Acta diurna

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Sämt­li­che Tex­te in die­sem Dia­ri­um geben aus­schließ­lich pri­va­te Mei­nun­gen des Autors wie­der bzw. schil­dern Ereig­nis­se aus des­sen ganz pri­va­ter Sicht. 

Ein Leserbrief zur „prole drift”

Gibt es eine „pro­le drift”, also ein all­mäh­li­che Aus­brei­tung der Unter­schichts­kul­tur in die „bes­se­re” und letzt­lich die gesam­te Gesell­schaft? Ein Leser moniert eine Acta-Notiz dazu (vom 19. Juli 2023) mit so köst­lich anma­ßen­den Wor­ten, dass eine Replik ange­zeigt scheint. Mein Ein­trag war recht kurz, ich rücke ihn hier noch mal ein:

 

„Die Son­ne bringt es an den Tag. Der deut­sche Mensch von unge­fähr fünf­und­vier­zig Jah­ren abwärts ist inzwi­schen vor allem eins: täto­wiert. Ins­be­son­de­re in Ber­lin regis­trie­re ich scha­ren­wei­se Täto­wier­te bei­der­lei Geschlechts, bei denen wenig Haut­flä­che mehr frei ist, dar­un­ter sol­che, die nur ein hart­ge­sot­te­ner Sexist wie ich noch als weib­lich zu lesen ver­mag – das Scham­ge­fühl ver­wehrt mir, die Bil­der genau­er zu betrach­ten. Unlängst lief mir dort eine jun­ge, üppi­ge Maid ent­ge­gen, bei der ich wähn­te, sie trü­ge blaue Leg­gins, bis sich aus der Nähe her­aus­stell­te, dass die Stamp­fer­chen durch­gän­gig blau­ge­sto­chen waren. Und immer frü­her fan­gen sie damit an, sich irgend­ein exis­ten­ti­el­les Zwi­schen­fa­zit ste­chen zu las­sen! Wenn ich mir über­le­ge, ich hät­te das, was mir mit neun­zehn, zwan­zig Jah­ren im Kopf her­um­ging, auf mei­ner Haut ver­ewigt, wird mir ganz blü­mer­ant zumute.

Aber damals war es gott­lob noch kein Trend. In mei­ner Teen­ager­zeit gal­ten die blau­en Stig­ma­ta als Erken­nungs­merk­mal von Män­nern, die im Knast geses­sen hat­ten (Frau­en tru­gen so etwas nicht, jeden­falls nicht an all­ge­mein sicht­ba­ren Stel­len). See­leu­te und Eth­ni­en mit Tat­too-Tra­di­ti­on gab es in der ‚Ehe­ma­li­gen’ ja kaum bzw. gar nicht. Aber alle bedeu­ten­den Schlä­ger, die ich kann­te, waren täto­wiert. Man las die­se Bema­lun­gen also wie Warn­si­gna­le. Sie blie­ben auf spe­zi­el­le Milieus beschränkt, zwi­schen­zeit­lich hat­te ich ihrer nicht mehr geach­tet, und nun, drei­ßig Jah­re spä­ter, wim­melt die kol­lek­ti­ve deut­sche Epi­der­mis nur so von Tat­toos. Warum?

Eine prak­ti­sche Erklä­rung lie­fer­te ein Freund, der sag­te: Erst habe der Sport im All­ge­mei­nen und der Body-Buil­ding-Trend im Beson­de­ren die Kör­per geformt, danach habe man sich die Haa­re vom trai­nier­ten Kör­per rasiert und plötz­lich ent­deckt, dass die frei­ge­leg­te Lein­wand einer Bema­lung bedür­fe. Jetzt sei­en eben die Maler am Werk. Aber das sind nur Sekun­där­phä­no­me­ne. Pri­mär mar­kie­ren die Bema­lun­gen einen Para­dig­men­wech­sel. Täto­wie­ren ist eigent­lich ein Brauch der Unter­schich­ten. Wir erle­ben seit Jah­ren eine Umkeh­rung des kul­tu­rel­len Ein­flus­ses; statt dass die obe­ren Klas­sen oder Schich­ten mit ihren Sit­ten die unte­ren beein­flus­sen, über­neh­men sie deren Gepflo­gen­hei­ten und hal­ten das für ‚authen­tisch’. Es ist ein Kul­tur­ver­falls­sym­ptom sui gene­ris: Oben und unten wer­den habi­tu­ell unun­ter­scheid­bar. Die Luxus­vor­stel­lun­gen eines Fir­men­chefs oder Poli­ti­kers ähneln inzwi­schen denen eines Gangs­ta-Rap­pers. Über die gesam­te west­li­che Welt ist die Kul­tur der Unter­schicht hereingebrochen.

