Acta diurna

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Sämt­li­che Tex­te in die­sem Dia­ri­um geben aus­schließ­lich pri­va­te Mei­nun­gen des Autors wie­der bzw. schil­dern Ereig­nis­se aus des­sen ganz pri­va­ter Sicht. 

19. Februar 2023

Was ist die Auf­ga­be der Regie­rungs­pres­se? Dem Publi­kum die Arbeit der Regie­rung als gut, rich­tig und wich­tig sowie deren Mit­glie­der als so ver­trau­ens­wür­di­ge wie bedeu­ten­de Per­sön­lich­kei­ten zu ver­kau­fen. Not­falls auf etwas bizar­re Wei­se – Wider­spruch und Spott dro­hen schließ­lich nur von den schlim­men, aber igno­rier­ba­ren publi­zis­ti­schen Rändern.

Die Bun­des­kanz­le­rin Mer­kel wur­de ja im März 2021 auch als „Bes­te Blog­ge­rin Deutsch­lands” nomi­niert, obwohl sie „im eigent­li­chen Sin­ne kei­nen Blog betreibt”, wie die Jury des „Gol­den-Blog­ger-Award” damals ein­räum­te; war­um soll Robert der Drei­ta­ge­bär­ti­ge nicht eine Aus­zeich­nung für Essay­is­tik bekom­men, obwohl er kei­ne Essays schreibt und nie­mals, auch bei groß­zü­gi­ger Aus­le­gung des Begriffs, ein Essay­ist – ein Hom­me de let­t­res – war. Das ist ein­fach sozia­lis­ti­scher Humor, der in sei­ner rumä­ni­schen Vari­an­te beson­ders lau­nig hervorstach.

Nomi­niert hat den Grü­nen der FAZ-Her­aus­ge­ber Jür­gen Kau­be, einer der männ­lichs­ten Geis­ter bzw. geist­volls­ten Män­ner der BRD, jeder Zoll eine Cha­rak­ter­na­tur, im Fel­de der Oppor­tu­ni­tät unbesiegt.

Der Spie­gel notiert: „Kau­be ver­wies in sei­ner Begrün­dung auf die ste­te Gefahr, dass im poli­ti­schen Gespräch Argu­men­te nichts mehr zähl­ten, son­dern ‚Nar­ra­ti­ve’. Habeck rage unter den­je­ni­gen her­aus, die sich dem als Poli­ti­ker und poli­ti­scher Publi­zist wider­setz­ten. Die Äuße­run­gen des Vize-Bun­des­kanz­lers sei­en von gesell­schafts­wis­sen­schaft­lich infor­mier­ter und lebens­welt­lich grun­dier­ter Refle­xi­on geprägt. ‚In den Zwän­gen der Poli­tik erkämpft er sich auf beein­dru­cken­de Wei­se Frei­räu­me durch Nach­denk­lich­keit’, erklär­te Kaube.”

Der ragen­de Robert erhält den Preis für sei­ne Nach­denk­lich­keit, ein etwas ver­gif­te­tes Lob ange­sichts der bekann­ten Tat­sa­che, „dass ein Gedan­ke kommt, wenn ‚er’ will, und nicht, wenn ‚ich’ will” (Nietz­sche). Was kann unser Grü­ner dafür, wenn nie, ich wie­der­ho­le: nie ein eige­ner Gedan­ke in sei­nem nach­denk­li­chen Kopf vor­stel­lig wer­den woll­te? Noch komi­scher wäre es frei­lich gewe­sen, man hät­te ihm für die Neu­be­grün­dung der Markt­wirt­schaft den Lud­wig-Erhard-Preis verliehen.

Nicht der Mensch ist zu klein, das Amt ist zu groß, bemerk­te Mon­tes­quieu. Aber kaum einer macht bei sei­nen gar zu gro­ßen Amts­ge­schäf­ten ein so nach­denk­lich-ver­son­ne­nes „Gitar­ren­so­lo-Gesicht” (also seufz­te ein Habeck-Grou­pie bei der Zeit) wie Robert der Ragende.

