12. März 2025

Im Traum sah ich einen Saal vol­ler jun­ger Men­schen, die alle T‑Shirts tru­gen, auf wel­chen „I am uni­que” stand.

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In Ber­lin haben inzwi­schen die ers­ten U‑Bahnhöfe fes­te Bewoh­ner. Das mag bes­ser sein, als wenn die Obdach­lo­sen drau­ßen in der Käl­te leben, bringt aber das Pro­blem mit sich, dass regu­lä­re Woh­nun­gen gemein­hin mit Toi­let­ten aus­ge­stat­tet sind und Bahn­hö­fe in der Regel nicht.

Ein Hun­de­hau­fen – ach, möge er von einem Hund gestammt haben! – lag ges­tern auf der Trep­pe des kom­bi­nier­ten U- und S‑Bahnausganges Bran­den­bur­ger Tor; im „Reichs­hauptslum” (Don Alphon­so) macht man so etwas nicht zwin­gend weg. Doch schon am nächs­ten Mor­gen hat­ten Tau­sen­de von Füßen die Exkre­men­te in klit­ze­klei­ne Klümp­chen, Fleck­chen und Schlie­ren zer­legt und auf der gesam­ten Trep­pe sowie, in immer klei­ne­ren, dem blo­ßen Auge nicht mehr sicht­ba­ren Por­tio­nen, über den Bahn­hof ver­teilt. Gewiss fan­den sogar ein paar Mole­kü­le an den Fuß­soh­len von Bundestagsmitarbeiter*:innen ihren Weg in die Tep­pi­che einer der angren­zen­den Keme­na­ten des Hohen Hauses.

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Zu gern trä­fe ich ein­mal einen Men­schen, der mehr wie­gen und weni­ger ver­die­nen möchte.

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Der Deep Sta­te ist eine Ver­schwö­rungs­theo­rie gegen den Deep Sta­te.

Zitat: „Fox News Digi­tal über­prüf­te stich­pro­ben­ar­tig über 20 Exe­ku­ti­v­a­n­ord­nun­gen aus den Jah­ren 2021 bis 2024 und fand auf allen die­sel­be Signa­tur. Ver­gleich­ba­re Doku­men­te von Donald Trump hin­ge­gen sol­len deut­li­che Unter­schie­de in der Hand­schrift auf­wei­sen, da die­ser sei­ne Anord­nun­gen meist öffent­lich unter­zeich­ne­te. Beson­ders bri­sant: Als der dama­li­ge Spre­cher des Reprä­sen­tan­ten­hau­ses, Mike John­son, Biden 2024 auf einen Stopp von Flüs­sig­gas­ex­por­ten ansprach, soll Biden ver­wun­dert geant­wor­tet haben: ‚Ich habe das nicht gemacht.’ John­son äußer­te dar­auf­hin schwe­re Beden­ken: ‚Ich ver­ließ das Tref­fen mit der Fra­ge: Wer regiert die­ses Land eigentlich?’ ”

Haben Sie die­se immer­hin erstaun­li­che Nach­richt schon in Ihrer Tages­zei­tung gesucht? Viel Glück dabei!

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Das Plat­zen von Bla­sen bleibt inner­halb der­sel­ben offen­kun­dig zuwei­len unbemerkt.

Was selbst­zer­stö­re­ri­sche Dyna­mi­ken betrifft, hat der Press­strolch gewis­se publi­zis­ti­sche Erfahrungen.

Zitat: „Sie sind jung, mutig, mobil, hung­rig, risi­ko­be­reit, initia­tiv. Sol­che Men­schen braucht das Land.“

Sol­che Jour­na­lis­ten­bla­sen­be­woh­ner aber nicht.

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„Der Esel kommt mir vor wie ein ins Hol­län­di­sche über­setz­tes Pferd.“
Lichtenberg

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The­men­wech­sel.