Die­ser Pro­zess ist eine logi­sche Fol­ge des 1968er Destruk­ti­ons­thea­ters; die Befrei­ung des Men­schen von den ‚bür­ger­li­chen Zwän­gen’ lief natur­ge­mäß dar­auf hin­aus, dass er sei­nen ani­ma­li­schen Trie­ben mehr Aus­lauf ver­schaf­fen durf­te. Am signi­fi­kan­tes­ten ver­kör­per­ten die soge­nann­te sexu­el­le Revo­lu­ti­on, der explo­die­ren­de Dro­gen­kon­sum und die Rock­mu­sik den neu­en Trend. Der ame­ri­ka­ni­sche Kul­tur­his­to­ri­ker Paul Fus­sell hat dafür den Begriff pro­le drift geprägt. Die Umkeh­rung der kul­tur­prä­gen­den Fließ­rich­tung von unten nach oben sei in tra­di­tio­nel­len Zivi­li­sa­tio­nen unvor­stell­bar gewesen.

Zur pro­le drift gehört auch die Schlei­fung der Umgangs­for­men, wovon heu­te vor­nehm­lich die all­ge­gen­wär­ti­ge Duze­rei zeugt; die Res­te der aus der aris­to­kra­ti­schen Kul­tur gewach­se­nen bür­ger­li­chen wan­dern der­weil ins Muse­um. Oper, klas­si­sches Kon­zert, Haus­mu­sik, Salon, Tisch­sit­ten, Kon­ven­tio­nen, Kon­ver­sa­ti­on, Bil­dungs­ka­non, all das sind nur noch von distink­ten Käu­zen gepfleg­te Über­bleib­sel einer ver­schwin­den­den Epo­che. Wer einen Pro­zess namens pro­le drift über­haupt bemerkt, gehört schon zur Min­der­heit sol­cher Käuze.

Das Phä­no­men pro­le drift mani­fes­tiert sich auch in der Vor­lie­be für Mas­sen­ver­an­stal­tun­gen, Mas­sen­par­tys, Mas­sen­tou­ris­mus, Mas­sen­strän­de, Mas­sen­ski­pis­ten, über­haupt alles Mas­sen­haf­te; Box­kämp­fe, Fuß­ball­spie­le, über­haupt Sport­er­eig­nis­se als der zen­tra­le Kult unse­rer Zeit zäh­len eben­falls dazu. Wer das Publi­kum die­ser Mas­sen­ver­an­stal­tun­gen betrach­tet, wird bei des­sen Klei­dung einen Wan­del ins Funk­tio­na­le, Prak­ti­sche, Stil­lo­se, Beque­me, Belie­bi­ge, aber in ihrer Belie­big­keit ent­setz­lich Uni­for­me fest­stel­len. Womit wir wie­der bei den Täto­wie­run­gen wären.”

 

Leser *** meint denn dazu:

„Ihre Kolum­ne von 19.07. bringt sehr gut das kon­ser­va­tiv-reak­tio­nä­re Dilem­ma zum Vor­schein: einen erheb­li­chen Man­gel an his­to­ri­schem Wis­sen und einen Hang zu ver­schwö­re­ri­schen Vor­stel­lun­gen und Welt­erklä­run­gen, die in keins­ter Wei­se der Rea­li­tät entspringen.”

Klar, pro­fun­des his­to­ri­sches Wis­sen fin­det sich recht eigent­lich nur bei den Lin­ken. Was an mei­ner flot­ten Notiz „ver­schwö­rungs­theo­re­tisch” sein soll, erschließt sich mir aller­dings nicht – respek­ti­ve „in keins­ter Wei­se”, jenem kecken Pseu­do-Ela­tiv von nicht, den glatt die pro­le drift her­vor­ge­bracht haben könn­te –, denn ich ver­mu­te kei­nen Rän­ke­schmied oder soge­nann­ten Draht­zie­her hin­ter die­sem Pro­zess (nicht ein­mal im Sin­ne von Jür­gen Klopps Devi­se: den Geg­ner auf unser Niveau her­un­ter­zie­hen).

Wer so anhebt, hat sich im Grun­de schon wie­der ver­ab­schie­det – „und scho sam­mer wie­der drau­ßen”, sagen in Wien die Kell­ner zu uner­wünsch­ten Gäs­ten, wäh­rend sie sie hin­aus­kom­pli­men­tie­ren –, doch schau­en wir trotz­dem mal, was der Bub so auf der Pfan­ne hat.