Im Übri­gen kann man den deut­schen Vor­märz getrost ver­ges­sen, Bör­ne ein­ge­schlos­sen (ich rech­ne Hei­ne, die Rum­pel­rei­me des „Win­ter­mär­chens” viel­leicht aus­ge­nom­men, nach­drück­lich nicht dazu), das ist auf­ge­reg­te poli­ti­sche Ten­denz­li­te­ra­tur, durch­tränkt von jenem Res­sen­ti­ment, das den Pro­gres­sis­ten enthu­si­as­miert, fabri­ziert von Bür­ger­söhn­chen (und ‑töch­tern), die einen eige­nen Stil durch ein all­ge­mei­nes Enga­ge­ment ersetzt hat­ten. Die­se Beschrei­bung wür­de zwar auch auf Habeck pas­sen, aber der kann ja kei­nen ein­zi­gen lite­ra­ri­schen Satz schrei­ben. Der kann über­haupt nicht schrei­ben. Ich habe mir vor zwei Jah­ren den Tort ange­tan, sein Vor­wort zur Neu­aus­ga­be von Orwells „1984” zu lesen und zu kom­men­tie­ren. Die­ser spä­te Bub kann ledig­lich auf einer Wel­le des Zeit­geis­tes mit­schwim­men, wobei er sich bei den Grü­nen immer­hin jenen soli­de durch­fi­nan­zier­ten Lebens­abend ergau­nert hat, der ihm, müss­te er von sei­ner Schrei­be­rei leben, nie­mals ver­gönnt gewe­sen wäre.

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Ich schaue mir die­ses all­jähr­lich zu Mainz, Köln, Aachen und andern­orts zele­brier­te Evo­lu­ti­ons­de­men­ti nie an, doch eini­ge offen­kun­dig hart­ge­sot­te­ne­re Leser wie­sen mich dar­auf hin.

Wenn der gute Deut­sche aus dem Schut­ze der Mehr­heit eine Grup­pe Anders­mei­nen­der gefahr­los ver­teu­feln und das als „Ein Zei­chen set­zen” bzw. „Hal­tung zei­gen” ver­kau­fen kann, blüht er auf. Ein anthro­po­mor­phes Zäpf­chen, das den Macht­ha­bern und Wort­füh­rern beflis­sen durch jenes Tor zur Selig­keit kriecht, nennt ande­re Leu­te „Arsch­lö­cher”: The same pro­ce­du­re as every year (in the past ten).

In der Wahr­neh­mung der Schreib­kraft aus der Lokal­pres­se ist die­ser Regie­rungs­pro­pa­gan­dist ein „Kaba­ret­tist”. Es ist übri­gens der näm­li­che Wich­tel, der vor ein paar Jah­ren beim sel­ben Anlass die dama­li­ge AfD-Vor­sit­zen­de Frau­ke Petry eine Hexe nann­te, wäh­rend ein ande­rer Büt­ten­plär­rer erklär­te: „Die AfD ist die Brems­spur in der Unter­ho­se Deutsch­lands“ – mit der Anal­fi­xie­rung haben sie es offen­bar –, und die­se vor Publi­kum dar­ge­bo­te­ne Kopro­la­lie bezeich­net der Lokal­jour­na­list als „deut­li­che Worte”.

Die SPD-Pres­se­stel­le Redak­ti­ons­netz­werk Deutsch­land (rnd) sieht das ähnlich.

Im Publi­kum saß in Per­son von Nan­ny Fae­ser die Dienst­her­rin aller Spit­zel und Denun­zi­an­ten, also der wohl größ­ten deut­schen Wäh­ler­grup­pe; viel­leicht war es des­we­gen. Auch hier wird auf den „lang­an­hal­ten­den Applaus” des Publi­kums ver­wie­sen; vie­le (ich habe es mir nach­träg­lich ange­schaut) haben sich ange­hörs der muti­gen bzw. deut­li­chen Wor­te von ihren Plät­zen erho­ben, und „ein Hauch von Sport­pa­last”, wie der Süd­deut­sche Beob­ach­ter bei einer ande­ren Gele­gen­heit schrieb, weh­te durch den Narrensaal.

