat Gumbrecht eingestandenermaßen nicht von ihm gelesen, womit er selbst nicht einmal als Bruder von Pécuchets närrischem Kompagnon Bouvard durchgehen würde.
Die literarische Form des Aphoristikers ist seit jeher dem Vorwurf ausgesetzt, es mangele ihr an Denkdisziplin und Systematik. Aphoristiker verteidigen sich gern mit Nietzsches Satz, der Wille zum System zeuge von einem „Mangel an Rechtschaffenheit“. Bei Dávila kommt noch die Tugend der Höflichkeit hinzu; er wollte einfach seine Leser nicht mit überflüssigen Sätzen langweilen; für ihn war die Entscheidung auch eine zwischen Geschwätzigkeit und Lakonie.
Also — zitieren: „Daß es eine Kollektivseele gibt, entdeckt man, wenn man ein Kollektiv sieht, in dem sie gestorben ist.“ — „Die Kosten für den Fortschritt lassen sich in Dummköpfen berechnen.“ — „Der Revolutionär ist zu guter Letzt ein Individuum, das es nicht wagt, allein auf Raub zu gehen.“ — „Bei den demokratischen Wahlen wird darüber entschieden, wen zu unterdrücken statthaft ist.“ — „Der Moderne nennt ‚Wandel’ das immer schnellere Marschieren auf dem gleichen Weg in die gleiche Richtung.“ Und, und …
Erschienen in Focus, 4/2006, S. 60–62