„Sie schrei­ben von einem ver­meint­li­chen Pro­le-Drift, der angeb­lich den gro­ßen Nie­der­gang ver­kün­det und an dem die 68er schuld seien.”
Im Grun­de sagt der Begriff nur, dass sich heu­te die Ober­schich­ten mit zuneh­men­der Ten­denz eher auf dem Niveau der Unter­schich­ten amü­sie­ren als umge­kehrt, was übri­gens auch für das Thea­ter und die Oper zutrifft – und fürs TV sowie­so. (Ich zitie­re dazu gern die Sen­tenz von Johan­nes Gross: Die Ent­wick­lung des Fern­se­hens ver­läuft in drei Stu­fen: Klu­ge machen Pro­gram­me für Klu­ge; Klu­ge machen Pro­gram­me für Dum­me; Dum­me machen Pro­gram­me für Dum­me; Gross setz­te wei­land hin­zu: Wir ste­hen zwi­schen Stu­fe zwei und drei.) Das heißt, die kul­tu­rel­le Fließ­rich­tung hat sich umge­kehrt. Ich bin über­dies der Ansicht, dass ein zen­tra­les Sym­ptom die­ses kul­tu­rel­len Nie­der­gangs dar­in besteht, ihn für „ver­meint­lich” und „angeb­lich” zu halten.
Was die „Schuld” der 68er betrifft, schrieb ich ledig­lich von einer – nicht der ein­zi­gen – logi­schen Fol­ge; man muss unter­schei­den zwi­schen dem Auf­kom­men der Mas­sen­kul­tur – das begann tat­säch­lich frü­her – und der mut­wil­li­gen Zer­stö­rung der Hoch­kul­tur bzw. ihrer Res­te – die läuft immer noch und tritt mit 68er Bas­tar­den wie der Woke­ness und dem Post­ko­lo­nia­lis­mus in ihr womög­lich fina­les Sta­di­um ein. Ohne die 68er hät­ten Hoch- und Mas­sen­kul­tur viel­leicht noch eine Wei­le fried­lich neben­ein­an­der hau­sen kön­nen, bevor Schwer­kraft und Regres­si­on den Sieg der Letz­te­ren bewirkt hät­ten. Kul­tur erfor­dert Anstren­gung, Mas­sen­kul­tur ver­spricht Ent­span­nung, des­halb ist sie popu­lä­rer. Die 68er waren lin­ke Zer­stö­rer, sie eta­blier­ten die Destruk­ti­on der bür­ger­li­chen Gesell­schaft als qua­si täg­lich zu ver­rich­ten­des Ritu­al. Damit tru­gen sie auf ihre Wei­se zur (oder zum) pro­le drift bei. Wäh­rend bis heu­te nie­mand genau sagen kann, was die 68er eigent­lich anstreb­ten, ist ziem­lich klar, was sie abschaf­fen woll­ten: die Fami­lie, Eli­ten, die bür­ger­li­chen Kon­ven­tio­nen vom ‚Sie’ bis zum Talar, die Sekun­där­tu­gen­den und natür­lich das alte Bil­dungs- und Erzie­hungs­sys­tem. Und sie sind sehr weit gekommen.
„Doch wie sieht die Rea­li­tät aus?”, fragt Leser ***. „Dazu müs­sen wir in die Geschich­te schau­en. Der Zwei­te Welt­krieg hat­te nicht nur geo­po­li­ti­sche Fol­gen: Zum einen began­nen hier schon durch die gemein­schaft­li­chen Erleb­nis­se im Krieg sowie Erzäh­lun­gen und Anstren­gun­gen daheim an der Hei­mat­front, die die Schich­ten erheb­lich mehr zusam­men brach­ten – Berüh­rungs­ta­bus bau­ten sich ab. Der zwei­te Welt­krieg war vor allem aber auch der Auf­takt für einen auf­kom­men­den ‚Mas­sen­wohl­stand’ in den USA – die Depres­si­on wur­de durch mas­si­ve Inves­ti­tio­nen über­wun­den. Damit zogen auch neue Medi­en wie der Fern­se­her ein. Auch die­se Din­ge ver­rin­ger­ten die Distanz und alte Tabus zwi­schen den Schich­ten massiv.”
Ja, und zwar mit der Ten­denz nach unten; die Kul­tur der Unter­schich­ten drang in die Ober­schich­ten ein, und Let­ze­re lie­ßen sich wil­lig fal­len. Das ist kaum zu bestrei­ten, über­all sicht­bar – man bli­cke nur in die Par­la­men­te; der Typus Gen­tle­man ist im Bun­des­tag unmög­lich gewor­den – und den Laut­spre­chern des Zeit­geis­tes, die doch immer „Ver­krus­tun­gen auf­bre­chen”, „ent­rüm­peln”, „eli­tä­re Kul­tur­be­gif­fe abbau­en”, „mit der Zeit gehen” etc. pp. wol­len, nor­ma­ler­wei­se auch hoch­will­kom­men; nur schei­nen die­je­ni­gen, die die­se Ent­wick­lung ganz toll fin­den, ein gro­ßes Ego­pro­blem zu bekom­men, wenn sie mal auf einen Kul­tur­pes­si­mis­ten sto­ßen, den sie ennu­iert und der ihre Cla­queu­re für Bar­ba­ren hält. Die­se kogni­ti­ve Dis­so­nanz erin­nert mich ein wenig an jene, die sich im Zusam­men­hang mit dem all­mäh­li­chen Bevöl­ke­rungs­aus­tausch regel­mä­ßig ein­stellt, indem jener nur so lan­ge als eine rechts­extre­me Nazi­ras­sis­ten­ver­schwö­rungs­theo­rie gilt, bis ein Pro­gres­sist kommt und ihn groß­ar­tig fin­det; dann wird er plötz­lich zu einer aner­kann­ten und schö­nen Rea­li­tät („Bunt­heit”).
Ein Abbau von Klas­sen- oder Schich­ten­schran­ken sowie von sozia­len Berüh­rungs­ta­bus durch gemein­schaft­li­che Erleb­nis­se im Krieg fand schon lan­ge vor 1945 statt, in den Napo­leo­ni­schen Krie­gen etwa (die soge­nann­te Bre­chung des Adels­pri­vi­legs im preu­ßi­schen Mili­tär und der Deka­b­ris­ten­auf­stand in Russ­land waren direk­te Fol­gen davon). Es scheint aber nicht unty­pisch zu sein, dass für Leser *** die Geschich­te offen­bar erst nach dem Zwei­ten Welt­krieg anhebt, denn für Lin­ke ist der Rest ja blo­ße Vor­ge­schich­te und jene wie­der­um wegen patri­ar­cha­li­scher Struk­tu­ren, Stan­des- und Klas­sen­schran­ken, Aus­beu­tung, Unter­drü­ckung etc. pp. in toto ver­ur­tei­lens­wert. Zu einem sol­chen Geschichts­bild passt zudem, dass es durch kei­ner­lei Ahnung von der Qua­li­tät alter Eli­ten getrübt ist. Dass Leser *** nun gera­de die ame­ri­ka­ni­sche Mas­sen­kul­tur als Kron­zeu­gin gegen die pro­le drift anruft, ist wirk­lich komisch.
