Genie der Nüchternheit
Normal ist es nicht, dass einer beides kann: auf der einen Seite so kenntnisreich wie formvollendet über Hitler, Himmler und Albert Speer schreiben, auf der anderen auf dieselbe Weise über Goethe, Richard Wagner und den Renaissance-Baumeister Andrea Palladio. Auf der einen Seite über die letzten Tage im Führerbunker, auf der anderen über den Zeichner Horst Janssen. Es ist im Gegenteil einzigartig, dass einer die für absehbare Zeit maßgebliche Hitler-Biografie verfasst und ein paar Jahre später sozusagen das Genre der italienischen Reise des deutschen Bildungsbürgers mit einem Buch abschließt, das der „Corriere della Sera“ sofort neben jenes Goethes stellte.
Fest junior fliegt von der Berliner Schule, nachdem er eine Hitler-Karikatur ins Schreibpult geschnitzt hat („eine unfaßliche Dummheit“), die Alternative ist ein Freiburger Internat, dessen Lehrer ihm ins Abgangszeugnis schreiben: „Joachim F. ist ohne geistiges Interesse.“ Er kommt zur „Pflicht-HJ“, zum Reichsarbeitsdienst und schließlich zur Luftwaffe. Bruder Wolfgang stirbt 1944 als Soldat im Lazarett hinter der Ostfront.
Während der Sohn in amerikanischer Kriegsgefangenschaft eine biografische Studie des Renaissance-Söldnerführers und Mäzens Castruccio Castracani verfasst, sitzt der Vater in russischer Gefangenschaft; aus dieser zurückgekehrt, beklagt er nicht den Verlust des Hauses am meisten, sondern den seiner Bibliothek, vor allem jener Goethe-Ausgabe, die er sich vor Jahrzehnten von seinem ersten Gehalt gekauft hatte.
Der Einbruch Hitlers und der Nazis in die von Geist, Bildung und Gesittung geprägte Welt des Halbwüchsigen war mit der Höllenfahrt des Regimes nicht beendet. Zeitlebens sollte Joachim Fest vom Thema Drittes Reich nicht loskommen, er schrieb Porträtskizzen des NS-Führungspersonals, zwei Bücher über Albert Speer, eines über die Männer des 20. Juli 1944, eines über Hitlers letzte Tage (die Vorlage für den Film „Der Untergang“). Die jahrelange literarische Beschäftigung mit Deutschlands Dämon hat Fest als eine „Art Galeere“ empfunden, seine „persönliche Neigung“ habe „immer anderen, davon weit entfernten Gegenständen gehört“, bekannte er 1981, aber er musste dieses Alien aus Braunau gewissermaßen aus dem Weg schreiben, um sich, beispielsweise, wieder seiner geliebten Renaissance zuwenden zu können. Denn natürlich war ihm Nietzsches Diktum geläufig, dass es „einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinn“ gibt, „bei dem das Lebendige zu Schaden kommt, und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Cultur“.
Womöglich ist Joachim Fest der Letzte einer Traditionskette gewesen, die in Deutschland mit Schillers „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“, in England nahezu gleichzeitig mit Edward Gibbons „Verfall und Untergang des römischen Imperiums“ beginnt und über das Werk von Männern wie Theodor Mommsen, Jacob Burckhardt, Egon Friedell oder Golo Mann zu ihm führt: Geschichtsschreibung als Kunst, als Literatur für ein großes Publikum. Seine Hitler-Biografie ist, wie gesagt, auch literarisch ein Werk höchsten Ranges. „Phantasie und Einfühlungsvermögen“, beharrte Fest, seien für den historisch Denkenden unentbehrlich, wer „eine Zeit begreifen“ wolle, werde allein aus „pedantisch zusammengetragenen Materialhaufen kein lebendiges Bild gewinnen“.
