18. August 2024

Der Tweet des Tages bestä­tigt ent­we­der eine Ver­schwö­rungs­theo­rie – oder bloß mei­ne Ansicht, dass sich Jour­na­lis­ten wie Sar­di­nen ver­hal­ten, die jede Rich­tungs­än­de­rung mit der Sei­ten­li­nie regis­trie­ren und ihre Bewe­gung so peni­bel dem Schwarm anpas­sen wie wei­land die Marsch­blö­cke auf der Zeppelinwiese.

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Zum Tage.

Oder so.

(Netz­fund)

Wobei es sich nicht um Faschis­mus han­delt – „Faschis­mus ist die bür­ger­li­che Gesell­schaft im Bela­ge­rungs­zu­stand”, wie Wolf­gang Ven­ohr tref­fend for­mu­lier­te –, son­dern viel­mehr um einen in neu­er Mas­ke­ra­de auf­tre­ten­den Sozialismus.

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Aber – und apro­pos Sozia­lis­mus – die Sonn­ta­ge immer (mal wie­der) den Künsten!

Neu­lich, am Ran­de einer Lesung, mach­te mir ein freund­li­cher Mensch ein paar Kom­pli­men­te zum Roman „Land der Wun­der“, den er schon mehr­mals ver­schenkt habe, ver­si­cher­te mir sein Fai­ble für soge­nann­te „Wen­de­ro­ma­ne“, aber einen, sag­te er, fän­de er bes­ser als mei­nen, näm­lich „Kru­so“ von Lutz Sei­ler. Ich hat­te von die­sem Hid­den­see-Epos rau­nen hören, doch mei­ne Skep­sis gegen die Kri­te­ri­en, die bei der Ver­ga­be spät­bun­des­re­pu­bli­ka­ni­scher Lite­ra­tur­prei­se wal­ten, sowie ein gewis­ses Des­in­ter­es­se am mir ja hin­läng­lich bekann­ten Sujet – um nicht direkt von Zono­pho­bie zu spre­chen – ver­hin­der­ten bis­lang die Lek­tü­re. (Davon abge­se­hen, mein Herr, ist „Land der Wun­der“ weni­ger ein „Wen­de-“ als viel­mehr ein Ent­wick­lungs­ro­man bzw. ‑por­no, in des­sen Mit­te eben die Mau­er fällt.)

Sol­cher­ma­ßen freund­lich unter Ver­gleichs­druck gestellt, kauf­te ich mir denn Sei­lers Buch und dan­ke hier­mit für die so keck vor­ge­tra­ge­ne Emp­feh­lung. „Kru­so“ ist ein groß­ar­ti­ger Roman, vor allem weil er blen­dend geschrie­ben ist – das ist immer das Ers­te. Sodann, weil er die Ehe­ma­li­ge in aller Stu­pi­di­tät, Häss­lich­keit, Pie­fig­keit, Ver­lo­ren­heit, in ihrer aus räum­li­cher Enge und rela­ti­ver sozia­ler Gleich­heit gebo­re­nen stall­war­men Inti­mi­tät, die jeder­zeit ins Kleb­ri­ge oder Aggres­si­ve umschla­gen konn­te, sicht­bar, fühl­bar, schmeck­bar, riech­bar macht. Die real­so­zia­lis­ti­sche Tris­tesse sprach­lich zu ästhe­ti­sie­ren, gelingt Sei­ler vorzüglich.