Natür­lich ist die­se Drift auch eine Fol­ge der Bevöl­ke­rungs­explo­si­on – anno 1900 bewohn­ten 1,65 Mil­li­ar­den Men­schen das irdi­sche Jam­mer­tal –, denn das Zeit­al­ter der Mas­sen ist ohne eine gewis­se Pro­le­ta­ri­sie­rung und Nivel­lie­rung nicht zu haben. Im 20. Jahr­hun­dert, der Ära der Sozia­lis­men, ver­schwand jeden­falls die aris­to­kra­tisch-groß­bür­ger­li­che Kul­tur end­gül­tig bzw. zog sich in Enkla­ven und ins Muse­um zurück. Ein neu­es Zeit­al­ter brach an, und mit ihm eine Umwer­tung aller Wer­te. Man könn­te, soll­te ein offi­zi­el­ler Start­ter­min benö­tigt wer­den, die­sen Trend mit dem „Pro­let­kult” in Russ­land nach dem Okto­ber­putsch der Bol­sche­wi­ken begin­nen las­sen. Die Sozi­al­de­mo­kra­ten zur Zeit August Bebels leg­ten noch Wert auf einen bür­ger­li­chen Habi­tus, sie tru­gen Anzug, set­zen einen Hut auf, des­sen wich­tigs­te Funk­ti­on dar­in bestand, dass man ihn zie­hen konn­te, bemüh­ten sich um Manie­ren, und in ihren Bücher­re­ga­len stan­den die Klas­si­ker, in denen sie sogar regel­mä­ßig lasen – die pro­le drift fand erst mit den elek­tro­ni­schen Medi­en ihren per­fek­ten Beschleu­ni­ger. Bezeich­nend dafür ist, was mir ein Freund zu einem Acta-Text über Tho­mas Mann schrieb: „Mein Groß­va­ter war Werks­elek­tri­ker (bei Agfa), und in sei­nem Bücher­schrank stan­den die ‚Bud­den­brooks’, die soge­nann­te Nobel­preis-Aus­ga­be. Ver­mut­lich hat­te mein Groß­va­ter die soge­nann­te Klas­sen­schran­ke – eher eine Klas­sen­mar­kie­rung – in dem Roman wahr­ge­nom­men, aller­dings mit Inter­es­se. Er pfleg­te näm­lich sonn­tags mit einem guten Man­tel mit Pelz­kra­gen aus­zu­ge­hen, in dem er aus­sah wie der Herr Fabrik­di­rek­tor. Mann wur­de tat­säch­lich quer durch die sozia­len Schich­ten gele­sen, jeden­falls zu einer Zeit, als sich vie­le Arbei­ter und Bau­ern kul­tu­rell nach oben ori­en­tier­ten.” Weil es noch ein Oben gab.
„Und nun trat der von Ihnen so kri­ti­sier­te Rock n Roll auf den Plan”, fährt Leser *** fort. „Bill Haley nahm ‚Rock around the Clock’ bereits 1954 auf (!) und vie­le wei­te­re folg­ten noch in den 50ern – zum Bei­spiel Elvis, Chuck Ber­ry und so wei­ter. Und durch Radio und Fern­se­hen ver­brei­te­te sich das natür­lich auch sehr rasant. Sie sehen: Ihre ‚das waren die 68er’-Theorie ist ein­fach nur blan­ker Unsinn.”
Wel­che Rol­le die 68er spiel­ten, habe ich ange­deu­tet, etwas aus­führ­li­cher in einem Focus-Arti­kel ange­le­gent­lich des nahen­den Ende des Kabi­netts Schöder-Fischer, in dem ich selbst­re­dend auch die Tat­sa­che erwähn­te, dass die 68er ledig­lich auf einen Zeit­geist-Zug auf­spran­gen, der längst aufs Gleis gesetzt war. Als die pro­tes­tie­ren­den Stu­den­ten erschie­nen, hat­te die anti­bür­ger­li­che Jugend­re­bel­li­on in den Län­dern des Wes­tens längst ihren Höhe­punkt erreicht. Die Pil­le befand sich seit 1961 auf dem Markt, 1965 spiel­ten die Rol­ling Stones auf der Ber­li­ner Wald­büh­ne, die Beat­les hat­ten sich bereits für immer ins Stu­dio ver­ab­schie­det. Dass die­ses zwei­te, poli­ti­sche ‚68’ gewis­ser­ma­ßen auf dem Ticket einer pro­mis­kui­ti­ven und nach immer mehr Libe­ra­li­sie­rung rufen­den Mas­sen­be­we­gung mit­fuhr, hat ihm sei­nen posi­ti­ven Ruf und sei­ne Durch­schlags­kraft verschafft.
„Der ver­meint­li­che Ver­fall ist also das genaue Gegen­teil: Ein Zei­chen des Sie­ges und des Auf­stiegs. Des gewon­ne­nen Welt­kriegs, des wirt­schaft­li­chen Auf­schwungs und von Mas­sen­wohl­stand. Wer in Wohl­stand lebt, der kann auch mal aus­ge­las­sen sein, der muss sich nicht krampf­haft von ande­ren Schich­ten abgrenzen.”
Und wer in Armut lebt, hegt ein Bedürf­nis nach kul­tu­rel­ler Abgren­zung? Der Gedan­ke muss wohl noch zu Ende gebracht wer­den. Dass Wohl­stand der Kul­tur, auch der all­täg­li­chen, abträg­li­cher sein kann als Not, ist kei­ne neue oder orgi­nel­le Erkennt­nis; der Begriff „Wohl­stands­ver­wahr­lo­sung” kün­det davon. Außer­dem war der wirt­schaft­li­che Auf­schwung nach 1945 von künst­le­ri­schen und archi­tek­to­ni­schen Scheuß­lich­kei­ten beglei­tet. Seit­her sind Städ­te kei­ne Städ­te mehr, son­dern Agglo­me­ra­tio­nen. Mag sein, dass man anders der wach­sen­den Welt­be­völ­ke­rung nicht Herr wer­den konn­te, doch das ist nicht unser The­ma; hier geht es um pro­le drift. Übri­gens: Die Ineinsset­zung von Distink­ti­ons­be­dürf­nis und Krampf­haf­tig­keit ist ein scha­les Pri­vi­leg derer, von denen ande­re sich abgren­zen wol­len. Wer ver­steht heu­te noch Nietz­sches Pathos der Distanz?
