Die Möglichkeit einer Inselmentalität
Ein Kniefall vor dem „Gattopardo“
Dieser Tage vor sechzig Jahren lag ein sizilianischer Aristokrat, ein Fürst, todkrank darnieder und verschickte das Manuskript seines Romans – es war der einzige Roman, den er je geschrieben hatte – an eine Tochter Benedetto Croces. Als keine Antwort kam, sandte er eine Kopie an einen Lektor bei Einaudi. Der lehnte das Manuskript mit der Bemerkung ab, es sei zu essayistisch. Der Fürst erhielt die Antwort auf dem Sterbebett, sagte „Schade!“ und ging kurze Zeit später zu den Vielen.
Das andere Manuskript fand mit Verzögerung seinen Weg zu Feltrinelli. 1958 erschien das Buch und wurde ein überwältigender Erfolg. In Rede steht der Roman „Il Gattopardo“ von Giuseppe Tomasi di Lampedusa, ein Werk höchsten literarischen Karats und eines meiner Lieblingsbücher. Der polyglotte und vielbelesene Adlige hat darin die Geschichte seiner eigenen Familie verarbeitet. Ende 1954 begann er mit der Niederschrift. Am 23. Juli 1957 starb er an Lungenkrebs.
„Il Gattopardo“ ist der Sizilienroman schlechthin, natürlich auch ein Gesellschaftsroman – was die tiefe Einsicht in zwischenmenschlich-gesellschaftliche Konstellationen angeht, bewegt sich dieses Buch durchaus auf einer Ebene mit Prousts „Recherche“ –, ein Epochenwechsel- und Endzeitroman – als Vergleich und vielleicht etwas allzu plakativ ins Deutsche gedreht: „Buddenbrooks“ mit einem gehörigen Schuß Spengler –, aber vor allem hielt mit Lampedusas Opus postumum die größte Insel des Mittelmeers Einzug in die Weltliteratur.
Der Roman schildert das Risorgimento aus der Perspektive des Fürsten Don Fabrizio Salina. Dieser Fürst ist eine imposante Gestalt, ein Mannsbild, wie man früher sagte, Vater von sieben Kindern, ein so herren- wie hünenhafter Patriarch, aber von zärtlicher Wesensart, blitzgescheit und melancholisch, mit astronomischen Interessen, erotischen Bedürfnissen und einer Raubkatze auf dem Wappen. Folgen wir ihm zunächst kurz in den Garten seines Palastes, eine gute Gelegenheit, sich am Sprachvermögen seines Schöpfers und Klassengenossen zu erbauen:
„Die Paul-Neyron-Rosen, deren Stecklinge er persönlich in Paris gekauft hatte, waren degeneriert: zunächst getrieben, danach erschlafft von den kraftvollen trägen Säften der sizilianischen Erde, von den apokalyptischen Julimonaten versengt, hatten sie sich in eine Art obszöne fleischfarbene Kohlköpfe verwandelt, die dafür einen betäubenden, ja fast erotischen Duft verströmten, den kein französischer Züchter zu erhoffen gewagt hätte. Der Fürst hielt sich eine unter die Nase, und ihm war, als rieche er den Schenkel einer Ballerina der Pariser Opéra.“
Der Roman beginnt im Frühjahr 1860. Der Guerillaführer Giuseppe Garibaldi ist mit seinem Heer von Freiwilligen auf Sizilien gelandet, um die Bourbonen zu vertreiben und für die Einheit Italiens zu kämpfen. Einen sizilianischen Adligen wie Don Fabrizio kümmern die Herrscherwechsel normalerweise wenig. Bislang hat sich sein Geschlecht – wie die gesamte Bevölkerung der Insel – mit den immer neuen Machthabern stets zu arrangieren gewußt. Doch diesmal ist es anders. Ein grundlegenderer Wandel kündigt sich an als der zwischen zwei fremdländischen Steuererhebern. Die Gesellschaft als ganze wird umgestürzt. Ein neuer Menschenschlag betritt die Bühne. Er wird peu à peu die gesamte alte Oberklasse verdrängen und sich an ihre Stelle setzen, ohne die Lücke ganz ausfüllen zu können, die jene Klasse hinterläßt.
Vom Schmerz dieser Lücke handelt der Roman. „Wenn eine Aristokratie untergeht, zerfällt sie in tausend kraftvolle Individuen, die gewaltsam in die Geschichte geworfen werden; wenn eine Demokratie untergeht, schrumpft sie wie ein Gummiball“, schrieb Nicolás Gómez Dávila; womöglich ist diese Sentenz eine Scholie zu Lampedusas Meisterwerk gewesen. Was den zweiten Teil betrifft, wird sich ihr prophetischer Wert in den kommenden Jahren zeigen.
