5. September 2024

Wenn man Exis­ten­zen wie Judith But­ler oder Jür­gen Haber­mas nicht mehr als „Phi­lo­so­phen” – oder wie auch immer man ihre Pro­fes­si­on nen­nen mag –, son­dern als Geschäfts­leu­te betrach­tet, wir­ken sie auf ein­mal voll­kom­men plausibel.

***

Demo­kra­tie, ich will dich prei­sen, eins.

Demo­kra­tie, ich will dich prei­sen, zwei.

(Zur Erin­ne­rung: Die hät­ten zusam­men 35 Pro­zent, für CDU und AfD votier­ten 56,4 Pro­zent der Wähler.)

Demo­kra­tie, ich will dich prei­sen, drei.

(Dann hät­ten sie die Mehrheit.)

Demo­kra­tie, ich will dich prei­sen, vier.

Demo­kra­tie, ich will dich prei­sen, fünf.

Demo­kra­tie, ich will dich prei­sen, sechs.

(Sie­he zur Erklä­rung: Punkt eins.)

Demo­kra­tie, ich will dich prei­sen, Zusatzzahl.

Wer hät­te die­sen schnei­di­gen und gut­ge­nähr­ten Wider­stands­kämp­fer nicht gern an sei­ner Sei­te beim Aus-dem-Fenster-Lehnen?

PS: Irgend­was hat unse­re Ricar­da da wohl losgetreten.

Wohl­ge­ra­ten­heit und Unse­re­de­mo­kra­tie hän­gen so fest zusam­men wie Gesin­nung und Brotkorb.

***

Demo­kra­tie, ich will dich prei­sen, Appendix.

Zitat Bild: „In Schles­wig-Hol­stein wer­den ab die­sem Schul­jahr, das am Mon­tag gestar­tet ist, in Deutsch kei­ne Recht­schreib­feh­ler mehr gezählt! Laut Minis­te­ri­um ist es das letz­te Bun­des­land, das die­se Reform umsetzt.”

Damit zieht die Viel­falt end­lich auch in die ste­reo­ty­pe Ortho­gra­phie und die faschis­ti­sche Gram­ma­tik ein.

PS. Leser *** zürnt: „Ich lese ihre acta ger­ne, aber manch­mal ver­lei­det es einem die Freu­de. Das da z.B. ist völ­li­ger Unsinn, der mit dem tat­säch­lich Gesche­he­nen nicht viel gemein­sam hat. ‚Man merkt die Absicht und ist ver­stimmt!’ Ich bin schon gespannt ob sie die Fähig­keit besit­zen sich für Feh­ler zu ent­schul­di­gen.” (Die bei­den feh­len­den Kom­mas wer­den nur für eins gezählt.)

Huch, bin ich einer Bild-Ente auf den Leim gegan­gen? Man muss genau dif­fe­ren­zie­ren: Spre­chen und schrei­ben die Schü­ler immer schlech­ter oder so schlecht wie immer? Schau­en wir hin.

„Anstel­le eines Feh­ler­quo­ti­en­ten, bei dem sich die Note aus der Zahl unrich­ti­ger Wör­ter oder feh­ler­haf­ter Zei­chen­set­zung ergibt, erfolgt künf­tig eine ‚qua­li­ta­ti­ve Rück­mel­dung’ ”, erklärt Bild. „Die­se soll sich eher auf die Feh­ler­ty­pen als aus­schließ­lich auf die Häu­fig­keit kon­zen­trie­ren. (…) Anhand von soge­nann­ten Beur­tei­lungs­bö­gen wird die Leis­tung in Recht­schrei­bung wei­ter gemes­sen – im klas­si­schen Noten­rah­men! Aus­zug: ’sehr gut’ ist, wer ‚kei­ne nen­nens­wer­ten Ver­stö­ße gegen ortho­gra­fi­sche Regeln, kei­ne gram­ma­ti­schen Feh­ler und durch­weg siche­re Beherr­schung der Zei­chen­set­zung’ nach­weist. Also einen ‚kor­rekt ver­fass­ten Text’.”