Das Schlimms­te und das Erträg­lichs­te an der DDR waren die Men­schen. In den Nischen die­ses Lan­des sam­mel­ten sich die Ori­gi­na­le und ver­an­stal­te­ten ihre täg­li­che Sisy­pho­sia­de zur Wider­le­gung des Ador­no-Bon­mots, dass es kein rich­ti­ges Leben im fal­schen geben kön­ne. Hid­den­see hält bei Sei­ler mit land­schaft­li­cher Über­wäl­ti­gung (und einer illu­sio­nä­ren West­nä­he) dage­gen: „Zehn Pro­zent Land, neun­zig Pro­zent Him­mel: Dass sie hier waren, auf der Insel, genüg­te. Erst recht für ihren Stolz. Die Insel adel­te ihr Dasein. Die­se Schön­heit, die ein­fach unbe­schreib­lich war und wirk­te. Die Magie ihrer Schöp­fung. Das Fest­land bil­de­te dafür nicht mehr als eine Art Hin­ter­grund, der lang­sam ver­wisch­te und erstarb im immer­wäh­ren­den Rau­schen des Mee­res; was war schon der Staat?“ Auf der Insel sam­meln sich neben aller­lei Out­casts und Son­der­lin­gen, die in der Als-ob-Enkla­ve „über­som­mern“ wol­len, auch vie­le Flucht­wil­li­ge, doch sie ent­kom­men dem Mau­er­staat so gut wie nie; die meis­ten wer­den ver­haf­tet, der Rest ver­schwin­det im Meer.

Eine merk­wür­di­ge Melan­cho­lie ergriff mich bei der Lek­tü­re. Da kommst du ja her, dach­te ich mir, aus die­sem Dreck, aus die­ser Häss­lich­keit, wo alles pro­vi­so­risch war und zusam­men­ge­flickt, wo nichts funk­tio­nier­te außer dem Grenz­re­gime, aber die Pro­pa­gan­da von Zukunft und Ewig­keit kün­de­te. Dort weil­te ich, „als ich ein Kind und glück­lich war“ (Tho­mas Mann), in die­sem sta­chel­draht­um­zäun­ten Länd­chen habe ich die Träu­me mei­ner Jugend geträumt, die ers­te Lie­be durch­lit­ten, die ers­ten Freund­schaf­ten geschlos­sen, die ers­ten gro­ßen Bücher gele­sen, die ers­te eige­ne Blei­be bezo­gen, die Freu­den des Ero­ti­schen ken­nen­ge­lernt. Und, du lie­ber Him­mel, gesof­fen, als gäbe es kein Mor­gen. Denn streng­ge­nom­men gab es ja kein Morgen.

„Kru­so“ han­delt von einer Tafel­run­de aus Sai­son­kräf­ten, kurz SK oder „Ess­kaas“ – es sind derer zwölf wie bei König Artus –, die im Nor­den Hid­den­sees, das man auch das „Sylt des Ostens“ nann­te oder nennt, ober­halb des Hoch­ufers eine Urlau­ber­gast­stät­te betrei­ben. Im „Klaus­ner“ herrscht zwar der sai­so­na­le Hoch­be­trieb, doch zugleich steht die Zeit still. Die Haupt­per­so­nen sind zwei Män­ner, Edgar Bend­ler („Ed“), Lite­ra­tur­stu­dent, durch des­sen Augen der Leser blickt, und der titel­ge­ben­de Alex­an­der Kru­so­witsch, kurz Kru­so oder Losch genannt (von Aljoscha), ein selt­sa­mer, nicht hun­dert­pro­zen­tig zurech­nungs­fä­hi­ger jun­ger Mann mys­te­riö­ser Her­kunft, halb Insel­pa­te, halb Aus­stei­ger­gu­ru – er ist schon am längs­ten dort und kennt jeden Win­kel des Eilands –, der als Abwä­scher arbei­tet und Ed qua­si zu sei­nem Frei­tag macht, wäh­rend bei­der Hän­de durch den Sai­son­job jenen von Was­ser­lei­chen immer ähn­li­cher wer­den. „In Kru­sos Gefolg­schaft kam ihm die Fra­ge War­um? nicht in den Sinn. Nie­mand, der wirk­lich zur Insel gehör­te, brauch­te ein Warum.“