Darin liegt der Grund, warum die literarische Historiografie eine viel höhere Halbwertszeit besitzt als die rein akademische. Friedrich Schiller hat dies als wohl Erster in Worte gefasst: Schriften, die nur den jeweils aktuellen Stand der Erkenntnis vortrügen, würden mit der Zeit „entbehrlich“, schrieb er 1795 an Fichte, Texte aber, „die einen von ihrem logischen Gehalt unabhängigen Effekt machen und in denen sich ein Individuum lebend abdrückt, nie“. „Die Wahrheit mag den Ausschlag geben“, sekundierte 180 Jahre später der Aphoristiker Nicolás Gómez Dávila, „aber nur der Stil rettet.“
Im Gegensatz zu seinen Vorgängern musste Fest allerdings in einer zeitgeistigen Atmosphäre schreiben, die Vergangenes zunehmend als etwas Rückständiges, Falsches, zu Überwindendes betrachtet: „Im Grunde bietet die Vergangenheit dem Zeitgeist nur noch Vorwände, Gericht zu halten. Allem Zurückliegenden nähert er sich nicht in der verstehenden Haltung des Historikers, sondern mit den Werkzeugen des Entlarvungstechnikers.“ Aus dieser Warte gibt es in der Tradition nichts Beispielhaftes und Erhaltenswertes, sondern das historische Geschehen ist eine Abfolge von Schlechtigkeiten: Klassenherrschaft, Patriarchat, Rassismus, Frauen‑, Homosexuellen‑, Minderheitenunterdrückung, und, was Deutschland angeht, alles pfeilgerade ins Dritte Reich mündend.
Diesen Gestus des Abräumens und Ganz-von-vorn-Beginnens hatte Fest schon einmal erlebt. „Nichts“, wusste er, „verband Hitler mit der Vergangenheit.“ Fests Aversion gegen das „gedankenlose Destruktionstheater“ der Jahre 1968 ff. rührt aus seiner Erfahrung mit dem braunen Regime, aus welcher er eben nicht gefolgert hatte, dass nun ein völlig anderer Zeitgeist herrschen müsse, sondern am besten überhaupt nie wieder einer. In diesem Sinne mag man auch seine Äußerung verstehen, aus den NS-Jahren sei moralisch nichts zu lernen, denn dass man Menschen nicht umbringen dürfe, sei schon vorher bekannt gewesen. Seiner gelegentlichen Gesprächspartnerin Ulrike Meinhof, deren Meinungen er nie teilte, aber tolerierte (auch das war typisch für ihn), bescheinigte er, das letzte Mal vor ihr habe er „soviel energische Gewißheit über den Lauf und die Bestimmung der Welt von unserem sogenannten NS-Führungsoffizier vernommen“.
Als die „Seilschaften der herrschaftslüsternen Kommunikation“ schließlich die Diskurshoheit errungen hatten und Hitler zu jenem „Totempfahl“ geworden war, „vor dem der bon sauvage der Gegenwart rituelle Tänze aufführt und Opfer bringt“, hielt er dies auch für den „Versuch einer geistig auf vielen Gebieten unproduktiv gewordenen Nation, wenigstens durch Hitler und die Greuel jener Jahre einige Aufmerksamkeit zu erregen“.
Im Historikerstreit 1986/87 fand man ihn nicht deswegen auf der Seite Ernst Noltes, weil er dessen Thesen teilte – Fest war, wie gesagt, eher skeptisch gegen Theorien –, sondern weil er als gebranntes Kind die Freiheit der Diskussion gegen die Tabus der Diskurs-Kontrolleure verteidigen wollte. Er stritt (wenn das bei seinem Duktus überhaupt ein angemessenes Wort ist) mit dem sauberen Gewissen eines Libertins, der durchs Elternhaus vom Nazi-Wahn verschont „und folglich nie in Versuchung geraten“ war, „die Verlogenheiten und rituell gewordenen Reuebekenntnisse abzuleisten“, während einige seiner Kontrahenten die eigene oder die Nazi-Vergangenheit ihrer Väter, wie es heißt, „aufarbeiteten“. Noch im Dezember 2005 beklagte die „Frankfurter Rundschau“, in Sachen Historikerstreit sei bei ihm „keine Spur von Einsicht oder nachträglicher Reflexion erkennbar“ gewesen; er war überhaupt so ein Unreflektierter, der Herr Fest.