Danach zitiert die Gazet­te die Pro­fes­so­rin Susan­ne Lin-Klitzing, Vor­sit­zen­de des Deut­schen Phi­lo­lo­gen­ver­bands, die nicht ganz ein­ver­stan­den mit der Ände­rung ist, denn: „Eine gänz­li­che Abschaf­fung des Feh­ler­quo­ti­en­ten hal­te ich für das fal­sche Signal. Denn er zeigt bei­spiels­wei­se auf, wie flüch­tig jemand gear­bei­tet hat. Der Ver­zicht auf die­ses Instru­ment ver­mit­telt den Ein­druck, es sei egal, ob ein Wort rich­tig oder falsch geschrie­ben ist.“

Auf einer loka­len Web­sei­te heißt es: „Die Recht­schrei­bung wur­de nicht abge­schafft, son­dern die Art, wie Recht­schreib­feh­ler bewer­tet wer­den, soll geän­dert wer­den. Das Bun­des­land ist mit die­sem Schritt laut Medi­en­be­rich­ten nicht das ers­te, son­dern das vor­letz­te in Deutsch­land.” Statt das Ver­hält­nis von geschrie­be­nen Wör­tern zu Feh­lern zu errech­nen, wer­de künf­tig ein „Ana­ly­se­bo­gen” ein­ge­setzt, durch den Schü­ler eine „qua­li­ta­ti­ve Rück­mel­dung über Feh­ler­schwer­punk­te und über die Sys­te­ma­tik ihrer Feh­ler“ erhal­ten. Schles­wig-Hol­steins Schul­mi­nis­te­rin wird zitiert mit den Wor­ten: „Unab­hän­gig davon bleibt die Bewer­tung der Recht­schrei­bung und Zei­chen­set­zung wei­ter­hin wich­ti­ger Bestand­teil der Note.“

Die Bild-Über­schrift ist kor­rekt. Es han­delt sich um eine Auf­wei­chung der Stan­dards. Der Leh­rer schätzt ein. Aber mein Kom­men­tar war völ­lig über­zo­gen. Auch die bei­den Kreb­se Ortho­gra­phie und Gram­ma­tik wer­den sehr lang­sam gekocht.

***

Nicht nur ich prei­se die Demo­kra­tie. Auch die DKB Bank stimmt ein. Die­ses Schrei­ben erhielt der thü­rin­gi­sche Land­tags­abg­ord­ne­te Sascha Schlös­ser, Schwe­fel­par­tei, nach sei­ner Wahl.

Die Nazi-Men­ta­li­tät auf Nazi-Suche, unbeirrt.

***

Immer die­se Sachsen.

(Irgend­wo im Erz­ge­bir­ge, zuge­sen­det von Leser ***.)

***

Das Phi­lo­so­phie Maga­zin – feh­len­de Bin­de­stri­che wer­den nicht mehr gezählt – stellt klar:

Der Text zusam­men­ge­fasst: Sie wol­len kei­ne Exo­ten sein, sie wol­len kein Mit­leid, und sie wol­len erst recht nicht ambi­tio­nier­ten Unver­sehr­ten als Vor­bil­der gel­ten, was sogar ein Krüp­pel alles leis­ten kann. Der Parasport, notiert das Maga­zin, sei „auch eine Mög­lich­keit, gegen die mit Behin­de­rung ver­bun­de­nen Ste­reo­ty­pen anzu­kämp­fen, die oft nur lei­den­de, ein­ge­schränk­te Kör­per zei­gen. Im Gegen­satz zu die­sen Bil­dern der Hyper­vul­nerabi­li­tät, die Mit­leid erre­gen, zei­gen auch die ver­schie­de­nen Dis­zi­pli­nen der Para­lym­pi­schen Spie­le Men­schen auf dem Höhe­punkt ihrer Fähig­kei­ten, die von einer begeis­ter­ten Men­ge getra­gen wer­den. Mit einem Wort: Zu sehen sind Hoch­leis­tungs­sport­ler und kei­ne ‚Super­hel­den’.”