War­um wur­de Fried­rich Nietz­sche wahn­sin­nig? Im All­ge­mei­nen hat sich die Ansicht durch­ge­setzt, dass eine syphi­li­ti­sche Infek­ti­on den Phi­lo­so­phen um den Ver­stand brach­te. Zuge­zo­gen habe er sie sich als Stu­dent in einem Köl­ner Bor­dell. In der Latenz­zeit habe sich die Krank­heit in sei­nen kör­per­li­chen Lei­den offen­bart, bis sie schließ­lich sein Gehirn zer­stör­te und ihn für zehn Jah­re in geis­ti­ge Umnach­tung ver­setz­te, aus der ihn schließ­lich der Tod erlöste.

Die Geschich­te vom Bor­dell­be­such hat Paul Deus­sen über­lie­fert, spä­te­rer Ordi­na­ri­us für Indo­lo­gie in Kiel und mit Nietz­sche seit ihrer gemein­sa­men Zeit als Schü­ler in der könig­lich-preu­ßi­schen Lan­des­schu­le Pfor­ta bei Naum­burg freund­schaft­lich ver­bun­den. In sei­nem Buch „Erin­ne­run­gen an Fried­rich Nietz­sche“, das 1901 erschien, ein Jahr nach dem Tod des „Umwer­ters aller Wer­te”, beschreibt er Nietz­sches offen­bar ver­se­hent­li­chen Abste­cher in das anrü­chi­ge Eta­blis­se­ment. Nietz­sche war damals Stu­dent in Bonn und hat­te einen Frem­den­füh­rer gebe­ten, ihm ein Restau­rant zu zei­gen. Der Cice­ro­ne soll ihn statt­des­sen, die Wün­sche des „Tou­ris­ten” offen­bar fri­vol fehl­in­ter­pre­tie­rend, in das besag­te Freu­den­haus geführt haben, wo der düpier­te Stu­dent sei­ne Ver­le­gen­heit über­spiel­te, indem er sich ans Kla­vier setz­te, kurz impro­vi­sier­te und sodann ent­schie­den das Wei­te suchte.

Das ist nicht viel an bio­gra­phie­taug­li­cher Sub­stanz. Wir befin­den uns im Hören­sa­gen. Die Infek­ti­on wäre also eine Spe­ku­la­ti­on auf­grund des Hören­sa­gens, gewis­ser­ma­ßen Hören­sa­gen vom Hören­sa­gen. Die dahin­ter­ste­hen­de Logik lau­tet: Wenn ein zeit­le­bens unver­hei­ra­te­ter, ja keu­scher Mann an Syphi­lis stirbt, kann er sich eigent­lich nur bei einer Pro­sti­tu­ier­ten infi­ziert haben. Die Dia­gno­se „Pro­gres­si­ve Para­ly­se auf syphi­li­ti­scher Basis“ war in der Psych­ia­tri­schen Uni­ver­si­täts­kli­nik in Jena unter Lei­tung Otto Bins­wan­gers gestellt wor­den, wohin man Nietz­sche nach einem Zwi­schen­auf­ent­halt in der Irren­an­stalt Fried­matt in Basel gebracht hat­te. Der spä­te dia­gnos­ti­sche Don­ner ver­trug sich im Nach­hin­ein mit dem anek­do­tisch über­lie­fer­ten Blitz. Seit­her galt Nietz­sche als Syphilitiker.

Tho­mas Mann hat Deus­sens Buch für die Recher­che für sei­nen „Dok­tor Faus­tus”, des­sen Haupt­fi­gur, der Kom­po­nist Adri­an Lever­kühn, bio­gra­phi­sche Züge Nietz­sches trägt, natür­lich gele­sen. Das beweist auch die Sze­ne vom spä­ten Besuch des Erzäh­lers bei dem in völ­li­ger Apa­thie ver­sun­ke­nen Lever­kühn, wel­cher ledig­lich den mit­ge­brach­ten Blu­men kur­ze Auf­merk­sam­keit schenkt, bis auch sie unbe­ach­tet lie­gen blei­ben – so berich­tet es Deus­sen im Buch über sei­nen letz­ten Besuch bei Nietz­sche. Mann über­nahm auch die Bor­dell-Sze­ne. Am Tag sei­ner Ankunft in Leip­zig wird Adri­an Lever­kühn von einem „teuf­li­schen Dienst­mann” in ein Bor­dell geführt. In den Mäd­chen dort erkennt er erschro­cken die „Esme­ral­den”, durch­sich­ti­ge Haut­flüg­ler aus der Schmet­ter­lings­samm­lung sei­nes Vaters: „Nym­phen und Töch­ter der Wüs­te, sechs oder sie­ben, wie soll ich sagen, Mor­phos, Glas­flüg­ler, Esme­ral­den, wenig geklei­det, durch­sich­tig geklei­det, in Tüll, Gaze und Glit­zer­werk” (Nietz­sche soll von „Erschei­nun­gen aus Flit­ter und Gaze“ gespro­chen haben). Eines der Mäd­chen geht auf ihn zu und strei­chelt sei­ne Wan­ge. Lever­kühn tritt, wie angeb­lich Nietz­sche, ans Kla­vier und schlägt ein paar Akkor­de an, dann ergreift er die Flucht.