Die Web­sei­te Der Wes­ten indes meldete:

Wegen der kopro­phi­len Oppo­si­ti­ons­be­schimp­fung? I wo – das ist doch die vor­nehms­te Auf­ga­be eines „Komö­di­an­ten” im bes­ten Deutsch­land ever! Nein, es war etwas ande­res. „In einem kur­zen Video­aus­schnitt, der bei Twit­ter gera­de die Run­de macht, scheu­en sich Sit­zungs-Akteu­re Tho­mas Becker und Kati Greu­le nicht davor, sich öffent­lich über Trans­gen­der und den Kli­ma­schutz lus­tig zu machen.”

Es fol­gen eini­ge mehr oder weni­ger lus­ti­ge Bemer­kun­gen wie: „Auch ich fühl­te mich ja schon mona­te­lang als Mann gefan­gen im Kör­per einer Frau, aber dann wur­de ich halt gebo­ren.“ Oder: „Mit wel­cher Begrün­dung sagen wir dann spä­ter unse­ren Kin­dern, dass wir uns kei­ne Gedan­ken über den Kli­ma­wan­del gemacht haben?“ – „Dann sagen wir halt, lie­be Kin­der, es ist in den letz­ten 30 Jah­ren immer was dazwi­schen­ge­kom­men, wir muss­ten uns ja erst mal Gedan­ken um Gen­der-Stern­chen machen, dann hat­ten wir Pan­de­mie, Ende­mie, Anne­mie, Putin, Ener­gie­knapp­heit – dann hat sich auch noch die Menü­füh­rung von Sky Go geändert.“

Ein paar eilends zusam­men­ge­cas­te­te Wut­bür­ger haben sich angeb­lich über die­se Gags beschwert; die Gazet­te zitiert ohne Quel­len­an­ga­be, also wahr­schein­lich aus dem Twit­ter­mob, zwei Kom­men­ta­re: „Trans­feind­lich! Ekel­haft!” und „Sich über mar­gi­na­li­sier­te lus­tig machen, ist wirk­lich ein tol­ler Humor.“

Die tat­säch­lich Mar­gi­na­li­sier­ten, die beim Kar­ne­val beschimpft wur­den, waren die AfD-Leu­te. Als Trans­se­xu­el­ler indes ist man heut­zu­ta­ge bekannt­lich eine Art Her­ren­mensch, unkri­ti­sier­bar, mit ein­plärr­ba­rem Recht auf gren­zen­lo­ses Ver­ständ­nis, Per­so­nen­stands­wech­sel und staat­li­che För­de­rung, Min­der­heit hin oder her – es sind ja immer Min­der­hei­ten, die herr­schen. Wobei es in die­sem Fal­le nicht direkt die Trans­se­xu­el­len, Quee­ren oder sonst­wie Anders­ge­ar­te­ten sind, son­dern die­je­ni­gen, die sich als deren Spre­cher und Anwäl­te auf­spie­len (man sagt, dass die meis­ten Betrof­fe­nen das über­haupt nicht wol­len, doch woll­ten etwa die meis­ten Pro­le­ta­ri­er von den Lin­ken ver­tre­ten wer­den?). Jeder, der in den Ruch der „Trans­pho­bie” gerät, ris­kiert Ruf, Job und Kar­rie­re. Inso­fern haben die bei­den Que­ru­lan­ten das Image die­ser Ver­an­stal­tung ein klei­nes biss­chen korrigiert.

Eigent­lich müs­sen sie beim Kar­ne­val ja gegen die da oben läs­tern, den Zeit­geist ver­spot­ten, des­sen Wort­füh­rer und natür­lich die Regie­rung durch den Kakao zie­hen, aber das hat schon 1933 ff. schlecht funktioniert.

Gott, wie ich die­se Ver­glei­che liebe.

