Franz Kafka: Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse (gekürzt)

Unse­re Sän­ge­rin heißt Jose­fi­ne. Wer sie nicht gehört hat, kennt nicht die Macht des Gesanges…

Ich habe oft dar­über nach­ge­dacht, wie es sich mit die­ser Musik eigent­lich ver­hält… Wie kommt es, daß wir Jose­fi­nens Gesang ver­stehn oder, da Jose­fi­ne unser Ver­ständ­nis leug­net, wenigs­tens zu ver­ste­hen glau­ben? Die ein­fachs­te Ant­wort wäre, daß die Schön­heit die­ses Gesan­ges so groß ist, daß auch der stumpfs­te Sinn ihr nicht wider­ste­hen kann, aber die­se Ant­wort ist nicht befrie­di­gend. Wenn es wirk­lich so wäre, müß­te man vor die­sem Gesang zunächst und immer das Gefühl des Außer­or­dent­li­chen haben, das Gefühl, aus die­ser Keh­le erklin­ge etwas, was wir nie vor­her gehört haben… Gera­de das trifft aber mei­ner Mei­nung nach nicht zu, ich füh­le es nicht und habe auch bei andern nichts der­glei­chen bemerkt. Im ver­trau­ten Krei­se geste­hen wir ein­an­der offen, daß Jose­fi­nens Gesang als Gesang nichts Außer­or­dent­li­ches darstellt.

Ist es denn über­haupt Gesang?… In den alten Zei­ten unse­res Vol­kes gab es Gesang; Sagen erzäh­len davon und sogar Lie­der sind erhal­ten, die frei­lich nie­mand mehr sin­gen kann. Eine Ahnung des­sen, was Gesang ist, haben wir also und die­ser Ahnung nun ent­spricht Jose­fi­nens Kunst eigent­lich nicht. Ist es denn über­haupt Gesang? Ist es nicht viel­leicht doch nur ein Pfei­fen? … Alle pfei­fen wir, aber frei­lich denkt nie­mand dar­an, das als Kunst aus­zu­ge­ben… Wenn es also wahr wäre, daß Jose­fi­ne nicht singt, son­dern nur pfeift und viel­leicht gar, wie es mir wenigs­tens scheint, über die Gren­zen des übli­chen Pfei­fens kaum hin­aus­kommt (…), wenn das alles wahr wäre, dann wäre zwar Jose­fi­nens angeb­li­che Künst­ler­schaft wider­legt, aber es wäre dann erst recht das Rät­sel ihrer gro­ßen Wir­kung zu lösen…

Aber steht man vor ihr, ist es doch nicht nur ein Pfei­fen; es ist zum Ver­ständ­nis ihrer Kunst not­wen­dig, sie nicht nur zu hören son­dern auch zu sehn. Selbst wenn es nur unser tag­täg­li­ches Pfei­fen wäre, so besteht hier doch schon zunächst die Son­der­bar­keit, daß jemand sich fei­er­lich hin­stellt, um nichts ande­res als das Übli­che zu tun. Eine Nuß auf­kna­cken ist wahr­haf­tig kei­ne Kunst, des­halb wird es auch nie­mand wagen, ein Publi­kum zusam­men­zu­ru­fen und vor ihm, um es zu unter­hal­ten, Nüs­se kna­cken. Tut er es den­noch und gelingt sei­ne Absicht, dann kann es sich eben doch nicht nur um blo­ßes Nüs­se­kna­cken handeln…