Sein heimliches Hauptwerk ist freilich das italienische Reisetagebuch „Im Gegenlicht“, gewissermaßen sein ganz persönlicher „Untergang des Abendlandes“. Im Niedergang des exemplarischen Südweh- und Bildungshungerlandes des deutschen Bürgertums spiegelt sich für Fest der europäische Verfall überhaupt. „Zum ersten Mal werden wir Zeugen eines Dekadenzprozesses, den keine Verfeinerungen begleiten, der dem Bewußtsein der eigenen Vergänglichkeit weder Größe noch Stil abgewinnt“, notiert der Reisende. „Das wird, ganz beliebig, am Brutalismus der Architektur wie der Künste überhaupt deutlich, an der Primitivierung der Sprache und der Ausdrucksformen, desgleichen an der ordinären Lust zu allem Massenhaften.“
War Goethes „Italienische Reise“ ein Buch der Selbstfindung, ist jene seines spätgeborenen Geistesgenossen ein Werk des Verlustes, des Abschieds, der tief stehenden Sonne, des gedämpften Tons, was keineswegs (nur) mit dem verschiedenen Alter der beiden zu tun hat – Goethe war 37, als er aus Weimar desertierte, Fests Notizen sind die eines Mannes um die 60. Der späte Reisende nimmt Abschied von den Schönheiten Italiens, die dem vermeintlichen Fortschritt weichen oder im Massentourismus mit allen seinen architektonischen Begleitzumutungen versinken. Frühere Epochen, schreibt er, hätten „in der Gewißheit jederzeit wiederherstellbarer Schönheit“ gelebt, die der Gegenwart aber abhanden gekommen sei. „Das Zerstörte weckt nicht nur Trauer über den Verlust. Fast noch bedrückender ist die Ahnung des Häßlichen, das an seine Stelle treten wird.“ Er nimmt Abschied von den regionalen Besonderheiten – „Wir werden jetzt alle moderne Menschen: aufgeklärt, borniert und ununterscheidbar“, zitiert er einen Mafioso aus Palermo – und letztlich von der Geschichte: „Vielleicht, so schien mir im Gedränge auf dem Forum, inmitten des Ausflugsbetriebs, ist das Nichtmehrwissen der eigentliche Untergang Roms. Dann fände die jahrhundertelang erforschte und im Streit erörterte Frage, wann er sich ereignet habe, jetzt eine Antwort.“ Oder, als gleichsam müde lächelnde Antiklimax, über die Küstenstadt Locri (das antike Lokris): „Berühmt war im Altertum das Heiligtum der Persephone, und früher als jede andere griechische Stadt soll Lokris seine Gesetze schriftlich niedergelegt haben. Auch eroberte es das mächtige Kroton. Heute werden in der Stadt Gartenzwerge hergestellt.“
Als ein Mensch, der wie aus einer anderen Epoche hineinragte ins Hier und Jetzt, wurde er nicht verlegen, die herrschenden Vulgaritäten anzuprangern. „Die Architektur der Gegenwart“, klagt er in einem Aufsatz über Palladio, „besitzt überhaupt kein Menschenbild mehr.“ Über das moderne Theater äußerte er schon 1971, es spiele, „außer einer parasitären, keine Rolle mehr“. Auch hier müsse man Valet sagen: „Das ist, für sicherlich nicht wenige, so schmerzlich wie andere Abschiede auch: der von der Beletage, von den Klassenschranken, der ehelichen Treue oder vom Dienstpersonal.“ Über die deutsche Debatten-Engstirnigkeit: „Zu den Einbußen der Gegenwart zählt, daß sie den Glücksfall fremden Denkens nicht mehr empfindet.“ Anders als die zahllosen Einheitsmeiner der trotzdem gern so genannten Streitkultur verstand er „Kultur als Prinzip der Verschiedenheit gegen die Barbarei des Einhelligen“.
Fest war, befand Johannes Gross vor über 25 Jahren, „der Erste unter den historischen Schriftstellern Deutschlands“. Er war dies bis zur letzten Zeile.
Erschienen in: Focus 38/2006, S. 68 ff.