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Apro­pos.

„Als 2010 eine öffent­li­che Kam­pa­gne in Deutsch­land ver­such­te, mich zu äch­ten, trat Hans-Jür­gen Hüb­ner, unter­stützt von Hel­mut Diez, als fai­rer und furcht­lo­ser Online-Wäch­ter mei­nes Rufs auf. Ich hat­te – in der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung – Prä­si­dent Clin­tons Sozi­al­po­li­tik auch für Deutsch­land vor­ge­schla­gen. Jeder Bür­ger wird mit dem Recht auf 5 Jah­re Sozi­al­hil­fe gebo­ren. Er kann spa­ren, auf ein­mal oder in Tran­chen neh­men oder gar nicht. Groß­zü­gig Hil­fe soll­te in ech­ter Not geleis­tet, Wohl­fahrt aber als lebens­lan­ge Exis­tenz­form auf Kos­ten der Mit­bür­ger been­det wer­den. Ich wur­de in den Medi­en oder in öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln und Restau­rants als Volks­feind hin­ge­stellt, wo Kol­le­gen und Nor­mal­bür­ger mich anbrüll­ten. Mein Uni­ver­si­täts­bü­ro wur­de unzu­gäng­lich gemacht, indem Sekun­den­kle­ber in das Schloss gespritzt wur­de. Ich trau­te mich nicht mehr, mei­ne Fami­lie am Wochen­en­de von Dan­zig nach Bre­men zu holen. Dann trat Peter Miko­lasch als Heils­brin­ger auf und bot mir ein Exil in Nie­der­ös­ter­reich an. Das hat mei­ne Ner­vo­si­tät beruhigt.”

Gun­nar Hein­sohn (R. I. P.) in sei­nem Abschieds­brief.

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Alex­an­der Wendt hat einen wür­di­gen Nach­ruf auf Hein­sohn verfasst.

Ich kann­te die­sen beein­dru­cken­den Poly­his­tor aus­schließ­lich vom Kon­takt via Mail und Tele­fon; ich las sei­ne Sachen mit Gewinn und brach­te wei­land als Debat­ten­chef beim Focus immer mal wie­der Bei­trä­ge von ihm, was in den Kon­fe­ren­zen ver­läss­lich von jenen Mol­lus­ken bemault wur­de, die sich in Erman­ge­lung des Rück­grats einer eige­nen Mei­nung ein Exo­ske­lett aus Zeit­geist­chi­tin zuge­legt hatten.

Nur ein Mal tra­fen wir uns leib­haf­tig, in irgend­ei­ner DB-Lounge (es könn­te in Frank­furt gewe­sen sein, ich bin mir aber nicht sicher). Hein­sohn kam her­ein, sah mich, nahm neben mir Platz und begann zu plau­dern – es ging um eines sei­ner Lieb­lings­the­men: Unstim­mig­kei­ten der früh­ge­schicht­li­chen Chro­nol­gie –, als set­ze er ein Gespräch fort, das er eben nur unter­bro­chen hat­te, um sich einen Kaf­fee zu holen. Und so ver­ließ er mich denn ein hal­be Stun­de spä­ter auch; sein Zug ging vor mei­nem. Ich fand das entzückend.

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Zum Zustand des Rechts­staa­tes Bun­des­re­pu­blik Deutschland.

Die soge­nann­te Vier­te Gewalt hat Angst, die skan­da­lö­sen Zustän­de auch zu skan­da­li­sie­ren. Aus die­sem Grun­de sind es kei­ne Skan­da­le. Gäbe es in die­sem Land eine funk­tio­nie­ren­de (statt einer gelenk­ten und gekauf­ten) Pres­se, kei­ne Fae­ser, kein Busch­mann, kein Habeck, kein Lau­ter­bach wäre mehr im Amt.

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Pha­ri­sä­er.

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Hier spricht der Sponsor.