Mag sein. Dafür spricht auch, dass es bei den Para­lym­pics seit eini­ger Zeit immer mal wie­der Doping­fäl­le gibt. Gleich­wohl emp­fin­de ich eine beson­de­re Hoch­ach­tung für die gehan­di­cap­ten Ath­le­ten, weil ich mir nicht aus­re­den las­se, dass sie für ihre Leis­tun­gen (noch) mehr lei­den müs­sen als nor­ma­le Spit­zen­sport­ler. (Nor­mal heißt übri­gens: der Norm ent­spre­chend; ein Ein­ar­mi­ger ent­spricht ihr nicht – das am Ran­de für Wortklauber.)

Ich habe hin und wie­der im Alpen­vor­land einen ein­bei­ni­gen Renn­rad­fah­rer getrof­fen – die Klick­pe­da­le machen die­se Art der Fort­be­we­gung mög­lich –, und wenn ich mir nur aus­ma­le, wie sich sei­ne Sitz­flä­che anfüh­len muss, weil der Mann ja nie­mals aus dem Sat­tel gehen kann und außer­dem der Druck des zwei­ten Bei­nes auf die Peda­le fehlt, der das auf dem Sat­tel las­ten­de Kör­per­ge­wicht min­dert, wie die Mus­ku­la­tur der ver­blie­be­nen Extre­mi­tät schmerzt, die, vor allem berg­auf, ohne ihr natür­li­ches Pen­dant pau­sen­los tre­ten und zie­hen muss, ganz abge­se­hen von der stän­di­gen Mög­lich­keit, ver­se­hent­lich auf die fal­sche Sei­te zu kip­pen, wo kein Fuß den Sturz auf­fan­gen kann, dann ist das ein ande­rer Sport.

Frei­lich bin ich, trotz aller Bewun­de­rung, nicht wil­lens, mir die­se Wett­kämp­fe anzu­schau­en, und zwar unge­fähr aus dem­sel­ben Grund, wes­halb ich mir kei­ne expres­sio­nis­ti­schen Maler in die Woh­nung hän­gen wür­de. Ich fin­de es nicht schön.

Die anti­ken Grie­chen hät­ten wohl kei­ne Para­lym­pics ver­an­stal­tet. (Die kit­zel­süch­ti­gen Römer schon eher, aber mit ande­rem Set­ting.)

Aber wie gesagt: Hoch­ach­tung vor den Leistungen.

***

Ein „Öster­rei­cher” namens Emrah I. ist heu­te, am Jah­res­tag des Olym­pia-Atten­tats von 1972, mit einer „Lang­waf­fe” nach Mün­chen gefah­ren und in der Nähe des israe­li­schen Kon­su­lats von der Poli­zei erschos­sen worden.

Immer­hin scheint er das Mes­ser­ver­bot von Nan­ny Fae­ser akzep­tiert zu haben.

***

Apro­pos.

In den Wahr­heits- und Qua­li­täts­me­di­en kom­men die Ange­hö­ri­gen deut­scher Opfer von impor­tier­ten Mes­ser­män­nern sel­ten – ich wür­de fast sagen: nie – zu Wort.

Wahr­schein­lich, weil feis­te Krum­bie­gels die Kanä­le verstopfen.

Oder weil sie nolens volens die Regie­rung dele­gi­ti­mie­ren könnten.