„Das Leben ist doch kein Selbst­zweck, des­sen Sinn dar­in besteht, ohne irgend­wel­che Not­wen­dig­kei­ten den stock­stei­fen ver­klemm­ten ase­xu­el­len Aris­to­kra­ten zu spie­len. Das ist ja etwas, was wirk­lich absurd ist und ohne jede Ratio­na­li­tät: Aske­se und Ver­zicht um ihrer selbst Wil­len ohne jeden Sinn und Ver­stand. Ich möch­te ja per­sön­lich den Befür­wor­tern von sol­chen Din­gen ihren Maso­chis­mus nicht neh­men – doch beden­ken Sie bit­te: Nicht jedem berei­tet er soviel (meist unein­ge­stan­de­nes) Vergnügen.”
Hier ent­rollt sich lang­sam das von der pro­le drift gepräg­te Welt­bild, des­sen Prot­ago­nis­ten ihr Selbst­be­wusst­sein daher bezie­hen, dass sie sich für locker, infor­mell, unver­klemmt, sexu­ell aktiv, auf der Höhe der Zeit und irgend­wie für Sie­ger der Geschich­te hal­ten – und zugleich von die­ser Geschich­te wenig Ahnung haben. Prü­de und ver­klemmt als Gan­zes war ja nicht ein­mal das alte, das Vater­mör­der-tra­gen­de Bür­ger­tum, das sei­ne Wohl­an­stän­dig­keit als mora­li­schen Distink­ti­ons­ge­winn gegen­über den losen ero­ti­schen Sit­ten des Adels vor­führ­te. Mit dem Anci­en Régime hat­te Euro­pa sein sexu­el­les „1968“ längst hin­ter sich. Und mir zu unter­stel­len, ich betä­tig­te mich als Pre­di­ger von Aske­se und Ver­zicht, ist – schon wie­der – wirk­lich komisch.
„Nun mögen Sie das viel­leicht noch alles für Zufall hal­ten, aller­dings war dies in ande­ren Tei­len der Welt ganz genau­so: ‚Der Sam­ba ent­stand ursprüng­lich in den Armen­vier­teln (Fave­las) von Rio de Janei­ro und wur­de von Afro­bra­si­lia­nern und ande­ren Rand­grup­pen der Bevöl­ke­rung geschaf­fen. Es war Musik der Unter­schicht und wur­de von der Ober­schicht oft abge­lehnt. Mit dem wirt­schaft­li­chen Auf­schwung und der ver­stärk­ten Urba­ni­sie­rung in den 1950er Jah­ren begann sich der Sam­ba jedoch all­mäh­lich in der gesam­ten Gesell­schaft zu ver­brei­ten. Radio­sen­der und Schall­plat­ten­ge­sell­schaf­ten began­nen, Sam­ba-Musik zu spie­len und auf­zu­neh­men, was zu ihrer Popu­la­ri­sie­rung führ­te.’ Auch hier­an kön­nen Sie also sehen, dass ihre Theo­rien völ­lig an der Rea­li­tät vor­bei­ge­hen und nichts wei­ter sind als an den Haa­ren her­bei­ge­zo­ge­ner Unsinn.”
Was bezeugt die­ses Bei­spiel ande­res als die Über­nah­me eines Ele­ments der Unter­schich­ten­kul­tur durch die Ober­schich­ten, man hal­te vom Sam­ba, was man will? Neben­bei: Wie unter­schei­det sich der blan­ke Unsinn von dem an den Haa­ren her­bei­ge­zo­ge­nen?
„Was Ihre Aus­sa­gen zu den ver­meint­li­chen Über­bleib­seln der aris­to­kra­ti­schen und bür­ger­li­chen Kul­tur betrifft, so ver­zer­ren Sie zum einen die his­to­ri­sche Rea­li­tät erheb­lich. Es ist ein Trug­schluss zu glau­ben, dass die Mit­tel­schicht z.B. in den 1920ern regel­mä­ßig in Opern­häu­ser ström­te oder sich inten­siv dem Bil­dungs­ka­non wid­me­te. Tat­säch­lich war der Zugang zu sol­chen hoch­kul­tu­rel­len Ein­rich­tun­gen und Bil­dungs­gü­tern weit­ge­hend der Ober­schicht vor­be­hal­ten, wäh­rend die Mit­tel­schicht oft weder die finan­zi­el­len Mit­tel noch die gesell­schaft­li­che Akzep­tanz, geschwei­ge denn Inter­es­se für eine der­ar­ti­ge Teil­ha­be besaß. Zum ande­ren ent­stam­men auch Ihre Betrach­tun­gen über die aktu­el­le Rea­li­tät (ala ‚Kul­tur-Pro­gramm gibts nur noch als Andenken im Muse­um für distink­te Käu­ze’) ein­zig und allein Ihrer Fan­ta­sie und Ihren Vor­ur­tei­len und nicht der Rea­li­tät: ‚Inklu­si­ve der öffent­lich getra­ge­nen Thea­ter, der Fest­spie­le, der auf­ge­führ­ten Pri­vat­thea­ter, der selbst­stän­di­gen Sin­fo­nie­or­ches­ter und der Rund­funk­or­ches­ter besuch­ten 2017/2018 rund 34,7 Mil­lio­nen Zuschaue­rIn­nen (im Vor­jahr ca. 35,5 Mil­lio­nen) die Häu­ser. Zum Ver­gleich: in der Sai­son 2017/2018 pil­ger­ten 18,8 Mil­lio­nen Fuß­ball­fans zu den Spie­len der ers­ten und zwei­ten Fußball-Bundesliga.’ ”
Geprie­sen sei­en die Vor­ur­tei­le, denn wel­ches Vor­ur­teil stimm­te nicht? Was bewei­sen denn die­se Zah­len? Ich will jetzt nicht die Fra­ge stel­len, was die Leu­te im Schnitt auf dem Lei­be tru­gen, als sie 2017 (ff.) in die Oper gin­gen, und auch nicht, was der Unter­schied ist zwi­schen einer Gene­ra­ti­on, die der Ent­ste­hung des „Meis­ter­sin­ger” oder der „Salo­me” als stei­fe Zeit­ge­nos­sen bei­zu­woh­nen gezwun­gen war, und jener, die sich end­lich bei Bill Haley locker­ma­chen durf­te. Richard Strauss hat ein­mal über den durch­schnitt­li­chen Opern­be­su­cher gesagt, die­se Leu­te ver­stün­den von sei­nen Wer­ken unge­fähr so viel wie Zwölf­jäh­ri­ge, denen man Schil­lers „Wal­len­stein” auf Chi­ne­sisch vor­füh­re. Und das Publi­kum zu Straus­sens Zei­ten konn­te zu erheb­li­chen Tei­len noch Noten lesen und ein Instru­ment spie­len. Inzwi­schen blen­den die Büh­nen sogar die Tex­te über der Sze­ne­rie ein, weil vie­le Besu­cher sonst nicht wüss­ten, wel­che Oper sie gera­de hören. Bezie­hungs­wei­se sehen; heu­te geht man ja eine Oper anschau­en. Und war­um haben die armen Jetzt­s­as­sen kei­ne Zeit, sich mit den Libret­ti zu beschäf­ti­gen, wenn sie schon kei­ne Par­ti­tu­ren lesen kön­nen? Ich befürch­te, weil sie den Beschäf­ti­gun­gen nach­ge­hen müs­sen, die ihnen die pro­le drift auf­zwingt. Last but not least gehö­ren min­des­tens neun von zehn Insze­nie­run­gen längst zu den Beweis­stü­cken für die pro­le drift. Nicht, dass die Regis­seu­re „frü­her” bes­ser gewe­sen wären, sie spiel­ten nur eine ange­mes­sen klei­ne­re Rolle.