Doch der Pfeil hat­te Adri­an getrof­fen, schreibt der Erzäh­ler Sere­nus Zeit­blom. Nach etwa einem Jahr sucht der bis dato so nietz­sche­ar­tig Keu­sche die­se Esme­ral­da in Preß­burg auf. Sie ist geschlechts­krank und warnt ihn, aber den jun­gen Mann ver­langt es nach der Ver­ei­ni­gung mit dem Gift­fal­ter. Lie­be und Ver­gif­tung wer­den eins. Der Teu­fel ver­kauft Lever­kühn Genia­li­tät um den Preis, dass der durch Krank­heit „Illu­mi­nier­te” fort­an nicht lie­ben darf. Wen er liebt, der muss ster­ben. Der Name „Het­aera Esme­ral­da” taucht in der Fol­ge in vie­len sei­ner Kom­po­si­tio­nen als Klang­chif­fre h – e – a – es auf.

Tho­mas Mann bedient die geläu­fi­ge Vor­stel­lung von Wahn­sinn und Genie. Erst die Krank­heit ver­setzt den Künst­ler in den genia­len Zustand. Der Teu­fel spricht zu Lever­kühn: „Und ich wills mei­nen, daß schöp­fe­ri­sche, Genie spen­den­de Krank­heit, Krank­heit, die hoch zu Roß die Hin­der­nis­se nimmt, in küh­nem Rausch von Fels zu Fel­sen sprengt, tau­send­mal dem Leben lie­ber ist als die Fuße lat­schen­de Gesundheit.”

Unge­fähr zur sel­ben Zeit schreibt Gott­fried Benn: „Genie ist eine bestimm­te Form rei­ner Ent­ar­tung unter Aus­lö­sung von Pro­duk­ti­vi­tät.” In sei­nem Essay „Das Genie­pro­blem” heißt es unter Beru­fung auf den Psych­ia­ter Karl Birn­baum, der psy­cho­pa­tho­lo­gi­sches Mate­ri­al von genia­len Per­sön­lich­kei­ten sam­mel­te: „Es lit­ten an aus­ge­spro­chen kli­ni­scher Schi­zo­phre­nie: Tas­so, New­ton, Lenz, Höl­der­lin, Swe­den­borg, Paniz­za, van Gogh, Gogol, Strind­berg, latent schi­zo­phren waren: Kleist, Clau­de Lor­rain. An Para­noia: Gutz­kow, Rous­se­au, Pas­cal. Melan­cho­lie: Thor­wald­sen, Weber, Schu­bert, Cho­pin, Liszt, Ros­si­ni, Moliè­re, Lich­ten­berg (…) Hys­te­ri­sche Anfäl­le hat­ten: Pla­ten, Flau­bert, Otto Lud­wig, Moliè­re. Es star­ben an Para­ly­se: Makart, Manet, Mau­pas­sant, Len­au, Doni­zet­ti, Schu­mann, Nietz­sche, Jules Gon­court, Bau­de­lai­re, Sme­ta­na. Es star­ben an arte­rio­skl­ero­ti­scher Ver­blö­dung: Kant, Gott­fried Kel­ler, Stendhal, Lin­né, Böck­lin, Fara­day. Es star­ben durch Selbst­mord: Kleist, van Gogh, Rai­mund, Wei­nin­ger. Es hat­ten Trieb­va­ri­an­ten in homo­ero­ti­scher Rich­tung: vier­zig. Es waren ihr Leben lang ase­xu­ell: Kant, Spi­no­za, New­ton, Menzel.”