(Link)

***

Gegen den Wider­stand Ser­bi­ens hat die UN-Voll­ver­samm­lung das Mas­sa­ker von Sre­bre­ni­ca als „Völ­ker­mord” ein­ge­stuft und beschlos­sen, dass künf­tig welt­weit am 11. Juli an die­sen „Völ­ker­mord” erin­nert wer­den soll. Das geschah bereits im Mai ver­gan­ge­nen Jah­res; ich hat­te es nicht regis­triert. Die Reso­lu­ti­on hat­ten pikan­ter­wei­se Deutsch­land und Ruan­da eingebracht.

Haupt­säch­lich mit tür­ki­schen und EU-Gel­dern ist ein monu­men­ta­ler Gedenk­ort für die rund 8000 aus­schließ­lich männ­li­chen Opfer errich­tet wor­den. War­um die Ermor­dung von 8000 Män­nern ein „Völ­ker­mord” sein soll, kann nie­mand erklä­ren und wird nie­mand jemals erklä­ren kön­nen (bereits die Fra­ge wür­de den Ver­dacht näh­ren, sie sei von anti­mus­li­mi­schem Ras­sis­mus moti­viert). Die Aus­stel­lung am Gedenk­ort unter­schlägt voll­stän­dig, dass die ser­bi­sche Armee damals die Frau­en sowie fast alle Min­der­jäh­ri­gen ver­schon­te und dass die­sem Kriegs­ver­bre­chen über Jah­re hin­weg von bos­ni­schen Mus­li­men ver­üb­te Mas­sa­ker an Ser­ben vor­an­ge­gan­gen waren, in die­sem Fal­le die Ermor­dung von Frau­en und Kin­dern inbegriffen.

Die Tür­kei, die für die­se Ein­stu­fung des Mas­sa­kers als Völ­ker­mord trom­mel­te, ist bis heu­te der Ansicht, es habe 1915/16 kei­nen Völ­ker­mord an bis zu 1,5 Mil­lio­nen Arme­ni­ern gegeben.

***

Mei­ne Fra­ge, war­um in den ame­ri­ka­ni­schen Fil­men immer die Psy­cho­pa­then, Seri­en­mör­der und pro­ble­ma­ti­schen Cha­rak­te­re klas­si­sche Musik hören, beant­wor­tet Leser *** mit einem Hin­weis auf das 1944 in Über­see erschie­ne­ne Buch „What To Do With Ger­ma­ny” von Lou­is Nizer (1902–1994). Der New Yor­ker Anwalt aus jüdi­scher Fami­lie hat­te mit den Natio­nal­so­zia­lis­ten natur­ge­mäß eine spe­zi­el­le Rech­nung offen, was die Pla­ka­ti­vi­tät und auch Pri­mi­ti­vi­tät sei­nes Umer­zie­hungs­pro­pa­gan­da­tex­tes erklä­ren mag, wenn­gleich der sich neben dem bekann­ten Plan des Herrn Mor­genthau oder „Ger­ma­ny must be peri­sh” von Theo­do­re N. Kauf­man – dort kommt die appe­tit­li­che Idee in Vor­schlag, alle Deut­schen aus „Nie-wieder!”-Gründen zu ste­ri­li­sie­ren – schon wie­der dif­fe­ren­ziert ausnimmt.

Nizer iden­ti­fi­ziert – und das steht im Zusam­men­hang mit unse­rer Fra­ge – Richard Wag­ner als wich­ti­ge Inspi­ra­ti­ons­quel­le des Natio­nal­so­zia­lis­mus. „Die Kriegs­lust des deut­schen Vol­kes”, schreibt er, „besteht nicht nur aus einer Erobe­rungs­phi­lo­so­phie, son­dern auch aus einer Ras­sen­theo­rie, die sie recht­fer­tigt. Es gibt noch eine wei­te­re Zutat, die eine mys­ti­sche reli­giö­se Qua­li­tät ver­leiht und die poli­ti­sche Bewe­gung in einen fana­ti­schen heid­ni­schen Ritus ver­wan­delt.” Wag­ner habe die­se Zutat zwar nicht erfun­den, „aber er gab ihr eine attrak­ti­ve und belieb­te Form in bril­lan­ter Musik und Sto­ry. Für den Rest der Welt waren Wag­ners Opern ledig­lich künst­le­ri­sche Phan­ta­sien. Für die Deut­schen waren sie Rea­li­tät, wenn auch nur unbe­wusst.” Hit­ler selbst habe die her­aus­ra­gen­de Rol­le des Kom­po­nis­ten bei der For­mung sei­ner Welt­an­schau­ung bestätigt.