Die Titel­fi­gur, erfährt der Leser, ist der Sohn eines sowje­ti­schen Gene­rals und einer Artis­tin, die vom Hoch­seil zu Tode stürz­te, als er ein klei­nes Kind war, wes­halb der Vater ihn und sei­ne älte­re Schwes­ter zu Ver­wand­ten gab, die sie fort­an als Pfle­ge­el­tern auf­zo­gen. Kru­sos Schwes­ter Son­ja ging vor vie­len Jah­ren auf Hid­den­see vor ins Meer, nach­dem sie ihrem neun­jäh­ri­gen Bru­der befoh­len hat­te: „Hier war­test du und rührst dich nicht weg.“ Seit­her war­tet Kru­so und rührt sich nicht weg. Auch Ed hat der Ver­lust eines gelieb­ten Men­schen in Ver­zweif­lungs­nä­he und schließ­lich auf die (für Zonen­ver­hält­nis­se) ent­le­ge­ne Ost­see­insel getrie­ben. Aus­ge­rech­net im Wen­de­jahr 1989.

Wir befin­den uns im DDR-Ver­wei­ge­rer-Milieu, wie es für sol­che Jobs typisch war (ich habe selbst an der Ost­see als „Sai­son­kraft“ gear­bei­tet, im Som­mer 1981, auf der ande­ren Küs­ten­sei­te des mit­tel­deut­schen Gat­ters, in Ban­sin auf Use­dom, und erleb­te bei der Lek­tü­re zahl­rei­che Déjà-vus). Das heißt, man hat es mit Leu­ten zu tun, die sich dem real­so­zia­lis­ti­schen Gegän­gelt­wer­den ent­zie­hen woll­ten, um auf dem Ost­see-Eiland, soweit dies eben mög­lich war, nach ihren eige­nen Vor­stel­lun­gen zu leben. Im Arbei­ter- und Bau­ern­staat waren das sel­ten Arbei­ter und Bau­ern, son­dern meis­tens Intel­lek­tu­el­le (auch wenn sie oft gezwun­gen waren, ihren Lebens­un­ter­halt als Arbei­ter zu fris­ten). Reprä­sen­ta­tiv für die­sen Men­schen­schlag ste­hen die bei­den Kell­ner Rim­baud und Cavallo.

„Gas­tro­no­mi­sches und phi­lo­so­phi­sches Wis­sen sind hier aufs Schöns­te ver­eint“, stellt der Geschäfts­füh­rer des „Klaus­ner“ dem Neu­an­kömm­ling sein Ser­vier­per­so­nal vor. „Mir­ko, pro­mo­viert in Sozio­lo­gie, er kommt wie du, Edgar, aus Hal­le an der Saa­le und wird hier bei uns Cavallo genannt. Und hier, vom glei­chen aka­de­mi­schen Grad, sein Freund Rim­baud, unser Phi­lo­soph – hab schon fast ver­ges­sen, wie du wirk­lich heißt, mein Lie­ber, ein­mal gehei­ßen hast…“ Wenn Rim­baud an das Pult tritt, auf dem die Kas­se steht, fasst er bis­wei­len das dort auf­ge­stell­te Foto sei­nes Namens­pa­trons ins Auge und fragt: „Ruhm, wann kommst du?“ Das ist eine der ste­hen­den Wen­dun­gen, die das Buch durch­zie­hen. Jah­re vor Eds Ankunft hielt Rim­baud im Ger­hart-Haupt­mann-Haus, im Arbeits­zim­mer des Lite­ra­tur­no­bel­preis­trä­gers, natür­lich ille­gal, um Mit­ter­nacht in völ­li­ger Dun­kel­heit und frei spre­chend, einen Vor­trag mit dem Titel „Ophe­lia oder die Was­ser­lei­chen­poe­sie“. Cavallo wie­der­um, des­sen Spitz­na­me aus sei­ner Lei­den­schaft für das römi­sche Alter­tum her­rührt, auch das vier­bei­ni­ge, hat, wie Kru­so berich­tet, sei­ne Dis­ser­ta­ti­on in jeg­li­cher Hin­sicht ver­sem­melt – „fal­sches The­ma, fal­scher Inhalt, wahr­schein­lich alles falsch“. Das konn­te einem pas­sie­ren im zweit­bes­ten Deutsch­land aller Zei­ten, dem das bes­te so ent­zü­ckend nach­ei­fert. Wäh­rend der Arbeit spie­len die bei­den Kell­ner Schach und rufen sich ihre Züge über die Köp­fe der Gäs­te zu. Man muss sich als Hilfs­kraft schon eine Wei­le eta­blie­ren, um von ihnen eines Bli­ckes oder gar per­sön­li­chen Wor­tes gewür­digt zu werden.