Das Exemplar jenes aufsteigenden Menschenschlages, mit dem sich der Fürst konfrontiert sieht, ist Don Calogero Sedára, ein umtriebiger Geschäftsmann und korrupter Verwalter, ein Mensch ohne Kultur, ohne Empathie, schlau, verschlagen, skrupellos, der mit ganz unsizilianischem Eifer – „Von jeder Erdscholle stieg fast greifbar ein Verlangen nach Schönheit auf, das von der Trägheit rasch ermattet wurde“ – seinen Reichtum mehrt.
Als sich die Familie Salina wie jedes Jahr für drei Monate auf den Landsitz nach Donnafugata zurückzieht, ist Don Calogero dort inzwischen zum Bürgermeister und Oberhaupt der Liberalen aufgestiegen. Nach alter Sitte lädt der Fürst die lokalen Notabeln zum Dinner. Aus Zartgefühl gegenüber denjenigen unter den Gästen, die keinen besitzen, verzichtet er auf den Gesellschaftsanzug. Doch dann platzt der 16jährige Sohn Paolo in den Salon und ruft, Don Calogero sei ankommen, und er sei „im Frack“. Normalerweise würde sich einer wie Don Fabrizio über den overdressed erscheinenden Emporkömmling amüsieren. „Jetzt aber, besonders empfänglich für Vorahnungen und Symbole, sah er in jenem weißen Krawättchen und in den zwei schwarzen Rockschößen, die die Treppe seines Hauses hinaufkamen, die Revolution selbst. Nicht nur war er, der Fürst, nicht mehr der alleinige Herr von Donnafugata, sondern er war überdies gezwungen, im Gehrock einen Gast willkommen zu heißen, der, mit Fug und Recht, im Gesellschaftsanzug erschien. (…) Dessen Anblick milderte jedoch seinen Kummer. Als politische Demonstration zwar vorzüglich geeignet, war Don Calogeros frack jedoch als schneiderische Leistung eindeutig eine Katastrophe. Das Tuch war von feinster Qualität, die Machart nach der neuesten Mode, der Schnitt aber schlicht monströs. Londons Wort war unsäglich kläglich in einem girgentischen Schneider Fleisch geworden, an den sich Don Calogeros hartnäckiger Geiz gewandt hatte.“
Fürst Salina hat einen gutaussehenden, einnehmenden und talentierten Neffen, Tancredi mit Namen, den er mehr liebt als seine leiblichen Kinder, Don Calogero wiederum ist Vater einer atemberaubend schöne Tochter namens Angelica. In Viscontis Verfilmung „Der Leopard“ aus dem Jahr 1963 werden die beiden gespielt von Alain Delon und Claudia Cardinale, das Casting war in Ordnung, den Film insgesamt können Sie getrost vergessen. Der Regisseur hat das tragische Epos über den Niedergang des sizilianischen Adels in einen sentimentalen Kostüm- oder Revuefilm verwandelt; kein Abgrund, nirgends; vom grandiosen Stoizismus des Originals, dieser Mischung aus Grandezza, Melancholie und Untröstlichkeit, vermittelt der Film wenig. Ach, hätte doch ein Kubrick … – –
Kurzum: Wenige Besuche später verläßt der Parvenü mit stolzer Brust den Palast, „während, von oben herab, die ragende Gestalt des Fürsten dem kleiner werdenden Häufchen aus List, schlecht sitzenden Kleidern, Gold und Ignoranz nachschaute, das jetzt fast zur Familie gehörte“. Die rustikalen Methoden das Quasi-Schwiegersohns als Verwalter verschaffen dem Fürsten einige Einkünfte mehr (und schaden seinem Ruf); im Gegenzug bringt er Don Calogero ein paar Manieren bei, aber das ist nur Schminke. Der Paradigmenwechsel ist unaufhaltsam. Was er bedeutet, beschreiben zwei kurze Passagen nahezu erschöpfend. Die erste: „Jahrhundertealte Bräuche verlangten, daß sich die Familie Salina am Tag nach der Ankunft ins Kloster Santo Spirito begab, um am Grab der seligen Corbèra zu beten.“ Dieser reizende Imperativ – das unhinterfragbare geistige Ritual, das Existieren in Zusammenhängen über viele Generationen, das sich-Fügen in formfordernde Unbequemlickeiten als Voraussetzung für alle Kultur – verliert jede Dignität. Er stirbt aus.