Der „Ring des Nibe­lun­gen”, schreibt Nizer, ent­hal­te alle mys­ti­schen, heid­ni­schen Ele­men­te der deut­schen Früh­ge­schich­te, die vom deut­schen Volk als sei­ne Bestim­mung ange­nom­men wur­den. „Wotan ist der typi­sche Füh­rer. Als Ober­haupt der alten ger­ma­ni­schen Göt­ter macht er sei­ne eige­nen Geset­ze und ist all­mäch­tig. Er ist stän­dig bestrebt, sei­ne Macht zu stei­gern. Wotan miss­ach­tet bewusst sei­ne Pak­te. (…) Er ver­lässt sich dar­auf, dass sein schlau­er Kanz­ler Loki ihn aus sei­nen Schwie­rig­kei­ten befreit. Goeb­bels könn­te sich durch­aus als den Loki von Wotan Hit­ler begrei­fen. Als Wotan Geld braucht, beschafft er es sich mit Gewalt. Er nimmt den Herr­scher der Nibe­lun­gen gefan­gen und erpresst von ihm Löse­geld. Den Juden wur­de von den Nazis die­se Rol­le zugewiesen.”

Um den Ring der Macht zurück­zu­er­obern, benutzt Wotan den hehrs­ten Hel­den der Welt, sei­nen eige­nen Enkel Sieg­fried. Sieg­fried tötet den Dra­chen, wird aber spä­ter von Hagen, einem „Lust­kind” – die­ses Sym­bol bezeich­ne die „Unrein­heit des Blu­tes”, ein übli­cher­wei­se den Juden zuge­schrie­be­nes Attri­but –, hin­ter­rücks getö­tet. Der „Stoß von hin­ten” sei  „ein wei­te­res Wag­ner-Kon­zept”, mit dem der Kom­po­nist die Dolch­stoß-Legen­de von 1918 vor­weg­ge­nom­men habe. „Deutsch­land, die­sem Sym­bol zufol­ge, kann nie­mals auf dem Schlacht­feld geschla­gen wer­den. Aber es muss eine Erklä­rung für die wie­der­hol­ten Nie­der­la­gen geben, und Wag­ner hat eine klas­si­sche Erklä­rung dafür konstruiert.” 

Wag­ner habe – neben Nietz­sche – den Weg berei­tet für die Außer­kraft­set­zung der jüdisch-christ­li­chen Moral und die Eta­blie­rung der Herrenmenschen-Ideologie.

„Die deut­sche Kriegs­lust beruht also nicht nur auf der fal­schen Tief­grün­dig­keit der Kriegs­phi­lo­so­phie und der Ras­sen­über­le­gen­heit, son­dern auch auf der Wie­der­be­le­bung heid­ni­scher Epen. Was zunächst ein grund­le­gen­der Kampf­in­stinkt war, blüh­te über phi­lo­so­phi­sche, wis­sen­schaft­li­che und dann mys­ti­sche Pha­sen zu einem voll­wer­ti­gen reli­gi­ös-poli­ti­schen Pro­gramm der Welt­erobe­rung auf.”

(Den gesam­ten Text kann, wer will, hier nachlesen).