Ich erkann­te das merk­wür­di­ge Selbst­be­wusst­sein der Ess­kaas wie­der, ihre Gering­schät­zung der nor­ma­len Urlau­ber, denen sie zu Diens­ten sein muss­ten, was nichts an ihrer eli­tä­ren Her­aus­ge­ho­ben­heit änder­te, denn sie leb­ten „nach son­der­ba­ren, schwer zu begrei­fen­den For­men lega­ler Ille­ga­li­tät in einem Land, das sie ent­we­der aus­ge­spuckt und für unbrauch­bar erklärt hat­te oder dem sie sich schlicht­weg nicht mehr zuge­hö­rig fühl­ten“. Frü­her, sag­te Kru­sos Zieh­va­ter, ein Pro­fes­sor für Strah­len­phy­sik, sei es noch anders gewe­sen auf der Insel: „Es gab kei­ne Gesell­schaft jen­seits der Gesell­schaft, es gab Sai­son­kräf­te, gut, aber nicht die­se Kas­te und ihr Gewe­se, man­ches ist ein­fach geschmack­los, nicht wahr?“ Ja, auch das.

Was Ed und Kru­so neben ihrer Trau­er ver­bin­det, ist die Lie­be zur Lyrik; Kru­so schreibt selbst Gedich­te. „Poe­sie war Wider­stand“, heißt es an einer Stel­le, an einer ande­ren: „Wor­aus ihr Unglück bestand (und was ihr Han­deln bestimm­te), war bes­ser auf­ge­ho­ben in einem Gedicht.“ Die ein­set­zen­de gro­ße Flucht­be­we­gung, die DDR-Bür­ger zu Tau­sen­den über die offe­ne unga­ri­sche Gren­ze gen Wes­ten treibt und auch die „Klausner“-Tafelrunde leert, ergreift die bei­den nicht. Für sie besitzt die Insel hal­ten­de Kräf­te. Ihr Son­der­be­wusst­sein – ihr „Insel­pa­trio­tis­mus“ – wirkt wie eine Buh­ne in den Wel­len der tris­ten Wirk­lich­keit. Sie gehö­ren zwar nicht zu den indi­ge­nen Insu­la­nern, aber emp­fin­den sich als solche.

„Selbst auf voll­be­setz­ten Schif­fen erkann­te man die Ein­ge­bo­re­nen sofort. Sie erschie­nen voll­kom­men unemp­find­lich gegen das Getö­se rings­um, als hät­ten sie ihr Dasein end­gül­tig abge­dich­tet, ja, als wären sie geimpft und für immer immun gegen jenes abscheu­li­che Wesen namens Feriengast.“

Oder:

„Cavallo schenk­te aus, nie­mand sprach, sie saßen sich auch nicht gegen­über, son­dern in einer Rei­he, wie unver­se­hens geal­ter­te Schü­ler in ihrer Schul­bank, und starr­ten auf die Kie­fern am Wald­rand, die im Licht der frü­hen Abend­son­ne zu leuch­ten begon­nen hat­ten. Es gab nichts Besseres.“

Oder:

„Es wur­de mehr Wein und mehr Bier her­an­ge­tra­gen; Geträn­ke und Spei­sen, alles gehör­te allen, wenn man es bis hier­her geschafft hat­te, auf die Ter­ras­se über dem Meer, in den Gar­ten des Klaus­ners, an den Tisch der Auserwählten.“

