„Whataboutism ist die Anwendung der Komparatistik entgegen dem Willen des Hegemons.”
(Leser ***)
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Ist der radikale Islam, den man hierzulande, in der von den Ismen bevorzugten Weltgegend, den „Islamismus” nennt, rechts oder links?
Mir fällt zu dieser Frage spontan der alte Witz mit permanent austauschbarem Personal (und Ort) ein, welcher derzeit zum Beispiel lauten könnte:
Wenn die umstrittenen Grünen-Politiker Anton Hofreiter und Robert Habeck – beinahe hätte ich Ricarda Lang (wie breit) geschrieben und wäre verklagt worden, puh! – zugleich vom Berliner Fernsehturm sprängen, wer käme als erster unten an?
Ist das nicht egal?
Ist es nicht ebenso egal, in welche der beiden Schubladen der radikale Islam gehört? Ich meine, nein. Neuerdings wollen uns die Linken einreden, dass die Schwefelpartei und die „Islamisten” praktisch am selben uralt-vergammelten Holz wüchsen; man findet genug Beispiele auf X. Das übliche Framing also, mit welchem man die AfD einerseits für gefährlich erklären und ihr zugleich die Legitimation zur Islamkritik absprechen will, die stattdessen – niemand übernimmt.
Die Frage kam mir wieder in den Sinn, als ich auf X diese Postings sah.
Am 10. Januar 2015, drei Tage nach dem Anschlag auf die Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo, versuchte ich, im Rahmen meiner limitierten Möglichkeiten zu begründen, warum ich den radikalen Islam eher für links als für rechts halte, oder, um es ganz konkret zu formulieren: für eine Spielart des Bolschewismus und nicht des Faschismus. Da ich bislang noch nichts Gescheiteres zu dieser Frage gelesen habe, rücke ich den Text hier ein.
„Daniel Cohn-Bendit hat die Attentäter von Paris aus einem offenbar tiefverwurzelten Reflex heraus als ‚Faschisten’ bezeichnet. Damit lieferte er zwar keine brauchbare Erklärung der Bluttat, brachte aber eine Zeit in Erinnerung, wo nahezu alles ‚faschistisch’ (oder ‚faschistoid’) geheißen wurde, was nicht der schrankenlosen und insonderheit sexuellen Selbstverwirklichung der ihrer restlosen Befreiung entgegenstrebenden Erdenkinder eilends den Weg frei machte: der Staat, die Polizei, die Kirche, die repressiven Gesellschaftsstrukturen, der bürgerlich-autoritäre Charakter, das Patriarchat, die Familie, Hierarchien, Klotüren und die ‚Betreten verboten!’-Schilder vor öffentlichen Rasenflächen. Alles Böse war faschistisch.
Aber ist der radikale Islamismus ein ‚Faschismus’? Immerhin spricht auch der deutsch-ägypische Autor Hamed Abdel-Samad, ein Kritiker des politischen Islam und ehemaliger Muslimbruder, in seinem aktuellen Buch vom ‚islamischen Faschismus’, und vor ihm haben, besonders nach dem 11. September 2001, aber vereinzelt auch schon im Zusammenhang mit Chomeinis Gottesstaat, verschiedene Publizisten und sogar der weltweise George W. Bush einen ‚Islamo-Faschismus’ ins rhetorische Spiel gebracht.
Ich halte diese Wortwahl für verfehlt. Es handelt sich um ein Kraftwort, das Aufsehen machen und eine gewisse Hilflosigkeit bei der Deutung von Gewaltphänomenen überspielen soll. Wir meinen es ernst mit unserer Verurteilung, soll das heißen; diese Figuren sind wirklich und wahrhaftig böse, so böse, dass wir sie sogar mit dem Allerbösesten, das die Welt je gesehen hat, in Verbindung bringen. Zugleich vernebeln wir ein bisschen, dass es ein Importproblem ist, indem wir ein originär europäisches Etikett draufkleben.
