Das meint der Leser (mit Reaktionen)

Zur Ent­schei­dung des Thü­rin­gi­schen Ver­fas­sungs­ge­richts schreibt Leser ***: „Die klei­ne Mühe, die man für die Lek­tü­re der 36 Sei­ten benö­tigt, auf denen das Thü­rin­gi­sche Ver­fas­sungs­ge­richt die Grün­de für sei­nen Beschluss dar­ge­legt hat, schei­nen Sie sich bis­her noch nicht gemacht zu haben, sonst wür­den Ihnen Urtei­le wie: ‚Poli­ti­sche Macht sticht am Ende immer das Recht’ und ‚Es gibt kein Gesetz, das nicht der jewei­li­gen Poli­tik ange­passt wer­den könn­te’ nicht so leicht aus der Feder flie­ßen.* Sicher­lich gibt es vie­le Bei­spie­le, in denen das Recht Wachs in den Hän­den will­fäh­ri­ger Rich­ter war – der Thü­rin­ger Beschluss ist nun aber gera­de kei­nes, auch wenn es viel­leicht so aus­sieht, als hät­ten die Rich­ter der Macht der Alt­par­tei­en nach­ge­ge­ben und pas­send gemacht, was nach demo­kra­ti­schen Maß­stä­ben nicht pas­send war.
Viel­leicht kann man das Pro­blem im Erfur­ter Land­tag so beschrei­ben: Die Mehr­heit des Par­la­ments for­der­te eine Ände­rung der Geschäfts­ord­nung, die das (nach der Mei­nung der AfD) aber erst erlaubt, wenn sie soweit durch­ge­führt wor­den ist, dass der Ände­rungs­an­trag kei­nen Sinn mehr macht, weil in der Durch­füh­rung genau die Tat­sa­chen geschaf­fen wer­den, die der Ände­rungs­an­trag gera­de ver­hin­dern will (natür­lich wäre die AfD-Kan­di­da­tin den­noch nie­mals ‚aus der Mit­te des Par­la­ments’ zur Land­tags­prä­si­den­tin gewählt wor­den). Des­we­gen soll­te über die Ände­rung der Geschäfts­ord­nung nach Mei­nung der Antrag­stel­ler sogleich nach der Fest­stel­lung der Beschluss­fä­hig­keit und vor der Wahl des neu­en Land­tags­prä­si­den­ten ent­schie­den werden.
Die Rich­ter haben die besag­ten 36 Sei­ten gebraucht, um ihre Ent­schei­dung zu begrün­den, ihre Argu­men­ta­ti­on ist ein Lehr­stück fei­ner Abwä­gung, bei der zwi­schen Recht und Brauch, Par­la­ments­au­to­no­mie und Ver­bind­lich­keit von demo­kra­ti­schen Gepflo­gen­hei­ten sau­ber zu unter­schei­den war. Im Ergeb­nis wird der AfD das frag­li­che Vor­schlags­recht abge­spro­chen, und zwar ohne dass die Begrün­dung hier­für auch nur in die Nähe zu ver­fas­sungs­recht­li­chen Spitz­fin­dig­kei­ten gera­ten wür­de. Die Rich­ter stär­ken mit ihrer Ent­schei­dung ledig­lich das Par­la­ment gegen die Ver­ab­so­lu­tie­rung einer Kon­ven­ti­on, die sich ver­fas­sungs­recht­lich nicht legi­ti­mie­ren lässt, zumin­dest dann nicht, wenn die Macht­voll­kom­men­heit des Par­la­ments als höchs­ter demo­kra­ti­scher Wert gesi­chert wer­den soll.
Wes­halb soll­te ein Par­la­ment bei sei­ner kon­sti­tu­ie­ren­den Sit­zung die Arbeits- und Beschluss­fä­hig­keit erst dann erlangt haben, wenn der neue Land­tags­prä­si­dent gewählt ist? Kann es vor­her nicht über Anträ­ge zur Geschäfts­ord­nung, die den wei­te­ren Gang der Arbeit regelt, abstim­men? Wes­halb soll­te die­se Geschäfts­ord­nungs­au­to­no­mie des sich neu kon­sti­tu­ie­ren­den Par­la­ments durch eine aus der abge­lau­fe­nen Legis­la­tur­pe­ri­ode über­kom­me­ne Geschäfts­ord­nung ein­ge­schränkt wer­den? Und wes­halb soll­te der Alters­prä­si­dent (der nur durch sein Alter und nicht durch Wahl in sein die­nen­des Amt gekom­men ist) und nicht das Par­la­ment selbst dar­über befinden?
Geschäfts­ord­nun­gen sind immer Selbst­fess­lun­gen, jedes neu gewähl­te Par­la­ment soll aber über die Form der Selbst­fess­lung selbst ent­schei­den dür­fen! Das ist der ver­fas­sungs­recht­li­che Grund­satz der Dis­kon­ti­nui­tät, nach dem ein Par­la­ment kei­ne Rege­lun­gen tref­fen kann, die über sei­ne eige­ne Exis­tenz hinausgehen.