Und wei­ter: „Fast alle waren ehe­los, fast alle kin­der­los, über glück­li­che Ehen weiß man eigent­lich nur von einem hal­ben Dut­zend Musi­kern, dann von Schil­ler und Her­der. Vie­le kör­per­li­che Miß­bil­dun­gen (…) das Pro­duk­ti­ve, wo immer man es berührt, eine Mas­se, durch­setzt von Stig­ma­ti­sie­run­gen, Rausch, Halb­schlaf, Par­oxys­men; ein Hin und Her von Trieb­va­ri­an­ten, Anoma­lien, Feti­schis­men, Impo­ten­zen –: gibt es über­haupt ein gesun­des Genie?”

Die Geburt des schöp­fe­ri­schen Geis­tes aus dem Kampf mit Krank­heit und Lei­den: das gin­ge auch oder jeden­falls als Leit­mo­tiv bei Nietz­sche durch. Sein gesam­tes Erwach­se­nen­le­ben lang litt der Phi­lo­soph unter star­ken, von Übel­keit und Erbre­chen beglei­te­ten Kopf­schmer­zen. Sie tra­ten peri­odisch auf und mach­ten ihn oft tage­lang arbeits- und aus­geh­un­fä­hig. Die Ärz­te inter­pre­tier­ten das Haupt­weh als Migrä­ne. Nietz­sche war von Hau­se aus kurz­sich­tig, vor allem sein rech­tes Auge ver­lor immer mehr an Seh­schär­fe, bis es um sein drei­ßigs­tes Lebens­jahr nahe­zu blind war. Einen Zusam­men­hang zwi­schen bei­den Erschei­nung stell­te damals nie­mand her. Nietz­sche selbst beschlich eine Ahnung: Im Jahr 1876 äußer­te er einem Arzt gegen­über den Ver­dacht, einen Gehirn­tu­mor zu haben. Dar­auf wur­de bei ihm eine Neur­al­gie diagnostiziert.

Die chro­ni­schen Lei­den haben die Bio­gra­phie des spät­ge­bo­re­nen Dio­ny­sos-Vor­tän­zers ent­schei­dend geprägt. Als 25jähriger war Nietz­sche 1869 als außer­or­dent­li­cher Pro­fes­sor für Klas­si­sche Phi­lo­lo­gie nach Basel beru­fen wor­den. Wegen sei­ner schlech­ten gesund­heit­li­chen Ver­fas­sung sah er sich erst­mals im Win­ter­se­mes­ter 1875/1876 gezwun­gen, Urlaub vom Lehr­be­trieb zu neh­men. 1879 leg­te er die Pro­fes­sur nie­der. Fort­an noma­di­sier­te er auf der Suche nach für ihn ver­träg­li­chen Kli­ma­be­din­gun­gen durch die Schweiz, Frank­reich und Ita­li­en. Im Som­mer hielt er sich meist in Sils-Maria im Ober­enga­din auf, die Win­ter ver­brach­te er vor­wie­gend in Nord­ita­li­en und in Niz­za. Die zehn Jah­re der Wan­der­schaft bis zu sei­nem Zusam­men­bruch anno 1889 in Turin waren eine Zeit gro­ßer und zuletzt wil­der Pro­duk­ti­vi­tät. Die „Göt­zen-Däm­me­rung“ brach­te er nach eige­ner Aus­kunft in zwan­zig Tagen zu Papier. Wäh­rend er sprach­lich Höhen erklomm, für die es in der Geis­tes­ge­schich­te kaum ein Gegen­stück gibt, wur­de sein Ton immer schril­ler; es war, als wenn eine Sai­te immer stär­ker gespannt wer­de. Von „Ecce homo” führt ein Weg in sei­ne soge­nann­ten Wahn­sinns­zet­tel, aber doch ist ein deut­li­cher Bruch fest­stell­bar. Irgend­wann ist die Sai­te gerissen.