Viel­leicht ver­hält es sich ähn­lich mit Jose­fi­nens Gesang; wir bewun­dern an ihr das, was wir an uns gar nicht bewun­dern… Ich war ein­mal zuge­gen, als sie jemand… auf das all­ge­mei­ne Volks­pfei­fen auf­merk­sam mach­te und zwar nur ganz beschei­den, aber für Jose­fi­ne war es schon zu viel. Ein so fre­ches, hoch­mü­ti­ges Lächeln, wie sie es damals auf­setz­te, habe ich noch nicht gesehn; sie… erschien damals gera­de­zu gemein; sie moch­te es übri­gens in ihrer gro­ßen Emp­find­lich­keit auch gleich selbst füh­len und faß­te sich. Jeden­falls leug­net sie also jeden Zusam­men­hang zwi­schen ihrer Kunst und dem Pfei­fen. Für die, wel­che gegen­tei­li­ger Mei­nung sind, hat sie nur Ver­ach­tung und wahr­schein­lich unein­ge­stan­de­nen Haß. Das ist nicht gewöhn­li­che Eitel­keit, denn die­se Oppo­si­ti­on, zu der auch ich halb gehö­re, bewun­dert sie gewiß nicht weni­ger als es die Men­ge tut, aber Jose­fi­ne will nicht nur bewun­dert, son­dern genau in der von ihr bestimm­ten Art bewun­dert sein, an Bewun­de­rung allein liegt ihr nichts. Und wenn man vor ihr sitzt, ver­steht man sie; Oppo­si­ti­on treibt man nur in der Fer­ne; wenn man vor ihr sitzt, weiß man: was sie hier pfeift, ist kein Pfeifen.

Da Pfei­fen zu unse­ren gedan­ken­lo­sen Gewohn­hei­ten gehört, könn­te man mei­nen, daß auch in Jose­fi­nens Audi­to­ri­um gepfif­fen wird …; aber ihr Audi­to­ri­um pfeift nicht, es ist mäus­chen­still, so als wären wir des ersehn­ten Frie­dens teil­haf­tig gewor­den… Ist es ihr Gesang, der uns ent­zückt oder nicht viel­mehr die fei­er­li­che Stil­le, von der das schwa­che Stimm­chen umge­ben ist? Ein­mal geschah es, daß irgend­ein törich­tes klei­nes Ding wäh­rend Jose­fi­nens Gesang in aller Unschuld auch zu pfei­fen anfing. Nun, es war ganz das­sel­be, was wir auch von Jose­fi­ne hör­ten; dort vor­ne das trotz aller Rou­ti­ne immer noch schüch­ter­ne Pfei­fen und hier im Publi­kum das selbst­ver­ges­se­ne kind­li­che Gepfei­fe; den Unter­schied zu bezeich­nen, wäre unmög­lich gewe­sen; aber doch zisch­ten und pfif­fen wir gleich die Stö­re­rin nieder…

Wenn ihr aber nun das Klei­ne so dient, wie erst das Gro­ße. Unser Leben ist sehr unru­hig, jeder Tag bringt Über­ra­schun­gen, Beängs­ti­gun­gen, Hoff­nun­gen und Schre­cken, daß der Ein­zel­ne unmög­lich dies alles ertra­gen könn­te, hät­te er nicht jeder­zeit bei Tag und Nacht den Rück­halt der Genos­sen; aber selbst so wird es oft recht schwer; manch­mal zit­tern selbst tau­send Schul­tern unter der Last, die eigent­lich nur für einen bestimmt war. Dann hält Jose­fi­ne ihre Zeit für gekom­men. Schon steht sie da, das zar­te Wesen…,  es ist, als hät­te sie alle ihre Kraft im Gesang ver­sam­melt… Aber gera­de bei sol­chem Anblick pfle­gen wir angeb­li­chen Geg­ner uns zu sagen: „Sie kann nicht ein­mal pfei­fen; so ent­setz­lich muß sie sich anstren­gen, um nicht Gesang – reden wir nicht von Gesang – aber um das lan­des­üb­li­che Pfei­fen eini­ger­ma­ßen sich abzu­zwin­gen.“ So scheint es uns, doch ist dies, wie erwähnt, ein zwar unver­meid­li­cher, aber flüch­ti­ger, schnell vor­über­ge­hen­der Ein­druck. Schon tau­chen auch wir in das Gefühl der Men­ge, die warm, Leib an Leib, scheu atmend horcht.