Die zweite Passage beschreibt den Blick des Fürsten auf seinen Quasi-Enkel: „Die Bedeutung eines Adelsgeschlechts beruht voll und ganz auf der Tradition, auf den lebenswichtigen Erinnerungen; und er, er war der letzte, der ungewöhnliche Erinnerungen besaß, ganz andere als die der übrigen Familien. Fabrizietto würde banale Erinnerungen haben, die gleichen wie seine Mitschüler am Gymnasium.“
Am Ende des Romans zieht der Don Fabrizio Bilanz: „Wir waren die Pardel, die Löwen; die uns ersetzen, werden die Schakälchen sein, die Hyänen; und wir allesamt, Pardel, Schakale und Schafe, werden uns weiterhin für das Salz der Erde halten.“
In einer der Szenen, die der Einaudi-Lektor möglicherweise als zu essayistisch empfand, besucht der Sekretär der Präfektur, ein Norditaliener, den Fürsten, um ihm einen Platz im Senat anzudienen. Salina schlägt statt seiner Don Calogero vor. Die Gründe, mit denen der Fürst ablehnt, sind eine Beschreibung der sizilianischen Mentalität, die dortzuland rasch kanonisch wurde. In Sizilien sei es belanglos, ob jemand richtig oder falsch handele, erklärt der Fürst, die einzig unverzeihliche Sünde bestehe darin, überhaupt zu handeln: „Schlaf, das ist es, was die Sizilianer wollen, und sie werden denjenigen hassen, der sie wecken möchte.“ Den neuen parlamentarischen Herren stehe die Idee vor Augen, Sizilien zu modernisieren, doch ein modernes Sizilien, das sei „wie eine Hundertjährige im Rollstuhl, die man zur Weltausstellung geschleppt hat, die nichts versteht und der alles egal ist“.
Alle sizilianischen Handlungen, führt Don Fabrizio weiter aus, „sind geträumte Handlungen, auch die gewalttätigsten, unsere Sinnlichkeit ist Verlangen nach Vergessen, unsere lupare und unsere Messerstechereien sind Todessehnsucht; Sehnsucht nach wollüstiger Erstarrung, also wiederum nach Sterben; (…) unser meditativer Anschein ist der des Nichts“. Die Sizilianer „werden nie den Wunsch haben, sich zu verbessern, aus dem einfachen Grund, weil sie glauben, vollkommen zu sein; ihre Eitelkeit ist stärker als ihr Elend“. Niemand und nichts könne „ihr selbstzufriedenes Warten auf das Nichts in Frage stellen“.
Und: „Diese Heftigkeit der Landschaft, diese Grausamkeit des Klimas, diese andauernde Spannung, wohin man blickt, auch diese Monumente aus der Vergangenheit, herrlich, jedoch unverständlich, weil nicht von uns gebaut, und die uns umgeben wie prachtvolle stumme Gespenster; all die zu den Waffen greifenden und wer weiß woher gelandeten Herrscher, die, sofort zufriedengestellt, schon bald gehaßt und immer unverstanden, sich uns bloß anhand von rätselhaften Kunstwerken und mittels handfester Steuereintreiber mitgeteilt haben, mittels Steuern, die dann woanders ausgegeben wurden; all dies hat unseren Charakter geformt, der von äußeren Fügungen geprägt bleibt und überdies von einer erschreckenden Inselmentalität.“
Auf Sizilien, unter einem Himmel, aus dem es die Hälfte des Jahres, wie Salina es in einem biblischen Bild ausdrückt, Feuer regnet, ist ein Tag mehr wie jeder andere als anderswo auf der Welt. Der 10. Juli 1943 sollte eine Ausnahme werden. Es begann die Operation „Husky“, mit der die Amerikaner ihre Landung auf der Insel vorbereiteten, und wenn Amerikaner eine Bodenoperation vorbereiten, pflegen sie denen an besagtem Boden bekanntlich möglichst viele Bomben auf die Köpfe zu werfen. Eine davon traf den Palast der Lampedusa in Palermo und vernichtete in Sekunden alles, was diese Familie in Jahrhunderten aufgebaut und geliebt hatte: die kostbare Bibliothek, den Garten, die Säle mit ihren Fresken: „An der Decke schauten die über goldene Wolkenbänke geneigten Götter lächelnd herunter, unerbittlich wie der Sommerhimmel. Sie wähnten sich ewig: eine in Pittsburgh, Pa., hergestellte Bombe sollte ihnen 1943 das Gegenteil beweisen.“
Insgesamt zerstörten die Luftangriffe allein in Palermo mehr als sechzig Kirchen und Paläste. Giuseppe Tomasi Caro, Fürst von Lampedusa, Herzog von Palma, hat versichert, er schreibe nur, um mit seiner Traurigkeit fertig zu werden.
(Acta diurna vom 30. April 2017)