Ver­fas­sungs­recht­lich ist die Ent­schei­dung aus­ge­spro­chen plau­si­bel. Span­nend ist, dass das Ver­fas­sungs­recht hier gegen das demo­kra­ti­sche Her­kom­men zur Gel­tung gebracht wird. Was über Jahr­zehn­te gän­gi­ge Pra­xis war, erscheint nun im Lich­te des Urteils als Ein­schrän­kung der Par­la­ments­au­to­no­mie, was aber sonst kei­nem auf­ge­fal­len ist, weil ein Grund­kon­sens dafür sorg­te, dass die­se Ein­schrän­kung nicht fühl­bar wur­de. Sie war nicht mehr und nicht weni­ger als eine Abkür­zung auf dem Weg zur Arbeits­fä­hig­keit des neu­en Par­la­ments – und sie war eine demo­kra­ti­sche Ges­te: die stärks­te Frak­ti­on soll den Prä­si­den­ten stellen.
Die poli­ti­sche Ver­fein­dung (oder bes­ser: das alber­ne Brand­mau­er­ge­ha­be) hat die­ser Pra­xis nun ein Ende bereitet.
Die Rich­ter haben ange­sichts die­ser Situa­ti­on nur die Auto­no­mie des Par­la­ments gegen­über einem guten demo­kra­ti­schen Brauch gestärkt. Ihnen wird klar gewe­sen sein, dass sie sich damit den Vor­wurf poli­ti­scher Will­fäh­rig­keit ein­han­deln. Tat­säch­lich hat die Ent­schei­dung poli­tisch ja ein Geschmäck­le, immer­hin mar­kiert sie einen Bruch mit dem par­la­men­ta­ri­schen Her­kom­men auf Kos­ten des Wahl­sie­gers. Bei der Lek­tü­re der 36 Sei­ten ent­steht aber der Ein­druck, dass die Rich­ter ihre Ent­schei­dung streng aus ver­fas­sungs­recht­li­chen Nor­men abge­lei­tet haben, ohne auf den poli­ti­schen Effekt zu schau­en. Das Recht folg­te also nicht der Macht, son­dern sich selbst. Wie­so soll­te man das nicht auch ein­mal aner­ken­nen? Alles ande­re ist in die­sem Fall Bor­niert­heit oder, was das­sel­be ist, der Gebrauch von Denkschablonen.”
* Mei­ne Bemer­kun­gen waren gene­rel­ler gemeint, als hier der Anschein ent­ste­hen könn­te, wovon sich jeder Besu­cher des klei­nen Eck­la­dens durch die Lek­tü­re des Ein­trags vom 28. Sep­tem­ber über­zeu­gen mag.
***
Zu die­ser Dar­stel­lung, die „zunächst recht schlüs­sig-objek­tiv klingt”, sen­det Leser *** den Hin­weis auf einen Arti­kel bei sci­ence­files, „der, eben­so schlüs­sig, zu einer genau gegen­tei­li­gen Betrach­tung kommt”.
Kern­satz: „Wie kann ein Natur­zu­stand ohne Tages­ord­nung eine Tages­ord­nung haben? Juris­ten, die die­sen ekla­tan­ten Wider­spruch ihrer eige­nen Argu­men­ta­ti­on nicht bemer­ken, sind nicht wirk­lich trag­bar. Viel­leicht wäre das Regis­ter­ge­richt eines belie­bi­gen Amts­ge­richts ein Ort, an dem man den von ihnen ange­rich­te­ten Scha­den in Gren­zen hal­ten kann.”
Leser *** indes meint: „Prin­zi­pi­ell hat der zitier­te Leser Recht. Es gibt trotz­dem zwei Din­ge, die bei der Betrach­tung ‚auf­sto­ßen’. Zum einen die Geschwin­dig­keit, mit der gehan­delt wur­de. Für deut­sche Gerich­te ein­fach phan­tas­tisch. Wird wohl als best prac­tis ein­ge­hen. Knapp 48 h (?) für Antrag for­mu­lie­ren, schrei­ben, ein­wer­fen, lesen, alle Rich­ter auf einen Ter­min brin­gen, eine gemein­sa­me Mei­nung bil­den, die­se mit Zita­ten unter­set­zen, das Urteil schrei­ben, gegen­zeich­nen und zustel­len (was ver­ges­sen?). Da werd ich im letz­ten Monat im öffent­li­chen Dienst rich­tig nei­disch – hab ich jah­re­lang versucht.
Zum ande­ren: Gilt die Ent­schei­dung jetzt bun­des­weit? Nur für Thü­rin­gen? Tem­po­rär? Egal. Haupt­sa­che die Mau­er steht. Die seh ich übri­gens posi­tiv. Die Erbau­er sind drin und kom­men nicht mehr raus.”

Leser *** wie­der­um ver­weist auf „die Ein­deu­tig­keit der gel­ten­den Geschäfts­ord­nung des Thü­rin­ger Land­tags”, nämlich:

„I. Kon­sti­tu­ie­rung
§ 1 Ers­te Sit­zung des Landtags
(1) Der Land­tag tritt spä­tes­tens am 30. Tage nach der Wahl zusam­men. Zu der ers­ten Sit­zung wird der Land­tag von der bis­he­ri­gen Prä­si­den­tin bezie­hungs­wei­se dem bis­he­ri­gen Prä­si­den­ten einberufen.