Habeck: „Wir haben ein Wär­me­pro­blem, kein Strom­pro­blem.“ Na, denn, auch dabei hilft (ein wenig) die ech­te Glüh­lam­pe. Sie ist eine der feins­ten Erfin­dun­gen zur Lebens­er­leich­te­rung der letz­ten 200 Jah­re: Eine sau­er­stoff­ar­me Glas­ku­gel, in der elek­tri­sche Span­nung Wolf­ram­fä­den zum Glü­hen bringt. Das Wun­der­ding hat wenig Mate­ri­al­be­darf, stellt eine im Ver­gleich simp­le Tech­nik dar und lie­fert ein völ­lig kon­ti­nu­ier­li­ches Licht­spek­trum, das von LED-Leucht­mit­teln nie erreicht wird.

Den Glüh­lam­pen wur­de vor­ge­wor­fen, 90 Pro­zent ihrer Ener­gie­auf­nah­me in Wär­me umzu­set­zen. Das könn­te dem­nächst eine sehr erwün­sche Eigen­schaft sein. Wir haben um das Jahr 2009 grö­ße­re Vor­rä­te ange­legt, die noch nicht ganz ver­kauft wur­den. Dar­um hier eine Gele­gen­heit: Radi­um 60 W klar E27 – 4er Pack.

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(Das war eine Anzeige.)

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Es steht zu befürch­ten, dass wir in ein Zeit­al­ter ein­tre­ten, in wel­chem das Fei­ern aus­schwei­fen­der Fes­te zuneh­mend als anstö­ßig emp­fun­den wird. Die Geg­ner der Aus­schwei­fung sind zahl­reich, ihre Argu­men­te ertö­nen auf allen Kanä­len, von Büh­nen, Kan­zeln, Red­ner­pul­ten, in den Schu­len, Uni­ver­si­tä­ten, Par­la­men­ten und Arzt­pra­xen. Es sind dies:

– Ers­tens die Gesund­heit, zuvör­derst die per­sön­li­che, aber auch jene der Grup­pe, für die der Ein­zel­ne angeb­lich eben­so mit­ver­ant­wort­lich ist wie der Unge­impf­te für die Gesund­heit des viel­fach Geimpften;
– Zwei­tens die soge­nann­te Lebens­er­war­tung – obwohl sie ja eigent­lich Todes­er­war­tung hei­ßen und so behan­delt wer­den müsste;
– Drit­tens die pri­va­te Ener­gie- oder CO2-Bilanz; über­haupt die Ver­schwen­dung von Res­sour­cen ange­sichts schlim­mer sozia­ler Ungleich­heit (obwohl Ver­schwen­dung ja eigent­lich Jobs schafft, doch die erzeu­gen schon wie­der CO2);
– Vier­tens sol­len gera­de männ­li­che Ange­hö­ri­ge der wei­ßen Uni­ver­sal­schul­d­ras­se sich gefäl­ligst zurück­hal­ten und Buße tun, statt orgi­as­tisch ihre Exis­tenz zu feiern;
— Fünf­tens ist das Ver­zeh­ren gewis­ser Spei­sen und vor allem Geträn­ke kul­tur­un­sen­si­bel bzw. haram und könn­te Men­schen aus ande­ren, bes­se­ren, weni­ger unter­drü­cke­ri­schen, weni­ger umwelt­zer­stö­ren­den Kul­tu­ren beleidigen;
— Sechs­tens dis­kri­mi­niert die Aus­schwei­fung an der Tafel alle Abs­ti­nenz­ler, Vega­ner, mit Nah­rungs­mit­tel­un­ver­träg­lich­kei­ten Hau­sie­ren­den, Schon­kost­ler und Diätophilen;
— Sieb­tens ist ein Bac­chanal unwei­ger­lich mit hete­ro­nor­ma­ti­ven und sexis­ti­schen Ent­hem­mun­gen verbunden.

