„Mit verzweifelter Leidenschaft”
Giacomo Puccini ist einer der erfolgreichsten Opernkomponisten. Dennoch achten ihn die Hohepriester der Zunft gering. Wo liegt der Fehler? Nicht bei Puccini.
Giacomo Puccini ist eine singuläre Figur in der Kunstgeschichte. Bis heute gehört der vor 150 Jahren im toskanischen Lucca geborene Musiker zu jener Handvoll Komponisten, auf deren Werke kein Opernhaus verzichten kann, ohne den Bankrott zu riskieren. Wo immer „La Bohème“, „Turandot“ oder „Madama Butterfly“ gegeben werden, füllen sich wie von Zauberhand die Zuschauersäle, ob in Mailand oder Manaus, Tokio oder Sydney. Als „Tosca“ im Jahre 1992 an ihren römischen Originalschauplätzen gespielt und weltweit live übertragen wurde, sahen und hörten mehrere hundert Millionen Menschen an ihren TV-Geräten zu.
Weltberühmt war der Mann aus Lucca bereits zu Lebzeiten: 1924 wählte ihn die New York Times zum bekanntesten Europäer (vor Albert Einstein). Er war außergewöhnlich attraktiv: Alma Mahler-Werfel, die ihn als Frau Gustav Mahlers kennenglernt hatte, beschrieb ihn als „einen der schönsten Menschen“, denen sie je begnet sei. Er war erfolgreich: Seine Opern liefen Abend für Abend in allen Städten der Erde, und es waren die ersten, von denen jemals Gesamtaufnahmen in Schellack gepresst wurden. Er war reich: Ihm gehörten Villen, Motorboote, Automobile, und Frauen lagen ihm scharenweise, wie man sagt, zu Füßen. Vermutlich ist nie ein anderer Künstler so gefeiert worden. Der Londoner Daily Express nannte Puccini den „König der Melodien“, und wo er auftauchte, wurde er bejubelt wie ein Souverän. Auch anderen Komponisten hat das Publikum Triumphe bereitet, aber dass, beispielsweise, der Schlussakt einer Oper wiederholt werden musste, weil das Auditorium auch nach Mitternacht und etlichen Zugaben einfach nicht den Zuschauersaal räumte, von bereits abgeschminkten, umgekleideten Sängern und mit halber Orchesterstärke – die andere Hälfte war bereits nach Hause gegangen –, dergleichen passierte nur einem („La Bohème“, Palermo, 24. April 1896).
Und doch ist kaum ein anderer Künstler von Rang dermaßen beschimpft worden wie er. Kritiker und Intellektuelle taten seine Opern als seicht, kitschig, unwahr, effekthascherisch, sentimental, süßlich, theatralisch und dergleichen mehr ab. Zahlreiche Komponistenkollegen, die meisten heute vergessen, stimmten in diesen Schmähchor ein.
Erfolg über mehrere Generationen unterscheidet den Klassiker vom gemeinen Künstler. Puccinis Musik bezirzt, ergreift und rührt nun schon die dritte bis fünfte Alterskohorte von Hörern – zuletzt zu beobachten am märchenhaften Aufstieg eines britischen Handy-Verkäufers und Castingshow-Tenors, der ohne diese Musik nicht stattgefunden hätte. Dennoch haftet bis heute ein leichter Hautgout am Namen des Komponisten. Puccini werde zwar geliebt, aber man bekenne sich nicht zu ihm „wie man sich zu Wagner oder Mahler oder Richard Strauss bekennt“, notierte sein deutscher Biograph Richard Specht anno 1931; „viele Menschen lieben Puccini, aber man hat das Gefühl, er wird einer Sorte von Vergnügungen zugeordnet, die Schuldgefühle auslösen, etwa wie ein Dessert“, echot der US-amerikanische Musikwissenschaftler William Berger mehr als 70 Jahre später in seinem Buch mit dem bezeichnenden Titel „Puccini Without Excuses“.