Und um die­se Men­ge unse­res fast immer in Bewe­gung befind­li­chen, wegen oft nicht sehr kla­rer Zwe­cke hin- und her­schie­ßen­den Vol­kes um sich zu ver­sam­meln, muß Jose­fi­ne meist nichts ande­res tun, als mit zurück­ge­leg­tem Köpf­chen, halb­of­fe­nem Mund, der Höhe zuge­wand­ten Augen jene Stel­lung ein­zu­neh­men, die dar­auf hin­deu­tet, daß sie zu sin­gen beab­sich­tigt. Sie kann dies tun, wo sie will, es muß kein weit­hin sicht­ba­rer Platz sein, irgend­ein ver­bor­ge­ner, in zufäl­li­ger Augen­blicks­lau­ne gewähl­ter Win­kel ist eben­so­gut brauch­bar. Die Nach­richt, daß sie sin­gen will, ver­brei­tet sich gleich, und bald zieht es in Pro­zes­sio­nen hin. Nun, manch­mal tre­ten doch Hin­der­nis­se ein, Jose­fi­ne singt mit Vor­lie­be gera­de in auf­ge­reg­ten Zei­ten, viel­fa­che Sor­gen und Nöte zwin­gen uns dann zu vie­ler­lei Wegen, man kann sich beim bes­ten Wil­len nicht so schnell ver­sam­meln, wie es Jose­fi­ne wünscht, und sie steht dort dies­mal in ihrer gro­ßen Hal­tung viel­leicht eine Zeit lang ohne genü­gen­de Hörer­zahl – dann frei­lich wird sie wütend, dann stampft sie mit den Füßen, flucht ganz unmäd­chen­haft… Aber selbst ein sol­ches Ver­hal­ten scha­det ihrem Rufe nicht; statt ihre über­gro­ßen Ansprü­che ein wenig ein­zu­däm­men, strengt man sich an, ihnen zu ent­spre­chen; es wer­den Boten aus­ge­schickt, um Hörer herbeizuholen…

Nur darf man frei­lich bei sol­chen all­ge­mei­nen Urtei­len nicht zu weit gehn, das Volk ist Jose­fi­ne doch erge­ben, nur nicht bedin­gungs­los. Es wäre z. B. nicht fähig, über Jose­fi­ne zu lachen. Man kann es sich ein­ge­stehn: an Jose­fi­ne for­dert man­ches zum Lachen auf; und an und für sich ist uns das Lachen immer nah; trotz allem Jam­mer unse­res Lebens ist ein lei­ses Lachen bei uns gewis­ser­ma­ßen immer zu Hau­se; aber über Jose­fi­ne lachen wir nicht. Manch­mal habe ich den Ein­druck, das Volk fas­se sein Ver­hält­nis zu Jose­fi­ne der­art auf, daß sie, die­ses zer­brech­li­che, scho­nungs­be­dürf­ti­ge, irgend­wie aus­ge­zeich­ne­te, ihrer Mei­nung nach durch Gesang aus­ge­zeich­ne­te Wesen ihm anver­traut sei und es müs­se für sie sor­gen… Über das aber, was einem anver­traut ist, lacht man nicht; dar­über zu lachen, wäre Pflicht­ver­let­zung; es ist das Äußers­te an Bos­haf­tig­keit, was die Bos­haf­tes­ten unter uns Jose­fi­ne zufü­gen, wenn sie manch­mal sagen: „Das Lachen ver­geht uns, wenn wir Jose­fi­ne sehn.“

So sorgt also das Volk für Jose­fi­ne in der Art eines Vaters, der sich eines Kin­des annimmt, das sein Händ­chen – man weiß nicht recht, ob bit­tend oder for­dernd – nach ihm aus­streckt. Man soll­te mei­nen, unser Volk tau­ge nicht zur Erfül­lung sol­cher väter­li­cher Pflich­ten, aber in Wirk­lich­keit ver­sieht es sie, wenigs­tens in die­sem Fal­le, mus­ter­haft; kein Ein­zel­ner könn­te es, was in die­ser Hin­sicht das Volk als Gan­zes zu tun imstan­de ist… Zu Jose­fi­ne wagt man aller­dings von sol­chen Din­gen nicht zu reden. „Ich pfei­fe auf eue­ren Schutz“, sagt sie dann. „Ja, ja, du pfeifst“, den­ken wir…