Das soll­te genü­gen. Bes­se­re Argu­men­te für Aus­schwei­fun­gen wer­den Sie so schnell nicht fin­den. Allein schon aus Trotz gegen die exakt bemes­se­nen Ver­gnü­gun­gen unse­rer Tage und das Genä­sel der Gesund­heits­apos­tel soll­te ein Mensch von Geschmack bis­wei­len gewal­tig über die Strän­ge schla­gen. Wie? Zum Bei­spiel so:

Anno 1787 tag­te in Phil­adel­phia der ame­ri­ka­ni­sche Ver­fas­sungs­kon­vent und brach­te die bis heu­te gül­ti­ge Ver­fas­sung der Ver­ei­nig­ten Staa­ten zu Papier. Am Ende der Ver­samm­lung, es war der 14. Sep­tem­ber, lud Geor­ge Washing­ton die Spit­zen der ame­ri­ka­ni­schen Poli­tik in die City Taver­ne von Phil­adel­phia zu einem Abschieds­ban­kett. Die Rech­nung hält fest, was die 55 Her­ren dort ver­zehr­ten; es waren 54 Fla­schen Madei­ra, 60 Fla­schen Clai­ret oder Cla­ret, acht Fla­schen Whis­ky, acht Fla­schen Cider, 22 Fla­schen Por­ter, zwölf Bier und sie­ben Schüs­seln Punsch. Das heißt, die mun­te­ren Zecher leer­ten pro Kopf unge­fähr eine Fla­sche schwe­ren Likör­wein, eine Fla­sche Rot­wein sowie noch eini­ge Glä­ser Whis­ky, Bier, Punsch und Schaum­wein. Dabei han­del­te es sich um Her­ren durch­aus gesetz­te­ren Alters – Geor­ge Washing­ton war damals 55 Jah­re alt. Trotz­dem über­leb­ten alle den Abend ohne erwäh­nens­wer­te Schä­den und wahr­schein­lich mit guten Erin­ne­run­gen an ein rau­schen­des Fest.

Ein Bac­chanal ist etwas ande­res als ein Besäuf­nis. Es erhebt und ent­rückt sei­ne Teil­neh­mer einen Abend lang in höhe­re Sphä­ren. Es ist eine Kul­tur­tat. Das wirft die Fra­ge auf: Wie orga­ni­siert man ein Bacchanal?

Schau­en wir in die Geschich­te. Pla­tons Sym­po­si­on und die Orgi­en des Heliog­a­bal las­se ich aus, es möge jeder sein Plä­sier fin­den, wie es ihm behagt, aber für mich als Hete­ro ist das nichts, so dass ich mich lie­ber stracks ins 18. Jahr­hun­dert ver­fü­ge. Näher­hin zu Alex­and­re Balt­ha­zar Lau­rent Gri­mod de la Rey­niè­re, einem der gro­ßen Vor­den­ker, Weg­be­rei­ter und Steig­bü­gel­hal­ter des fran­zö­si­schen Fein­schme­cker­tums, der zwi­schen 1803 und 1812 den ers­ten Restau­rant­füh­rer der Welt ver­öf­fent­lich­te. Die­ser bra­ve Mann ver­an­stal­te­te in sei­nem Palais an den Champs-Ély­sées legen­dä­re Ban­ket­te. Das berühm­tes­te fand am 1. Febru­ar 1783 statt.

Die Ein­la­dungs­bil­lets gestal­te­te Gri­mod nach dem Mus­ter von Todes­an­zei­gen – eine die­ser Kar­ten soll Lud­wig XVI. erreicht und ihn so beein­druckt haben, dass er sie sich ein­rah­men ließ. Das gesam­te Diner war als ein Memen­to mori insze­niert. Lei­chen­blass geschmink­te Bediens­te­te begrüß­ten die Besu­cher, die sich an einem Emp­fangs­tisch, auf dem ein Toten­schä­del zwi­schen fla­ckern­den Ker­zen lag, in die Gäs­te­lis­te ein­tru­gen. Die Wän­de des Spei­se­saa­les waren mit schwar­zen Tüchern ver­hängt. Kla­gen­de Man­do­li­nen­klän­ge und Weih­rauch durch­zo­gen den von hun­der­ten Ker­zen erhell­ten Raum, der wie eine Aus­seg­nungs­hal­le wirk­te. In die­ser Nekro­po­le wur­den 14 Gän­ge gereicht, ser­viert auf Toten­bah­ren von zwei­hun­dert schwarz geklei­de­ten, an Fried­hofs­be­diens­te­te erin­nern­den Kell­nern. Spä­ter hielt der Haus­herr eine Rede, er fei­er­te den Tod als den wah­ren Her­ren des Lebens; nur vor dem Hin­ter­grund der End­lich­keit kön­ne der Mensch wahr­haft genie­ßen, sag­te er und pries die gro­ßen Gehil­fen des Todes: den Krieg, die Krank­hei­ten und die Ärzte.