Die­se The­se ist im Nach­kriegs­deutsch­land viel dis­ku­tiert und auch fla­tu­liert wor­den, am plum­pes­ten in Joa­chim Köh­lers Buch „Wag­ners Hit­ler”. Sie beruht auf Miss­ver­ständ­nis­sen, Halb­wahr­hei­ten und Fehl­deu­tun­gen Wag­ners (allein die Tat­sa­che, dass Wotan als „Füh­rer” gran­di­os schei­tert, spricht eine ande­re Spra­che; ich habe Wag­ners Moti­ve hier aus­führ­li­cher beschrie­ben), bei denen sich schwer tren­nen lässt, was von den Natio­nal­so­zia­lis­ten und „den” Deut­schen wäh­rend der NS-Zeit tat­säch­lich geglaubt wur­de und was nach­träg­lich hin­ein­in­ter­pre­tiert wur­de.  Aber wir müs­sen zurück­keh­ren zur Ein­gangs­fra­ge, und dazu schreibt Leser *** nun:

„Die The­se dürf­te zusam­men­ge­fasst lau­ten, dass sich aus Tra­di­ti­on und Kul­tur eine Form von Über­le­gen­heit ablei­ten lässt. Des­halb ist es eine ziel­füh­ren­de Stra­te­gie, ein­fach alles abzu­rei­ßen, die Städ­te, die Kunst, die Musik, die Tra­di­tio­nen, ein­fach alles. Wenn man aus dem Fens­ter schaut und nur noch Beton sieht, wenn Skulp­tu­ren wie Sperr­müll wir­ken, wenn Exkre­men­te im Muse­um aus­ge­stellt wer­den (Mer­da d’Ar­tis­ta) und wenn Musik kei­ne Melo­dien mehr erken­nen lässt, kommt in Deutsch­land garan­tiert kein Jog­ging­ho­sen­trä­ger mehr auf fal­sche Ideen und glaubt, er sei etwas bes­se­res. Da Wag­ner mit sei­nen Wer­ken eine Ver­bin­dung zwi­schen Hel­den­sa­gen und der deut­schen Geschich­te her­ge­stellt hat, ist er als natio­na­ler Pro­pa­gan­dist als Ers­ter aus dem öffent­li­chen Raum zu entfernen.

Das ist die Ant­wort auf Ihre Fra­ge in die Run­de. Dik­ta­to­ren, Super­bö­se­wich­te und sons­ti­ge Hol­ly­wood-Ziel­per­so­nen für Atten­ta­te hören klas­si­sche Musik, weil sie dar­aus ihre Über­le­gen­heit ablei­ten, nicht unbe­dingt die eige­ne, aber zumin­dest die Über­le­gen­heit ihres Vol­kes. Wer klas­si­sche Musik hört, ist qua­si ein Ras­sist. Da Hol­ly­wood nur eine Geschich­te erzählt – tötet Hit­ler –, passt es ins Bild.”

Auch die­ser Erklä­rungs­ver­such befrie­digt mich nur teil­wei­se, unter ande­rem weil er die Fra­ge nicht beant­wor­tet, war­um oft Psy­cho­pa­then und Irre in Fil­men klas­si­sche Musik hören. Allen­falls könn­te man es so inter­pre­tie­ren, dass die musi­ka­li­sche Hoch­kul­tur durch die­ses Per­so­nal eben dis­kre­di­tiert wer­den soll, was auf den von mir bereits ange­spro­che­nen anti-eli­tä­ren Affekt hin­aus­lie­fe, womit sich über­dies gut ver­trägt, dass die klas­si­sche Musik in hohem Maße ein Werk deut­scher (oder deutsch­spra­chi­ger) Kom­po­nis­ten ist.