Der Islamismus ist eine Kriegserklärung nicht nur an die westliche Welt, ihre Lebensart und ihre Wertvorstellungen im Allgemeinen, sondern auch an die Reste jener bürgerlichen Gesellschaft, die der historische Faschismus gegen den kollektivistischen Sturmlauf der radikalen Linken zu retten versuchte. Strenggenommen gibt es den Faschismus ja nur ‚in seiner Epoche’ (Ernst Nolte), und die währte von 1919 (oder meinetwegen auch 1915) bis 1945. Eine darüber hinausgehende Verwendung des Begriffes ist stets mehr Metapher, Kraftwort oder Denunziation als Deutung. Vor allem stimmt beim Islamismus die Richtung der Aggression nicht mit der faschistischen überein. Zwar ist der Islamismus ebenso reaktiv, wie der Faschismus es war (der Begriff des ‚Antifaschismus’ hat das erfolgreich verschleiert), aber der Islamismus kämpft gewissermaßen ‚von unten’, der Faschismus dagegen ‚von oben’. Die Islamisten sind eigentlich die Avantgardisten eines potentiellen Emanzipationskollektivs, die sich zum Amoklauf entschlossen haben, weil ihnen die Herrenwelt mit allen ihren Regeln und Wertvorstellungen nicht passt oder nicht zugänglich ist, während die Faschisten jener Herrenwelt angehörten, und sei es nur als Dienstboten, und sie um jeden Preis verteidigen wollten (ich rede hier vom Faschismus; der Nationalsozialismus ist wegen der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg ein spezieller Fall).
Wenn der Faschismus-Begriff überhaupt in der Gegenwart einen Sinn haben soll, folgt man am besten der prägnanten Definition, Faschismus sei die bürgerliche Gesellschaft im Belagerungszustand. Sekundärphänomene wie Führerprinzip, Gewaltkult, Rassismus, Antisemitismus, Erhebung des Kollektivs über den Einzelnen nach innen und über alle anderen Kollektive nach außen sind daneben bloß sozusagen Uniformfarben. Wenn der Faschismus im Sinne dieser Definition eine Zukunft hat, dann als Eurofaschismus, als Selbsterhaltungsextremismus, das heißt, er wäre genauso reaktiv, aber defensiver als das Original. Vor allem wäre er deutlich harmloser, auf technische Mittel und Auxiliarkräfte angewiesen, weil sein Trägerkollektiv überwiegend aus Senioren bestünde. Vergessen wir ihn.
Der Islamismus ließe sich, wenn man denn unbedingt einen Terminus aus unserer Weltgegend verwenden will, wahrscheinlich besser als Islamobolschewismus charakterisieren, denn er ist ein Aufstand der historisch Abgehängten, Zukurzgekommenen und dabei zugleich von einer Heilsidee Durchglühten, eine von Kadern geführte Bewegung, die die Massen erfassen und in eine phantastische, vormoderne Märchenwelt hinein emanzipieren oder sogar erlösen will. Sie verheißt die Befreiung des revolutionären, durch die Idee rein gewordenen Kollektivs aus den Banden von Fremdbestimmung und Dekadenz, und sie nimmt tendenziell jeden auf, der bereit ist, ihr beizutreten und das Glaubenbekenntnis zu sprechen. Ihre Vertreter träumen von der Weltrevolution, von der Errichtung einer paradiesischen Globalkommune der Gleichen unterm grünen statt roten Banner. Offenbar ist diese solidarische Gemeinschaft der Kämpfenden und von einer gerechten Mission Erfüllten, diese Kommune der auserwählten Reinen, die mit der bisherigen, abgelebten, durch und durch verdorbenen Welt Schluss machen will, etwas, das auf viele junge Männer eine enorme Anziehungskraft ausübt.
Eine Pointe? Nein, ich weiß keine. Vielleicht nur die, dass sich die Reinheitszwangsvorstellungen sogar über den Tod hinaus erstrecken, bis ins verheißene Paradies, wo bekanntlich um die 70 Jungfrauen des im Kampf gefallenen Märtyrers ergebenst harren. Also für mich wäre das nichts (und hier trennen sich auch die Wege der Bolschewiken und Dschihadisten). Was für ein grauenhafter Stress, 70 unbefleckte Maiden in die Liebeskunst einzuführen! Wozu erst ein Martyrium erdulden, wenn danach gleich das nächste folgt?”
Ein thesenstützendes Zitat will ich noch herbeistemmen:
„Erst die von der kapitalistischen Sklaverei, von den ungezählten Greueln, Brutalitäten, Widersinnigkeiten und Gemeinheiten der kapitalistischen Ausbeutung befreiten Menschen (werden) sich nach und nach gewöhnen, die elementaren, von alters her bekannten und seit Jahrtausenden in allen Vorschriften gepredigten Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens einzuhalten.“
Hat das Chomeini gesagt oder Bin Laden? Oder doch Lenin?
Der Passus steht in „Staat und Revolution“.
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Leser *** meldet Widerspruch gegen meine Interpretation an: „Für mich als Philosophen stellt sich meist nicht die Frage gesellschaftlicher Bedeutung von Worten, vielmehr jene nach dem Wortsinne selbst, da die deutsche Sprache (wie das Sanskrit) als Sprache der Philosophen ohnehin dazu neigt, die Wahrheit offenzulegen.