In Jor­is-Karl Huys­mans Roman „À rebours“ heißt es über die männ­li­che Haupt­per­son, er habe sich den Ruf eines Exzen­tri­kers dadurch erwor­ben, dass er den Lite­ra­ten auf­se­hen­er­re­gen­de Diners gab, „unter ande­rem eines, das so ähn­lich schon ein­mal im 18. Jahr­hun­dert statt­ge­fun­den hat­te“, und zwar in Form eines Lei­chen­schmau­ses. „Im schwarz aus­ge­schla­ge­nen Spei­se­zim­mer mit sei­ner Öff­nung auf den nun ver­wan­del­ten Haus­gar­ten hin, der sei­ne mit Koh­le bestäub­ten Wege, sein mit Tin­te gefüll­tes Bas­sin und sei­ne ganz aus Zypres­sen und Fich­ten bestehen­den Baum­grup­pen dem Blick dar­bot, war das Diner auf einem schwar­zen Tisch­tuch ser­viert wor­den, auf dem Kör­be vol­ler Veil­chen und Ska­bio­sen stan­den und Kan­de­la­ber mit grü­nen Flam­men und Leuch­ter mit bren­nen­den Wachs­ker­zen Licht spen­de­ten. Wäh­rend ein ver­bor­ge­nes Orches­ter Trau­er­mär­sche spiel­te, wur­den die Gäs­te von nack­ten Nege­rin­nen bedient, die Pan­tof­feln und Strümp­fe aus sil­ber­nen, mit Per­len bestick­tem Stoff trugen.

Aus schwarz umran­de­ten Tel­lern hat­te man Schild­krö­ten­sup­pe, rus­si­sches Rog­gen­brot, rei­fe Oli­ven aus der Tür­kei, Kavi­ar, Rogen von Meer­äschen, geräu­cher­te Blut­wurst aus Frank­furt, Wild­bret in lakrit­zen­far­bi­gen Sau­cen,  Trüf­fel­kraft­brü­he, amb­ra­duf­ten­de Scho­ko­la­den­creme, Pud­ding, Blut­pfir­si­che, Trau­ben­mus, Brom­bee­ren und Herz­kir­schen geges­sen; getrun­ken hat­te man aus dunk­len Glä­sern die Wei­ne der Lima­gne und des Rouss­il­lon, Tenedos‑, Val-de-Penas- und Port­wei­ne und nach dem Kaf­fee und dem Nuss­brannt­wein Kwaß, Por­ter und Stout genossen.“