Nun spricht aber doch noch ande­res mit her­ein, das schwe­rer aus die­sem Ver­hält­nis zwi­schen Volk und Jose­fi­ne zu erklä­ren ist. Jose­fi­ne ist näm­lich der gegen­tei­li­gen Mei­nung, sie glaubt, sie sei es, die das Volk beschüt­ze. Aus schlim­mer poli­ti­scher oder wirt­schaft­li­cher Lage ret­tet uns angeb­lich ihr Gesang, nichts weni­ger als das bringt er zuwe­ge, und wenn er das Unglück nicht ver­treibt, so gibt er uns wenigs­tens die Kraft, es zu ertra­gen. Sie spricht es nicht so aus und auch nicht anders, sie spricht über­haupt wenig, sie ist schweig­sam unter den Plap­per­mäu­lern, aber aus ihren Augen blitzt es, von ihrem geschlos­se­nen Mund – bei uns kön­nen nur weni­ge den Mund geschlos­sen hal­ten, sie kann es – ist es abzu­le­sen. Bei jeder schlech­ten Nach­richt – und an man­chen Tagen über­ren­nen sie ein­an­der, fal­sche und halbrich­ti­ge dar­un­ter – erhebt sie sich sofort, wäh­rend es sie sonst müde zu Boden zieht, erhebt sich und streckt den Hals und sucht den Über­blick über ihre Her­de wie der Hirt vor dem Gewit­ter… Frei­lich, sie ret­tet uns nicht und gibt uns kei­ne Kräf­te, es ist leicht, sich als Ret­ter die­ses Vol­kes auf­zu­spie­len, das lei­dens­ge­wohnt [ist] …; es ist leicht, sage ich, sich nach­träg­lich als Ret­ter die­ses Vol­kes auf­zu­spie­len, das sich noch immer irgend­wie selbst geret­tet hat, sei es auch unter Opfern, über die der Geschichts­for­scher… vor Schre­cken erstarrt. Und doch ist es wahr, daß wir gera­de in Not­la­gen noch bes­ser als sonst auf Jose­fi­nens Stim­me hor­chen. Die Dro­hun­gen, die über uns ste­hen, machen uns stil­ler, beschei­de­ner, für Jose­fi­nens Befehls­ha­be­rei gefü­gi­ger… Das dün­ne Pfei­fen Jose­fi­nens mit­ten in den schwe­ren Ent­schei­dun­gen ist fast wie die arm­se­li­ge Exis­tenz unse­res Vol­kes mit­ten im Tumult der feind­li­chen Welt. Jose­fi­ne behaup­tet sich, die­ses Nichts an Stim­me, die­ses Nichts an Leis­tung behaup­tet sich und schafft sich den Weg zu uns…

Eine gewis­se uner­stor­be­ne, unaus­rott­ba­re Kind­lich­keit durch­dringt unser Volk; im gera­den Wider­spruch zu unse­rem Bes­ten, dem untrüg­li­chen prak­ti­schen Ver­stan­de, han­deln wir manch­mal ganz und gar töricht, und zwar eben in der Art, wie Kin­der töricht han­deln, sinn­los, ver­schwen­de­risch, groß­zü­gig, leicht­sin­nig und dies alles oft einem klei­nen Spaß zulie­be. Und wenn unse­re Freu­de dar­über natür­lich nicht mehr die vol­le Kraft der Kin­der­freu­de haben kann, etwas von die­ser lebt dar­in noch gewiß. Von die­ser Kind­lich­keit unse­res Vol­kes pro­fi­tiert seit jeher auch Josefine.