„Man fragt sich dann aller­dings auch – fern­ab aller grau­en Theo­rie – wie so ein Klo­novs­ky sich die Welt eigent­lich in der Pra­xis vor­stellt. Da ist also ein Jugend­li­cher in den 50er Jah­ren und wenn es nach Ihnen gin­ge, dann müss­te der sich fol­gen­des den­ken: ‚Also hier ist Musik, die gut klingt und zu der man gut tan­zen kann. Aber weil ich mit ande­ren Schich­ten nichts zu tun haben will, höre ich die­sen Elvis jetzt nicht. Und viel­leicht könn­te das gar die Gefüh­le eines Klo­novs­ky ver­let­zen! Potz­tau­send! Da setz ich mich lie­ber stock­steif in die Ecke!’ Sie müss­ten eigent­lich selbst mer­ken, wie absurd, voll­kom­men lächer­lich und zudem auch noch Welt­fremd das ist, oder?”
Wel­fremd? Ja, und wenn schon! Getanzt wur­de übri­gens zu allen Zei­ten, und gera­de an der Defor­ma­ti­on des Tan­zes lässt sich die pro­le drift ide­al stu­die­ren. Sie wol­len mir aber, geehr­ter Herr ***, ame­ri­ka­ni­sche Mas­sen­kul­tur, Sam­ba und die gro­ßen Zahl derer, die in über­wie­gend von Regis­seurs­kas­pern, Regis­seurs­pro­pa­gan­dis­ten und Regis­seurs­a­n­alpha­be­ten insze­nier­te Opern und Thea­ter­stü­cke gehen und oft kei­nen Schim­mer haben, was sie da sehen und hören, als Argu­ment gegen die­se Drift ver­kau­fen? Nein, das schaf­fen Sie nicht.
Die Poin­te kommt aber noch.
Davon abge­se­hen, dass ich hier gegen die pro­le drift wet­te­re, bin ich ein Bei­spiel ihres Wir­kens. Ich bin ihr Pro­dukt. Ich habe nicht stu­diert, was mit gewis­sen Eigen­tüm­lich­keit mei­ner DDR-Bio­gra­phie zusam­men­hän­gen mag, der Staat gewor­de­nen pro­le drift, aber ich hät­te ja mein Grä­cum wenigs­tens nach­ho­len kön­nen. Ich habe weder Latein noch Alt­grie­chisch gelernt, ich spre­che nicht Fran­zö­sisch, obwohl die Kennt­nis der fran­zö­si­schen Lite­ra­tur des 18. Jahr­hun­derts ein Entré­e­bil­let in die euro­päi­sche Kul­tur ist, und ich spie­le kein Instru­ment. Ich habe letzt­lich kei­ne Manie­ren und trin­ke seit mei­nem 16. Lebens­jahr, die meis­te Zeit, frü­her zumin­dest, min­der­wer­ti­ges Zeug, aber man kann sich ja als guter Deut­scher bis in die letz­te Minu­te der Nach­spiel­zeit stei­gern. Bzw. konn­te. Ich habe unglaub­lich vie­le Bücher nicht gele­sen. Ich wuss­te bis weit in mein Man­nes­al­ter nicht, wie man eine Kra­wat­te rich­tig bin­det, von der Flie­ge zu schwei­gen, und ich lief jah­re­lang her­um wie der Redak­ti­ons­bo­te. Ich habe Hun­der­te Fuß­ball­spie­le gese­hen und ver­geu­de Tau­sen­de Stun­den mei­nes Lebens beim Sport, statt mich Gre­go­ro­vi­us’ Geschich­te der Stadt Rom im Mit­tel­al­ter, der Vers­form bei Möri­ke oder der Ent­wick­lung des punc­tum con­tra punc­tum zu wid­men. Noch heu­te schaue ich lie­ber Box­kämp­fe an oder Leicht­ath­le­tin­nen zu, als mich mit Heid­eg­gers Nietz­sche-Vor­le­sun­gen zu befas­sen, von denen ich die Hälf­te eh nicht ver­ste­he. Der Geor­ge-Kreis hät­te einen wie mich nie auf­ge­nom­men, und das kei­nes­wegs nur, weil ich eine hun­dert­pro­zen­ti­ge Hete bin. Pro­le drift, allüberall.
Sela, Psal­me­n­en­de.
PS: „Die neue Zivi­li­sa­ti­on erfährt sich selbst als rebel­lisch und anders­ar­tig, und dies wird immer dann beson­ders klar erkenn­bar, wenn sie auf Res­te der agrar­ge­sell­schaft­li­chen Hoch­kul­tur stößt. Sie möch­te expli­zit krumm sein, schief, falsch, ver­dreht, also ‚links’. Es han­delt sich um eine Kul­tur, die das Un-Rech­te zu ihrer Signa­tur erhebt”, schrieb Rolf Peter Sie­fer­le zum Phä­no­men pro­le drift. „Jede Anmu­tung von Sym­me­trie und Ord­nung erscheint dem ‚lin­ken’ Lebens­ge­fühl als uner­träg­lich.” Ein wich­ti­ges Ele­ment der (oder des) pro­le drift sei „die All­ge­gen­wart und hohe Wert­schät­zung des Lärms”, heißt es wei­ter. „Hier wird eine wich­ti­ge Dif­fe­renz zur älte­ren Kul­tur der Vor­nehm­heit erkenn­bar. Die­se schätz­te die Stil­le, die Kon­zen­tra­ti­on, die Selbst­be­herr­schung, wäh­rend das Lär­men zum Merk­mal des Pöbels gehör­te. (…) Die All­ge­gen­wart des Lärms, die Ver­nich­tung der Stil­le, schnei­det die Men­schen gezielt von einer refle­xi­ven Kul­tur ab, trennt sie von der Tra­di­ti­on und ihren ‚Tex­ten’ und lie­fert sie voll­stän­dig der vul­gä­ren Gegen­wart aus. Vie­le Men­schen bedür­fen dann des Medi­ums Lärm, um über­haupt leben zu können.”