Aber war es wirk­lich die Syphi­lis, die sei­nen Geist am Ende zerstörte?

Ich lern­te vor kur­zem einen Hirn­chir­ur­gen ken­nen, der mir von einer ande­ren Deu­tung berich­te­te. Sie ist nicht brand­neu – was sche­ren in die­sem Zusam­men­hang Aktua­li­tä­ten? – und wur­de anno 2007 im Fach­jour­nal Neu­ro­sur­gery dar­ge­legt, also prak­tisch unter Aus­schluss der Öffent­lich­keit. Der Auf­satz erschien unter dem Titel „The mad­ness of Dio­ny­sus: a neu­ro­sur­gi­cal per­spec­ti­ve on Fried­rich Nietz­sche”. Des­sen Hypo­the­se lau­tet: Es war nicht die Syphi­lis, son­dern ein Hirn­tu­mor. (Der Auf­satz ist online nicht auf­ruf­bar; hier fin­den Sie den Abs­tract.) Ich refe­rie­re hier kurz die Argu­men­te der Autoren, alle drei übri­gens Hirnchirurgen.

Zunächst: Es gibt über­zeu­gen­de Argu­men­te, dass Nietz­sche über­haupt kein Lueti­ker war: etwa sein noch recht lan­ges Leben nach dem Zusam­men­bruch – zehn Jah­re – sowie die Tat­sa­che, dass er nie den cha­rak­te­ris­ti­schen syphi­li­ti­schen Tre­mor (Zit­tern) ent­wi­ckel­te. Nietz­sches Freund Hein­rich Köse­litz ali­as Peter Gast hör­te ihn Ende 1890 in der Anstalt auf dem Kla­vier impro­vi­sie­ren und stell­te ver­blüfft fest: „Nicht eine fal­sche Note!“ Eine sol­che Vir­tuo­si­tät, notie­ren die Autoren, wäre bei einem Pati­en­ten mit fort­ge­schrit­te­ner Neu­ro­sy­phi­lis eher unwahr­schein­lich. Wenn sich Nietz­sche tat­säch­lich als Stu­dent infi­ziert hät­te, wür­de dies bedeu­ten, dass er eine 23-jäh­ri­ge Latenz­zeit durch­mach­te (wäh­rend der er oft krank war), gefolgt von einer zehn­jäh­ri­gen Über­le­bens­zeit nach dem Ein­set­zen ful­mi­nan­ter neu­ro­lo­gi­scher Sym­pto­me. Das sei zwar kei­nes­wegs aus­ge­schlos­sen, lie­fe aller­dings auf „die äußers­te Lebens­er­war­tung bei Fäl­len ter­tiä­rer Syphi­lis” hin­aus. Der Phi­lo­soph galt auf­grund sei­ner begrenz­ten finan­zi­el­len Mit­tel in Jena als Pati­ent zwei­ter Klas­se – sein Welt­ruhm hub etwa zehn Jah­re spä­ter an –, wes­halb sich die Ärz­te- und assis­tie­ren­de Stu­den­ten­schaft mit der erst­bes­ten Dia­gno­se „Pro­gres­si­ve Para­ly­se auf syphi­li­ti­scher Basis“ zufrie­den­gab. Immer­hin einer der Stu­den­ten brach­te spä­ter sei­ne Zwei­fel zu Papier: „Aber er leb­te noch fast ein Dut­zend Jah­re in erträg­li­cher kör­per­li­cher Ver­fas­sung. War er wirk­lich syphilitisch?“

Ers­te Ver­mu­tun­gen, dass Nietz­sches Sym­pto­me durch einen Gehirn­tu­mor ver­ur­sacht wor­den sein könn­ten, wur­den bereits in den 1920er Jah­ren geäu­ßert. In Rede stand auch ein Seh­ner­ven­me­nin­gi­om, also ein Tumor am Seh­nerv. Die in den weni­gen Pho­to­gra­phien doku­men­tier­te Ver­än­de­rung des rech­ten Auges im Lau­fe von Nietz­sches Lebens ist das zen­tra­le Argu­ment der Tumortheorie.