Aber unser Volk ist nicht nur kind­lich, es ist gewis­ser­ma­ßen auch vor­zei­tig alt… Wir haben kei­ne Jugend, wir sind gleich Erwach­se­ne, und Erwach­se­ne sind wir dann zu lan­ge, eine gewis­se Müdig­keit und Hoff­nungs­lo­sig­keit durch­zieht von da aus mit brei­ter Spur das im gan­zen doch so zähe und hoff­nungs­star­ke Wesen unse­res Vol­kes… Wir haben uns auf das Pfei­fen zurück­ge­zo­gen; ein wenig Pfei­fen hie und da, das ist das Rich­ti­ge für uns. Wer weiß, ob es nicht Musik­ta­len­te unter uns gibt; wenn es sie aber gäbe, der Cha­rak­ter der Volks­ge­nos­sen müß­te sie noch vor ihrer Ent­fal­tung unter­drü­cken. Dage­gen mag Jose­fi­ne nach ihrem Belie­ben pfei­fen oder sin­gen oder wie sie es nen­nen will, das stört uns nicht, das ent­spricht uns, das kön­nen wir wohl ver­tra­gen; wenn dar­in etwas von Musik ent­hal­ten sein soll­te, so ist es auf die mög­lichs­te Nich­tig­keit reduziert…

Aber von da bis zu Jose­fi­nens Behaup­tung, sie gebe uns in sol­chen Zei­ten neue Kräf­te usw. usw., ist noch ein sehr wei­ter Weg. Für gewöhn­li­che Leu­te aller­dings, nicht für Jose­fi­nens Schmeich­ler. „Wie könn­te es anders sein“ – sagen sie in recht unbe­fan­ge­ner Keck­heit – „wie könn­te man anders den gro­ßen Zulauf, beson­ders unter unmit­tel­bar drän­gen­der Gefahr, erklä­ren, der schon manch­mal sogar die genü­gen­de, recht­zei­ti­ge Abwehr eben die­ser Gefahr ver­hin­dert hat.“ Nun, dies letz­te­re ist lei­der rich­tig, gehört aber doch nicht zu den Ruh­mes­ti­teln Jose­fi­nens, beson­ders wenn man hin­zu­fügt, daß, wenn sol­che Ver­samm­lun­gen uner­war­tet vom Feind gesprengt wur­den, und man­cher der unse­ri­gen dabei sein Leben las­sen muß­te, Jose­fi­ne, die alles ver­schul­det, ja, durch ihr Pfei­fen den Feind viel­leicht ange­lockt hat­te, immer im Besitz des sichers­ten Plätz­chens war und unter dem Schut­ze ihres Anhan­ges sehr still und eiligst als ers­te ver­schwand. Aber auch die­ses wis­sen im Grun­de alle, und den­noch eilen sie wie­der hin, wenn Jose­fi­ne nächs­tens nach ihrem Belie­ben irgend­wo, irgend­wann zum Gesan­ge sich erhebt. Dar­aus könn­te man schlie­ßen, daß Jose­fi­ne fast außer­halb des Geset­zes steht, daß sie tun darf, was sie will, selbst wenn es die Gesamt­heit gefähr­det, und daß ihr alles ver­zie­hen wird…

Man­che glau­ben, Jose­fi­ne wer­de des­halb so dring­lich, weil sie sich alt wer­den füh­le, die Stim­me Schwä­chen zei­ge, und es ihr daher höchs­te Zeit zu sein schei­ne, den letz­ten Kampf um ihre Aner­ken­nung zu füh­ren. Ich glau­be dar­an nicht. Jose­fi­ne wäre nicht Jose­fi­ne, wenn dies wahr wäre. Für sie gibt es kein Altern und kei­ne Schwä­chen ihrer Stim­me. Wenn sie etwas for­dert, so wird sie nicht durch äuße­re Din­ge, son­dern durch inne­re Fol­ge­rich­tig­keit dazu gebracht…

Die­se Miß­ach­tung äuße­rer Schwie­rig­kei­ten hin­dert sie aller­dings nicht, die unwür­digs­ten Mit­tel anzu­wen­den. Ihr Recht steht ihr außer Zwei­fel; was liegt also dar­an, wie sie es erreicht; beson­ders da doch in die­ser Welt, so wie sie sich ihr dar­stellt, gera­de die wür­di­gen Mit­tel ver­sa­gen müssen…