Dieses Missverhältnis ist sicherlich eines der groteskesken Phänomene in der Kunstgeschichte. Woher mag es rühren? Einer alten Musikerfamilie entstammend, beherrschte Puccini sein Metier meisterhaft, seine Partituren verraten auf jeder Seite die Hand eines absoluten Könners, jeder Ton sitzt, die Akte schließen effektsicher, die Instrumentierung ist von erlesener Feinheit, die Melodien sind unvergleichlich, ab „Manon Lescaut“ ist ersichtlich ein Genie am Werk – warum also die immer wieder anzutreffende Geringschätzung? Nun, womöglich hat in dieser Verkleidung der Neid der künstlerischen Zeitgenossen auf den maßlosen Erfolg des einstigen Lucceser Kirchenorganisten bis heute überlebt – und viele, die über ihn vorurteilen, kennen außer ein paar Arien nichts. Der gewichtigste Grund dürfte indes darin bestehen, dass Puccini ein Makel eignet, der für den up-to-date-Intellektuellen seit hundert Jahren unverzeihlich ist: Er war kein Avantgardist. Er hat den sogenannten Fortschritt nicht befördert. Er hat weder die Opernform gesprengt, noch sich ins ewige Eis der Atonalität begeben, noch Gesellschaftskritik geübt. Stattdessen hat er Musik komponiert, die schön ist, und damit die Massen berührt. So einem musste man einfach misstrauen.
Aber natürlich stimmt der Vorwurf nicht, Puccini sei mit seiner Musik „weit“ hinter dem zurückgeblieben, „was im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert hinsichtlich struktureller Durcharbeitung üblich geworden war“ (so sein Biograph Wolfgang Marggraf). Seine späteren Partituren ab „La Fanciulla del West“ (1910) und vor allem die unvollendete, 1926 postum uraufgeführte „Turandot“ demonstrieren das Gegenteil. Auch der Grad an Exotik, den er in seiner japanischen Tragödie „Madama Butterfly“ durch Verwendung fernöstlicher Originalmelodien, „falsche“ Pentatonik sowie raffinierteste Instrumentation erreicht, war in der abendländischen Musik völlig neu. Freilich zeugen weder kompositionstechnische Neuheit noch strukturelle Komplexität noch höchstmögliche harmonische Gewagtheit unbedingt von Genie (Mozart wäre sonst wohl keines). Immer entscheidet nur, wie der Künstler seine Mittel beherrscht und ob er ästhetisch trifft.
Puccini hat keine Schemen, sondern wirkliche Menschen auf die Bühne projiziert, er ist einer der sinnlichsten Komponisten – und einer der traurigsten. Die enormen Schönheiten seiner Musik wachsen aus der Verzweiflung. Seine Bühnenwelt ist eine rabenschwarze; der angebliche Kitschier war in Wirklichkeit der größte Nihilist des Musiktheaters. In dem spezifisch puccinesken Melos lebt und webt eine tiefe Schwermut. Von einem Takt auf den anderen vermag der Komponist eine Art Dynamik der Trauer zu entwickeln, die ganz einzigartig ist, dabei allerdings nichts Schwächliches oder Morbides hat, sondern mit dem Mut der Verzweiflung gegen jenes Ende aufbegehrt, das sie beschwört.
Puccinis bevorzugte Geschöpfe sind vor der Zeit Todgeweihte, wir lernen sie kennen, als der Schlag, der sie fällen wird, bereits unterwegs ist. Das Orchester erzählt davon, aber diese Manon, Des Grieux, Cavaradossi, Tosca, Cio-Cio-San, Giorgetta, Luigi setzen dem zermalmenden Geschick die Kraft ihrer Jugend entgegen. Weil Puccini seine Paare und vor allem seine Heldinnen liebt, sie aber trotzdem sterben lassen muss, gibt er ihnen unsterbliche Melodien mit, ungefähr wie die frühen Hochkulturen ihren toten Herrschern erlesene Kostbarkeiten ins Grab legten. Diese Melodien wollen fliegen, aber sie entkommen der Schwerkraft der Erde nicht – das ist das Geheimnis ihrer typischen nach unten führenden Bögen. Puccinis unwiderstehliche Kraft „liegt im Aufschrei der gequälten Kreatur“ (Specht); seine Protagonisten bäumen sich auf und vergehen singend. Es gibt auf Puccinis Bühne nichts, was über diesen Tod hinausweist, darin unterscheidet er sich erheblich von Verdi, dem er pro forma nachfolgte, oder Wagner, den er zeitlebens bewunderte und auf den er in seinem Werk permanent anspielt. „Wer für die Liebe lebt, stirbt auch für die Liebe“, singt der Liedverkäufer im Einakter „Il Tabarro“ und bringt damit Puccinis Credo auf den Punkt.
