Romantiker & Rammbock
Der literarische Alleskönner Eckhard Henscheid bekommt eine Werkausgabe und darf sich halbwegs unsterblich fühlen
Der Polterkopf ist überraschend nett und friedfertig, zurückhaltend gar. Sollte die Stadtverwaltung Amberg für ihren berühmtesten Bürger fremdenverkehrskompatible Imitate …? Nein, nein, sobald der Herr ins Reden gerät (auch das übrigens in verblüffendem Piano) und spätlausbübische Verschmitztheit das mürrische Antlitz belebt, stellt sich Echtheitsempfinden ein: Das ist der Mann, der die „Vollidioten” geschrieben hat, „Dolce Madonna bionda” und die „Erledigte(n) Fälle”. Der Autor, der „einen ganz neuen Ton in die deutsche Literatur brachte” („Neue Zürcher Zeitung”). Dessen Romane „das Bewusstsein und den Geschmack einer ganzen Generation geprägt haben” („Literaturen”). Der „Vollstrecker der deutschen romantischen Prosa” („Süddeutsche Zeitung”). Der Formulierer von Sätzen wie „Die Bahn klomm couragiert den Apennin hinan” oder „Nach einer Weile war ein achtbares Gerammel im Gange”. Und eben auch: „Er war eine durchaus imposante, zugleich aber irgendwie immer knapp vom Umfallen bedrohte Erscheinung.” Kurzum: ein „König” („Frankfurter Rundschau”), „Genie” („Berliner Zeitung”) beziehungsweise „Meister” (FAZ).
Henscheid, den alternden Cäsarenschädel sonnenbeflimmert, sitzt vorm Café „Campo” am Amberger Marktplatz und erzählt von den Brüdern: Dort hinten seien sie stets entlanggewallt, vorbei am Rathaus und weiter der Länge nach durchs Amberger mauerumfriedete Innenstadt-Ei … Die Brüder? Aber ja doch, die Iberer-Brüder aus dem Roman „Die Mätresse des Bischofs”. Der, wenn schon mal von Satzmonumenten die Rede ist, übrigens mit der auf über 500 Seiten erschöpfend ungeklärten Frage anhebt, „ob der Sinn des Lebens, das Glück dieser Erde, eher in der Betrachtung und in der Besitznahme einer nackten Frau besteht oder vielmehr in der jahrelangen und zähen Beobachtung zweier älterer Brüder, noch dazu fremder”.
Weil beispielsweise dieses Buch (in dem weder ein Bischof noch dessen Mätresse noch eine einzige abgelutschte Formulierung vorkommen) unter den Nachwachsenden eher unbekannt zu sein scheint, weil Henscheids kaum überschaubares und an diversen Orten veröffentlichtes Werk überhaupt nur fragmentarisch zu haben ist, hat sich der Verlag Zweitausendeins jetzt entschlossen, eine auf etwa 15 Bände angelegte Gesamtausgabe herauszubringen.
Zwar huldigt seit vielen Jahren eine quantitativ solide Gemeinde dem literarischem Nonkonformismus des „Titanic”-Mitgründers (allein die „Trilogie des laufenden Schwachsinns” verkaufte sich etwa 350000-mal), aber etwas mulmig ist dem bei diesem anachronistischen verlegerischen Großunterfangen schon – und zwar „aus dem Pisa-Grund”.
Dieses Werk ist übrigens von singulärer Vielfalt: vier bis sechs „echte”, das heißt große Romane plus jede Menge zum Teil romannaher Erzählungen, darunter die hochgradig legendäre „Idylle” (so der Untertitel) „Maria Schnee” oder die im weitesten Sinne medienkritische Suada „Beim Fressen beim Fernsehen fällt der Vater dem Kartoffel aus dem Maul”. Sodann zwei Quasi-Biografien (Kohl und Bäderkönig Zwick), Kulturgeschichten, Gedichte, Klassikerexegesen (Goethe, Eichendorff), Theologisches („Welche Tiere und warum das Himmelreich erlangen können”). Ferner Essays, Feuilletons, dramatische Werke, Glossen, Verrisse, Sprachkritik („Dummdeutsch”) und nicht zuletzt zwei Bände geschmackssicherer, faselresistenter und rechthaberischer musikalischer Schriften; Henscheid ist ausgebildeter Pianist und Opernfreak.
Ach ja, Fußballfan ist er auch. Zumindest früherer Mannschaften. Jener, die sich 1982 „ins WM-Finale gekaspert” hat, wohl schon nicht mehr. Er verfasste die „Hymne auf Bum Kun Cha” und feiert in seinen Essays schon mal die „literarisch-magische Komponente des Fußballs”, die worin besteht? Na, etwa „in der puren Gestalt schierer Mannschaftsaufstellungen, deren orakleische Kraft zuweilen diretissima an Goethes ‚Urworte orphisch’ anknüpft”. 1973 forderte er in seinem Roman „Die Vollidioten” die Nationalmannschaftsnominierung Bernd Hölzenbeins, der 1974 das WM-Finale gegen Holland mehr oder weniger und vor allem folglich entschied.