PPS: Leser *** ist der Ansicht, das Phä­no­men „pro­le drift” wer­de erst dann ver­ständ­lich, „wenn man anstel­le des Gegen­sat­zes ‚Ober- ver­sus Unter­schicht’ den Gegen­satz ‚Afri­ka ver­sus Euro­pa’ als eigent­li­che zugrun­de­lie­gen­de Dyna­mik annimmt”. Euro­päi­sche Ober- und Unter­schich­ten habe es schon immer gege­ben, doch die­se pro­le drift habe erst ein­ge­setzt, „als die unge­heu­re Vita­li­tät der Afri­ka­ner auf die ver­schie­de­nen euro­päi­schen Kul­tu­ren traf. Die pro­le drift hat als Dreh- und Angel­punkt die schwar­ze Musik, die dann von den Wei­ßen über­nom­men und adap­tiert wur­de. Jazz, Blues, Sal­sa, Sam­ba, sogar (kuba­ni­scher) Tan­go stam­men alle­samt von den Schwar­zen aus der Neu­en Welt, und Rock­mu­sik ist nichts ande­res als Schwar­ze Musik, von jugend­li­chen Wei­ßen gespielt, die feh­len­des Rhyth­mus­ge­fühl durch Aggres­si­vi­tät und Laut­stär­ke kompensieren.