***

Der Ägyp­ter schüt­tel­te den Kopf. „Es gibt kein Lon­don mehr. Es ist verschwunden.”
„Aber wie­so denn?” frag­te ich entsetzt.
„Nun, wie es immer geht… Krie­ge… Revo­lu­tio­nen… es ist immer das­sel­be. Euch Abend­län­der erschreckt das noch, weil Ihr zu jung seid. Eure Geschich­te hat kein Alter, und euer Alter hat kei­ne Geschich­te. Aber wie soll­te es denn anders sein? Jeder Krieg gebiert eine Revo­lu­ti­on, und jede Revo­lu­ti­on einen Krieg. Aber wenn es sie inter­es­siert? Es begann mit dem Streit um die Polkappen…”
„Nein!” wehr­te ich has­tig ab. „Es inter­es­siert mich gar nicht! Wenn Sie mir jetzt die Geschich­te der nächs­ten zwei­hun­dert Jah­re nach rück­wärts erzäh­len, so bleibt mir nichts übrig, als mich auf­zu­hän­gen.  Wenn ich den Roman vor­blät­te­re, wie dies gewis­se törich­te und unge­zo­ge­ne Leser tun, so hat er jeden Reiz für mich ver­lo­ren. Die bei­den gro­ßen Mäch­te, die uns zwin­gen, unser Dasein auch unter wid­ri­gen Umstän­den fort­zu­set­zen, sind die Hoff­nung und die Neu­gier­de. Sie sind die star­ken Fit­ti­che, die unser Leben tra­gen und empor­tra­gen. Unse­re Unwis­sen­heit ist der Motor, der uns zu unse­ren kühns­ten Aben­teu­ern antreibt, die Wur­zel unse­rer Tat­kraft. Ein Mensch, der alle Ver­kno­tun­gen und Ver­schrän­kung des Schick­sals in ihrem Zusam­men­hang zu erbli­cken ver­möch­te, bräch­te nicht mehr den Mut zu einer Tat auf. Wer weiß, kann nicht mehr handeln.”
„Das ist sehr wei­se gespro­chen”, sag­te der Ägyp­ter, „aber muss man denn handeln?”

Aus: Egon Frie­dell, „Die Rück­kehr der Zeit­ma­schi­ne” (1935)

***

Bevor ich mich ges­tern auf mei­nen Haus­berg begab …,

… um teils Got­tes Werk am Him­mel zu betrach­ten, teils ins Tal zu schauen …,

… las ich in der Bahn zum ers­ten Mal Hof­mannst­hals „Jeder­mann” und war durch­aus bestürzt. Wie kann es sein, frug ich mich, dass der Autor der „Frau ohne Schat­ten”, des „Rosen­ka­va­lier”, des „Schwie­ri­gen” oder des Chan­dos-Brie­fes ein dra­ma­tur­gisch und sprach­lich so fla­ches und über­dies – spät­mit­tel­al­ter­li­che Remi­nis­zen­zen hin oder her – reli­gi­ös-kit­schi­ges Stück geschrie­ben hat, des­sen ein­zig halb­wegs tie­fer Gedan­ke das fun­da­men­ta­le Des­in­ter­es­se der Men­schen anein­an­der ist? Und war­um ist aus­ge­rech­net „Jeder­mann” das womög­lich popu­lärs­te Werk die­ses letz­ten deut­schen Dich­ters gewor­den, zum soge­nann­ten Mar­ken­zei­chen der Salz­bur­ger Festspiele?

Aber das sei doch immer so, ver­si­cher­te mit Freund *** spä­ter beim Bie­re in der Ebe­ne. Von den Gro­ßen sei­en stets die fla­ches­ten Sachen die popu­lärs­ten. Von Mozart „Der Vogel­fän­ger bin ich ja” und die klei­ne Nacht­mu­sik, von Beet­ho­ven das Fina­le der Neun­ten, von Wag­ner der Wal­kü­ren­ritt, von Mahler das Ada­giet­to aus der Fünf­ten, von Ver­di der Tri­umph­marsch aus der „Aida”… (Er ist ein biss­chen musik­fi­xiert, der Bub, aber da scheint schon was dran zu sein.)

 

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