(Abbil­dung aus dem Aufsatz)

Nietz­sches ers­te neu­ro­lo­gi­sche Unter­su­chung nach sei­ner Ein­lie­fe­rung in Basel ergab fol­gen­den Befund: „Pupil­len­dis­pa­ri­tät, rechts grö­ßer als links, Reak­ti­on trä­ge. Kon­ver­gen­ter Stra­bis­mus – aku­te Myo­pie (Augen­fehl­stel­lung und Kurz­sich­tig­keit – M.K.). Zun­ge stark belegt, kei­ne Abwei­chung, kein Zit­tern! (Was, wie gesagt, für einen Lueti­ker im Final­sta­di­um unge­wöhn­lich wäre – M.K.) Gesichts­nerv fast nor­mal; rech­te Naso­la­bi­al­fal­te leicht kon­tra­hiert. Über­trie­be­ner Patel­lar­re­flex (der jeder­mann bekann­te Reflex im Ober­schen­kel, wenn der Dok­tor mit dem Häm­mer­chen aufs Vor­der­knie pocht – M.K.).“ Sei­ne kör­per­li­che Unter­su­chung bei der Ankunft in Jena ergab: „Pupil­len rechts weit, links etwas enger, links leicht unre­gel­mä­ßig kon­tra­hiert, alle Reak­tio­nen links nor­mal, rechts nur Reak­ti­on auf Kon­ver­genz, kon­sen­su­el­le Reak­tio­nen nur links.“

Der Tumor müss­te sich also ober­halb des rech­ten Auges befun­den haben. Die drei Autoren notie­ren: „Nietz­sches lang­jäh­ri­ge Kran­ken­ge­schich­te mit late­ra­li­sier­ten Kopf­schmer­zen, damit ver­bun­de­nen Hirn­ner­ven­läh­mun­gen und kon­tra­la­te­ra­ler Hyper­re­fle­xie (der erwähn­te über­stei­ger­te Patel­lar­re­flex – M. K.) deu­tet eher auf eine intra­kra­ni­elle Mas­sen­lä­si­on (eine Raum­for­de­rung inner­halb des Schä­dels – M. K.), ins­be­son­de­re auf eine Raum­for­de­rung in der Nähe des Seh­ner­ven­ka­nals, der obe­ren Augen­höh­len­spal­te.” Da aber 1889 „die Kunst der neu­ro­lo­gi­schen Loka­li­sie­rung noch in den Kin­der­schu­hen steck­te”, sei die poten­zi­el­le Bedeu­tung vie­ler von Nietz­sches Sym­pto­men erst im Nach­hin­ein erkannt worden.

Sogar nach Nietz­sches Ner­ven­zu­sam­men­bruch Anfang 1889 ver­mer­ken die Auf­zeich­nun­gen sei­ner Ärz­te, dass der Pati­ent „häu­fig über eine supra­or­bi­ta­le (im Stirn­bein gele­ge­ne – M. K.) Neur­al­gie auf der rech­ten Sei­te klagt“. Ein sich all­mäh­lich ver­grö­ßern­der Tumor pas­se auch zur psych­ia­tri­schen Ent­wick­lung, füh­ren die drei „Hirn­schlos­ser” (zunft­üb­li­che Selbst­be­zeich­nung) wei­ter aus. Obwohl sich sol­che Fron­tal­tu­mo­re typi­scher­wei­se in Form von nega­ti­ven Sym­pto­men äußern – Depres­si­on, Angst­zu­stän­de, Antriebs­ar­mut, emo­tio­na­le Abstump­fung, Ein­engung des Inter­es­ses –, gebe es auch „gut doku­men­tier­te Rei­hen” von fron­ta­len Raum­for­de­run­gen, „die sich als Manie präsentieren“.