So wur­de z. B. das Gerücht ver­brei­tet, Jose­fi­ne beab­sich­ti­ge, wenn man ihr nicht nach­ge­be, die Kolo­ra­tu­ren zu kür­zen. Ich weiß nichts von Kolo­ra­tu­ren, habe in ihrem Gesan­ge nie­mals etwas von Kolo­ra­tu­ren bemerkt. Jose­fi­ne aber will die Kolo­ra­tu­ren kür­zen, vor­läu­fig nicht besei­ti­gen, son­dern nur kür­zen. Sie hat angeb­lich ihre Dro­hung wahr gemacht, mir aller­dings ist kein Unter­schied gegen­über ihren frü­he­ren Vor­füh­run­gen auf­ge­fal­len. Das Volk als Gan­zes hat zuge­hört wie immer, ohne sich über die Kolo­ra­tu­ren zu äußern, und auch die Behand­lung von Jose­fi­nens For­de­rung hat sich nicht geän­dert. Übri­gens hat Jose­fi­ne, wie in ihrer Gestalt, unleug­bar auch in ihrem Den­ken manch­mal etwas recht Gra­ziö­ses. So hat sie z. B. nach jener Vor­füh­rung, so als sei ihr Ent­schluß hin­sicht­lich der Kolo­ra­tu­ren gegen­über dem Volk zu hart oder zu plötz­lich gewe­sen, erklärt, nächs­tens wer­de sie die Kolo­ra­tu­ren doch wie­der voll­stän­dig sin­gen. Aber nach dem nächs­ten Kon­zert besann sie sich wie­der anders, nun sei es end­gül­tig zu Ende mit den gro­ßen Kolo­ra­tu­ren, und vor einer für Jose­fi­ne güns­ti­gen Ent­schei­dung kämen sie nicht wieder…

Wir sehen hin­ter Jose­fi­ne ihren Anhang, wie er sie bit­tet und beschwört zu sin­gen. Sie woll­te gern, aber sie kann nicht. Man trös­tet sie, umschmei­chelt sie, trägt sie fast auf den schon vor­her aus­ge­such­ten Platz, wo sie sin­gen soll. End­lich gibt sie mit undeut­ba­ren Trä­nen nach,… matt, die Arme nicht wie sonst aus­ge­brei­tet, son­dern am Kör­per leb­los her­un­ter­hän­gend, wobei man den Ein­druck erhält, daß sie viel­leicht ein wenig zu kurz sind… Und am Ende ist sie sogar weni­ger müde als vor­her, mit fes­tem Gang, soweit man ihr huschen­des Trip­peln so nen­nen kann, ent­fernt sie sich, jede Hil­fe des Anhangs ableh­nend und mit kal­ten Bli­cken die ihr ehr­furchts­voll aus­wei­chen­de Men­ge prüfend…

Mit Jose­fi­ne aber muß es abwärts gehn. Bald wird die Zeit kom­men, wo ihr letz­ter Pfiff ertönt und ver­stummt. Sie ist eine klei­ne Epi­so­de in der ewi­gen Geschich­te unse­res Vol­kes und das Volk wird den Ver­lust über­win­den. Leicht wird es uns ja nicht wer­den; wie wer­den die Ver­samm­lun­gen in völ­li­ger Stumm­heit mög­lich sein? Frei­lich, waren sie nicht auch mit Jose­fi­ne stumm? War ihr wirk­li­ches Pfei­fen nen­nens­wert lau­ter und leben­di­ger, als die Erin­ne­rung dar­an sein wird? … Viel­leicht wer­den wir also gar nicht sehr viel ent­beh­ren, Jose­fi­ne aber, erlöst von der irdi­schen Pla­ge, die aber ihrer Mei­nung nach Aus­er­wähl­ten berei­tet ist, wird fröh­lich sich ver­lie­ren in der zahl­lo­sen Men­ge der Hel­den unse­res Vol­kes, und bald, da wir kei­ne Geschich­te trei­ben, in gestei­ger­ter Erlö­sung ver­ges­sen sein wie alle ihre Brüder.

 

Das voll­stän­di­ge Ori­gi­nal hier.

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