Ein Kritiker sprach nach der Uraufführung von „Manon Lescaut“ das Wort paganesimo aus. Tatsächlich ist der Opernkomponist Puccini ein Heide. Vom „Sinn des Lebens“, von „Erlösung durch die Kunst“, von Transzendenz und Nirwana weiß seine Musik nichts. Aber von Liebe und Begehren, von Schmerz und Tod weiß sie nahezu alles. Puccinis Bühnengestalten singen Melodien von so sengendem Verlangen und so bitterem Leid, dass es wenig wundert, wenn Millionen reale Menschen sich in ihnen wiedererkennen. „Die Liebe und der Schmerz“, so sah der Maestro es selbst, „sind mit der Welt geboren“, und sein Metier nannte er bescheiden die Darstellung von „großem Schmerz in kleinen Herzen“.
Als Puccini an „Manon Lescaut“ arbeitete, fragten ihn Bekannte, warum er sich ausgerechnet einem Stoff zuwende, den sein berühmter französischer Kollege Jules Massenet bereits erfolgreich auf die Bühne gebracht hatte. Puccini entgegnete, Massenet habe den Stoff wie ein Franzose behandelt – „mit Puder und Menuett“ –, er dagegen werde es wie ein Italiener tun: „mit verzweifelter Leidenschaft“. Dieses con passione disperata sollte fortan sein sogenanntes Markenzeichen werden.
Mit der tragischen Liebesgeschichte der Manon Lescaut und des Chevaliers Des Grieux gelang Puccini 1893 der Durchbruch; nach der umjubelten Turiner Premiere trat das Werk seinen Siegeszug um den Globus an und machte binnen weniger Monate aus dem Regionaltalent einen Weltstar. Seinen Stil fand er aber erst mit dem Folgewerk „La Bohème“: die Kombination von sprunghaft-schillernden, sich selbst unentwegt fortzeugenden, mosaikartig gefügten, gleichsam nervösen Melodieschnipseln, die bei ihm die Rezitative ersetzen, mit den großen Bögen seiner Arien und Duette. Fortan genügen wenige Takte, um ihn zu erkennen. Von Wagner übernahm er unter anderem die Idee der Leitmotive, Debussy hat seine Harmonik beeinflusst, und wie Gustav Mahler hat er patchworkartig Volksweisen, Alltagsgeräusche, exotische Klänge in seine Musik amalgamiert, vom Madrigal bis zum Modetanz, vom Kirchenchor bis zur Autohupe, Historisches steht neben den avanciertesten zeitgenössischen Kompositionsmethoden, und doch ist am Ende jeder Takt Puccini und nichts sonst. Heimlicher Höhepunkt seines Werkes sind übrigens jene drei eher unbekannten Einakter, die unter dem Titel „Il Trittico“ firmieren. In ihrer Kompaktheit und Bündigkeit sind sie unvergleichlich, nie hat Puccini freier komponiert.
1920 erhielt der Komponist eine Postkarte mit den Worten: „Menschen sterben und Regierungen wechseln, aber die Melodien der Bohème werden ewig bestehen.“ Absender war ein Mann, der sich aufs Erleuchten bestens verstand: Thomas Alva Edison.
Erschienen (leicht gekürzt) in: Weltwoche Heft 1/2009 , S. 60–61