Ein gro­ßer, lang­sam wach­sen­der fron­ta­ler Tumor tau­ge durch­aus als Erklä­rung für Nietz­sches rechts­sei­ti­ge Stirn­kopf­schmer­zen, den Pupil­len­de­fekt und den Ver­lust der Seh­schär­fe im rech­ten Auge. „Ein Schä­del­ba­sis­tu­mor könn­te groß genug wer­den, um psych­ia­tri­sche Sym­pto­me, ein­schließ­lich Manie, zu ver­ur­sa­chen, und könn­te auch für die emo­tio­na­le Labi­li­tät, Depres­si­on und Abu­lie ver­ant­wort­lich sein, die Nietz­sche zwei Jah­re nach sei­ner mani­schen Prä­sen­ta­ti­on ent­wi­ckel­te und bis zu sei­nem Tod bei­be­hielt.” Es kön­ne aber nicht über­ra­schen, dass die Bedeu­tung die­ser Befun­de zum Zeit­punkt von Nietz­sches Ein­lie­fe­rung in die Psych­ia­trie im Jahr 1889 nicht erkannt wurde.

Die­se Hypo­the­se sei sogar über­prüf­bar, schließt der Auf­satz. Ein Tumor, der groß genug war, um Nietz­sches Sym­pto­me zu erklä­ren, müs­se blei­ben­de Spu­ren ent­lang der Schä­del­ba­sis hin­ter­las­sen haben und könn­te durch Rönt­gen­un­ter­su­chun­gen des Schä­dels nach­ge­wie­sen werden.

Peter Gast, der Inti­mus des Phi­lo­so­phen, schrieb am 13. Janu­ar 1889 in einem Brief: „Nun, für Den, der Nietz­sches Zie­le nicht kann­te, muß­te das Cre­scen­do sei­nes Selbst­ge­fühls etwas Bedenk­li­ches, ja Unheim­li­ches haben. Aber Nietz­sche hat­te das Recht zum ‚Grö­ßen­wahn’. Das schau­er­li­che Fak­tum ist nur, daß Nietz­sches Gehirn im letz­ten Halb­jahr so über alle mensch­li­chen Begrif­fe arbei­te­te, daß jeden­falls eine Erschöp­fung der Ver­nunft ein­ge­tre­ten ist, und gro­ße Emp­fin­dung und regu­lie­ren­de Ver­nunft ein­an­der nun nicht mehr die Waa­ge halten.”

Dane­ben ist ein Hirn­tu­mor natür­lich prosaisch.

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Noch zum Vori­gen und apro­pos pro­sa­isch. Als Geis­tes­mensch liest man die psych­ia­tri­sche Kran­ken­ak­te Nietz­sches mir Erschüt­te­rung. Dar­in ste­hen Sät­ze wie „Nietz­sche trinkt Urin aus sei­nem Schuh”, „Nietz­sche schmiert mit Kot”. Anfangs erin­nert er sich noch dar­an, dass er frü­her ein­mal Bücher geschrie­ben hat. Fran­zis­ka Nietz­sche, die Mut­ter, die den Umnach­te­ten abholt, schil­dert einen üblen Aus­bruch wäh­rend einer Bahn­fahrt von Basel nach Jena. Sie fürch­tet sich vor sei­nem „fla­ckern­den Blick“ und sei­nem plötz­lich wie­der­holt aus­bre­chen­den Exhi­bi­tio­nis­mus. Immer wie­der zeigt Nietz­sche sich nackt und fan­ta­siert von „vie­len Wei­bern“. Die Dio­ny­sos-Dithy­ram­ben waren das Letz­te, das er bei wachem Bewusst­sein schrieb. Nun, so scheint es, stellt er sie nach.

Die Mut­ter ist Pas­to­ren­wit­we. Ihr Sohn, der sich jetzt ent­blößt und wil­de Schreie aus­stößt, hat­te in sei­nem frü­he­ren Leben ver­kün­det, dass Gott tot sei und woll­te den Gekreu­zig­ten gegen Dio­ny­sos aus­tau­schen. Sie hat kei­ne Vor­stel­lung und kei­ne Ahnung davon, wel­cher Sturm durch die­sen Kopf getobt ist. Aber sie hat ihr Kind wie­der – –

 

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