Ich gebe zu, mit die­sen Exem­peln ist die Lat­te ziem­lich hoch gelegt. Ein Bac­chanal bedarf jeden­falls eines gewis­sen Rah­mens, der Insze­nie­rung sowie ange­neh­mer Gäs­te, die zu plau­dern und ihr Gegen­über zu amü­sie­ren ver­ste­hen, Zeit haben, lan­ge trin­ken kön­nen, ohne sich zu betrin­ken, die alles essen und nicht dau­ernd etwas nicht ver­tra­gen oder aus alber­nen Grün­den ableh­nen. Der Gast­ge­ber hat durch eine abwechs­lungs­rei­che Bewir­tung dafür zu sor­gen, dass nie­mand in der Run­de abfällt und schläf­rig oder lust­los wird. Die Spei­sen müs­sen viel­fäl­tig und leicht sein, die Geträn­ke­fol­ge unor­tho­dox und ohne ein erkenn­ba­res Ende. Hat die Fei­er mit Ape­ri­tifs und zum Bei­spiel Chab­lis begon­nen, ist die Run­de sodann zum Roten über­ge­gan­gen, sind alle gesät­tigt und vom Wei­ne ein wenig ein­ge­lullt, muss sofort Cham­pa­gner oder wie­der ein küh­ler, fri­scher Weiß­wein kre­denzt wer­den, um wie­der Schwung in die Run­de zu brin­gen; immer neue Rei­ze müs­sen fol­gen: Likö­re, Brän­de, Port­wein, Sau­t­er­nes, dazwi­schen Espres­so, Des­serts, Eis, sodann wie­der Schar­fes und Sal­zi­ges, viel­leicht Aus­tern, Räu­cher­fisch, Käse, Ome­lette – und so immer­fort, bei anre­gen­den Gesprä­chen und dem strik­ten Ver­bot, die Uhr­zeit zu erwähnen.

Frei­lich, heu­te bekom­men Sie eher eine Selbst­hil­fe­grup­pe anony­mer Alko­ho­li­ker, einen Phi­lo­so­phen­kon­gress oder eine Stra­ßen­blo­cka­de fürs Welt­kli­ma orga­ni­siert als ein veri­ta­bles Bac­chanal. Zum einen ist ein sol­ches Ban­kett in hin­rei­chend gro­ßer Run­de kost­spie­lig, zum ande­ren fin­det sich kaum ein sei­ner wür­di­ger Gast, denn der Jetzt­mensch kann nicht heu­te trin­ken, ohne an mor­gen zu den­ken, an sei­nen Job, an sei­ne Gesund­heit, sein Gewicht, sei­ne Geld­bör­se, sein eifern­des Weib, sei­ne Termine.

Der Haupt­feind des Bac­chanals ist der Gedan­ke an alles ande­re, die Unfä­hig­keit, aus­schließ­lich im Jetzt zu leben.

Es gibt eine gro­ße mas­sen­taug­li­che Grup­pen­be­rau­schung, die in die­sem Zusam­men­hang nicht uner­wähnt blei­ben kann: das Okto­ber­fest. Wie ver­hält es sich damit? Nun, ich hei­ße es gut, aber ein Bac­chanal ist das natür­lich nicht, dafür sind Publi­kum und Geträn­ke zu demo­kra­tisch oder bes­ser: zu ple­be­jisch. Der Bier­rausch erhebt den Men­schen nicht, son­dern macht ihn schwer und drö­ge. Aber immer­hin: Die Wiesn bedeu­tet eine Aus­zeit vom all­täg­li­chen Regle­men­tiert­wer­den. Der von Ver­hal­tens­vor­schrif­ten und Ver­nunft­grün­den umstell­te, durch­op­ti­mier­te Mensch der Spät­zi­vi­li­sa­ti­on darf aus­nahms­wei­se ein­mal in der Eksta­se des kol­lek­ti­ven Rau­sches versinken.

Mit dem Bac­chan­ten gemein­sam hat der Wiesn­be­su­cher das Pro­blem des nächs­ten Mor­gens, auch wenn das Okto­ber­fest­bier einen aggres­si­ve­ren Kater macht als jede belie­bi­ge Abfol­ge von Wei­nen und Digestifs. Der alte Ernst Jün­ger, der noch mit hun­dert Len­zen dem Cham­pa­gner so beschwingt zusprach, dass ihn der 30 Jah­re jün­ge­re Rudolf Aug­stein glü­hend benei­de­te, hat ein­mal beklagt, dass die heu­ti­ge Jugend den Anstren­gun­gen des Tran­kes nicht mehr gewach­sen sei. Für alle gro­ßen Freu­den hat der Mensch einen Preis zu zah­len. Aber ohne den Preis zu ent­rich­ten, erlangt er sie nie.

 

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