(2) Die ers­te Sit­zung des Land­tags lei­tet das an Jah­ren ältes­te oder, wenn es ablehnt, das jeweils nächst­äl­tes­te Mit­glied des Land­tags, bis die neu gewähl­te Prä­si­den­tin bezie­hungs­wei­se der neu gewähl­te Prä­si­dent oder deren Stell­ver­tre­tung das Amt übernimmt.
(3) Die Alters­prä­si­den­tin bezie­hungs­wei­se der Alters­prä­si­dent ernennt zwei Abge­ord­ne­te zu vor­läu­fi­gen Schrift­füh­re­rin­nen bezie­hungs­wei­se Schrift­füh­rern und lässt die Namen der Abge­ord­ne­ten aufrufen.
(4) Nach Fest­stel­lung der Beschluss­fä­hig­keit wählt der Land­tag die Prä­si­den­tin bezie­hungs­wei­se den Prä­si­den­ten, die Vize­prä­si­den­tin­nen bezie­hungs­wei­se Vize­prä­si­den­ten und 18 Schrift­füh­re­rin­nen und Schrift­füh­rer und bil­det einen Peti­ti­ons­aus­schuss nach § 70 a.”
Kla­rer, so Leser ***, kön­ne „der Pro­zess der Kon­sti­tu­ie­rung eines neu­en Par­la­ments, dem Herr Treut­ler völ­lig kor­rekt Fol­ge leis­ten woll­te, nicht beschrie­ben wer­den. Die eben­so ein­deu­ti­ge For­mu­lie­rung des Art. 16a GG, der (auch hier gilt ‚auf­be­wah­ren für alle Zeit’), seit dem 04.09.2015 mil­lio­nen­fach igno­riert wur­de (ein Gut­ach­ten der Wis­sen­schaft­li­chen Diens­te des Bun­des­tags hat dies bestä­tigt), lässt grüßen.
Deutsch­land ist für mich seit dem 28.09.2024 end­gül­tig auf das Niveau von Unrechts­staa­ten abge­sackt, man fühlt sich an Augus­ti­nus von Hip­pos Satz ‚Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch ande­res als eine gro­ße Räu­ber­ban­de’ erinnert.”
***
Ich betei­li­ge mich nicht etwa des­halb nicht an der Debat­te, weil ich kein Jurist bin – Rechts­tex­te sind Tex­te wie ande­re auch und jedem intel­li­gen­ten Men­schen zugäng­lich –, son­dern weil ich mei­nen Glau­ben an den Rechts­staat inzwi­schen für naiv hal­te. Die Juris­te­rei ist kei­ne exak­te Wis­sen­schaft, son­dern kaum stich­hal­ti­ger als die Theo­lo­gie, was die wider­sprüch­li­chen Ansich­ten zum Thü­rin­ger Ver­fas­sungs­rich­ter­spruch ein­mal mehr bewei­sen. Auf See und vor Gericht bist du in Got­tes Hand, sagt der klu­ge Volks­mund. Um es sen­ten­zi­ös zu for­mu­lie­ren: Ob Recht herrscht, ent­schei­den nicht die Geset­ze, son­dern Fried­rich der Gro­ße. So bit­te ich auch mei­ne vom ers­ten Leser gerüf­fel­te Bemer­kung zu ver­ste­hen. Die Recht­spre­chung folgt den Macht­ver­hält­nis­sen und dem Zeit­geist, weil sie von Men­schen bewerk­stel­ligt wird. Eine neue Gene­ra­ti­on Juris­ten, erzo­gen durch eine neue Gene­ra­ti­on von Leh­rern und Pro­fes­so­ren, schafft auf der Grund­la­ge der­sel­ben Geset­zes­tex­te eine neue Rechts­la­ge. Wir brau­chen gar kein Grund­ge­setz – das hat man in den Coro­na­jah­ren gese­hen, und man wird es in den Kli­ma­ret­tungs­de­ka­den erst recht begrei­fen –, die DDR-Ver­fas­sung wür­de völ­lig genü­gen. Sogar für einen Rechts­staat übrigens.
Die Poli­tik ist das Schick­sal, sag­te Napo­le­on, und er hat­te lei­der recht.
PS: Ich lese gera­de, dass die SPD eine Migran­ten­quo­te bei Beam­ten und Rich­tern fest­le­gen will, was klar ver­fas­sungs­wid­rig wäre, weil laut GG zu einem öffent­li­chen Amt jeder Deut­sche den glei­chen Zugang haben muss; mal sehen, was rote Win­kel­ad­vo­ka­ten und grü­ne Jus­tiz­schlan­gen­men­schen zur Begrün­dung die­ses ver­fas­sungs­wid­ri­gen und womög­lich auch ‑feind­li­chen Plans an Argu­men­ten herbeiwuchten.
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