Gelegentlich hat man Henscheid vorgeworfen, in seinen Romanen passiere zu wenig („Und weiter keine Spur von Handlung!”, stoßseufzt der Ich-Erzähler in der „Mätresse” nach 381 Seiten). Auch der bescheidenste Trinker am „Lebensverweigerer- oder Resigniertentisch” ist es dem Autor nämlich wert, dass ein erzählerisches Lichtlein auf ihn falle. Statt Spannung bekommt der Leser unter anderem Komik und in Sonderheit Trost: Die henscheidtypisch hochartifizielle Beschreibung des Allertrivialsten, sein liebevoll-versponnener Blick auf die Absurdität, Erlösungsbedürftigkeit und relative Beschissenheit der menschlichen Durchschnittsexistenz birgt das Potenzial mehrerer Evangelien beziehungsweise Flaschen Schnaps.
Dafür geht in den Essays die Post ab. Dort erholt sich Henscheid von jener Schöpfergüte, mit welcher er sein belletristisches Personal tätschelt, dort lässt er’s als gebildeter Stilrichter und rabiate Schwachsinnsscheuche gewaltig krachen. Reihenweise gibt er zeitgeistinduzierten Nonsens dem Gespött preis, mitunter in Karl-Kraus-Pose, aber wie sein eitler Ahn liegt er halt selten daneben.
So zaust der Virtuose der Schmähung etwa das Ehepaar Mitscherlich und die immer platter werdende mediale Karriere ihrer ohnehin nie stimmigen Floskel von der „Unfähigkeit zu trauern” (ursprünglich galt diese nämlich jeweils zur Hälfte dem Verlust des geliebten „Führers” und dessen Opfern). Dem „zwangsarbeiterhaft ehrgeizigen Zigarettenmultimillionenerben” Jan Philipp Reemtsma bescheinigt er einen „vielleicht nur psychologisch relevanten Selbstreinigungswillen”, dem „Wichtigkeitskasper” Günter Grass „ragende Idiotie”, und den „Beethoven-Zombie” Joachim Kaiser tituliert er als „Schwafelhans von Spitzengraden”. Und wer ist das „Exemplifikat von Frauenemanzipation in Form einer windelweichen Flachschwätzkarriere”? Richtig, Hildegard Hamm-Brücher.
Zum Tod von Heinrich Böll, dessen Sohn gegen den Autor unter anderem über die Frage prozessierte, ob man den Nobelpreisträgervater „steindumm” nennen dürfe, notierte der Grimmige, nun sei ja „eine Baskenmützenträger-Planstelle vakant”. Henscheids Lieblings-Watschenmann aber heißt Marcel Reich-Ranicki. Seit Jahren verhöhnt er den so genannten Literaturpapst als „Teiresias für Debile”, „Gaudiburschen” und „obersten Kulturganoven”, dessen „von den Dummen viel bewundertes Wissen sich einem ebenso geräumigen wie hohlen Kopf verdankt, in den halt ungeordnet viel hineingeht”. Reich-Ranicki, der in Frankfurt sein Nachbar sei, erzählt Henscheid schmunzelnd, habe ihn einmal auf der Straße angesprochen und ihm angeboten, er könne etwas für ihn tun, wenn er aufhöre, ihn als den dümmsten aller Kritiker zu bezeichnen – offenbar vergeblich.
Der Literaturzirkus war Henscheid allzeit piepegal, Preise lehnt der „legitime Erbe Adornos”, wie ihn der Publizist Michael Rutschky nannte, grundsätzlich ab („Erbe Adornos? Schreiben Sie lieber: Erbe Puccinis!”). Er setzt sich nicht in Talk-Shows, gibt kaum Interviews, ja nicht mal den einstigen FAZ-Fragebogen bekam er druckbar hin („Welche natürliche Eigenschaft möchten Sie besitzen?” Antwort: „Aussehen wie Hitler.”).
Wie aber fühlt sich so ein Quertreiber und Konsensverweigerer, wenn man ihn auf einmal gewissermaßen zum Klassiker macht?
„Mmh”, sagt Henscheid, „die Idee des Werkschaffens” habe ihm immer irgendwie am Herzen gelegen. Außerdem, setzt er nur mäßig schalkhaft hinzu, sei das Zweitausendeins-Projekt „runder, klüger und plausibler als fast alles, was sonst an Werkausgaben vorliegt”.
Erschienen in: Focus, 24/2003, S. 52 ff.