Die plötz­li­che Attrak­ti­vi­tät der Unter­schicht­kul­tur lässt sich nur damit erklä­ren, dass hier die wil­de, sinn­li­che, extrem kör­per­be­ton­te und sexua­li­sier­te afri­ka­ni­sche Dyna­mik auf die zivi­li­sier­te, ein­ge­heg­te, schuld- und scham­be­las­te­te Kul­tur des christ­li­chen Abend­lan­des getrof­fen ist und dies nicht nur für die Jugend­li­chen eine unge­heu­re Befrei­ung ihrer unter­drück­ten bio­lo­gi­schen Natur bedeu­tet hat. Die euro­päi­sche Musik muss­te mit der Ent­ste­hung des Jazz einen ähn­li­chen pro­le drift über­ste­hen wie die Kul­tur als Gan­zes, Musik, die von ganz unten kommt, aber mit mit­rei­ßen­dem Swing und Poly­rhyth­men euro­päi­sche Musik schnell als gestelzt, ver­kopft, blut­leer und ase­xu­ell erschei­nen lässt. Beson­ders bemer­kens­wert dabei die unge­heu­re Krea­ti­vi­tät der Schwar­zen, ohne Theo­rie, ohne Schrift­lich­keit ganz Neu­es zu erschaf­fen und dabei qua­si im Vor­bei­ge­hen nach Gehör Har­mo­nien zu ver­wen­den, die als ‚Tris­tan-Akkord’ zu Zei­ten von Wag­ner noch zu Auf­ruhr unter den (ich ver­mu­te, sexu­ell ver­klemm­ten und leicht hys­te­ri­schen) euro­päi­schen Musik­lieb­ha­bern führten.”

Das ist ein inter­es­san­ter Aspekt – auch bezüg­lich der Pri­mi­ti­vie­rung der bil­den­den Kunst im soge­nann­ten Expres­sio­nis­mus nach Vor­bil­dern, die zum Teil aus Afri­ka stamm­ten –, der aber das Grund­mo­tiv der Drift – das Abwer­fen der sowohl geis­tig als auch im ritu­el­len All­tags­ver­hal­ten anstren­gen­den Hoch­kul­tur zuguns­ten von „Authen­ti­zi­tät” und mehr Leib­lich­keit – nicht erklärt. Ich mei­ne, die (oder der) pro­le drift hät­te den Wes­ten auch ohne einen ein­zi­gen Schwar­zen ergrif­fen. Wir leben „nach der Kul­tur”. Die schwar­ze Musik war ein Kata­ly­sa­tor die­ses Pro­zes­se, nicht sein Auslöser.
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