„Unse­re Schiff­brü­chi­gen“ nennt Kru­so die Ankömm­lin­ge jen­seits der Tou­ris­ten­strö­me. „Sie alle gehö­ren nicht mehr wirk­lich zum Land, sie haben das Land unter ihren Füßen ver­lo­ren, ver­stehst du das, Ed?“, fragt er. „Sie wis­sen nicht wei­ter. Zuerst die gro­ße Sehn­sucht, die hier noch grö­ßer wird, und dann sit­zen sie da und kön­nen weder vor noch zurück.“

Die See­kar­ten sind falsch, denn die rea­len Ent­fer­nun­gen sind Staats­ge­heim­nis im Grenzregimestaat.
„Was bedeu­ten die­se Lini­en, Losch? Die­ses Schnitt­mus­ter im Rot zwi­schen den Küsten?“
„Das sind die Wege der Toten.“

Da Kru­so klar ist, was denen droht, die tat­säch­lich die Flucht wagen – „Losch wuss­te, dass die­ses Meer ein Grab war“ –, bie­tet er ihnen als Alter­na­ti­ve drei Tage auf Hid­den­see an, auf dass sie die Frei­heit in ihrem Innern ent­de­cken. Mit einem Initia­ti­ons­ri­tu­al, das die ille­ga­le Beher­ber­gung ein­schließt, wer­den sie in die „Gemein­schaft der Schiff­brü­chi­gen“ auf­ge­nom­men, einer Art Gegen­ge­sell­schaft im zer­brö­seln­den Real­so­zia­lis­mus. Kru­so glaubt, dass sie durch das Ritu­al die Wur­zel ihrer inne­ren Frei­heit ent­de­cken und so, gewis­ser­ma­ßen von innen gegen das Regime imprä­gniert, aufs Fest­land zurück­keh­ren kön­nen, bis eines Tages „das Maß der Frei­heit in den Her­zen die Unfrei­heit der Ver­hält­nis­se mit einem Schlag über­steigt“. Bei Kru­sos Visi­on han­delt es sich, auf den Punkt gebracht von sei­nem Zieh­va­ter, um „eine Art Unter­grund zur Anhäu­fung inne­rer Frei­heit, eine geis­ti­ge Gemein­schaft, irgend­et­was in die­sem Sin­ne; ohne Ver­let­zung der Gren­zen, ohne Flucht, ohne Ertrin­ken. Kei­ne klei­ne Illu­si­on, eher eine aus­ge­mach­te Wahn­vor­stel­lung“. Inwie­weit Losch mit den „staat­li­chen Orga­nen“ koope­riert, bleibt ungeklärt.

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„Ein ein­zi­ger Ver­lust, so kommt es dir vor. Aber nie­mand ist wirk­lich ver­lo­ren, Ed, nie­mand.” Nie­mand wer­de für immer ver­misst. Ver­heißt Kru­so. Es ist das Ver­mächt­nis, wel­ches er Edgar bzw. des­sen Erfin­der auferlegt.

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Sei­ler ist ursprüng­lich Lyri­ker, und das merkt man dem sug­ges­ti­ven Rhyth­mus des Romans an. Es gibt Leit­mo­ti­ve und geflü­gel­te Wor­te, die immer wie­der anklin­gen. In den Rezen­sio­nen tauch­te der Begriff „magi­scher Rea­lis­mus“ auf (ein Gen­re, das übri­gens kei­nes­wegs im Latein­ame­ri­ka der jün­ge­ren Gegen­wart erfun­den wur­de, son­dern viel­leicht irgend­wo zwi­schen E. T.A. Hoff­mann und Leo Perutz), auch von Sur­rea­lis­mus war die Rede. Ich wür­de eher von Ani­mis­mus spre­chen: Alles lebt und ist beseelt, sogar die Toten erste­hen am Ende auf. Aber las­sen wir die Ismen, es ist schön, und das genügt. Auf gleich­sam som­nam­bu­le Wei­se ler­nen wir die­se Welt ken­nen durch die Per­spek­ti­ve des Hid­den­see-Debü­tan­ten Ed. Die Schön­heit der Bil­der und der Spra­che deckt den real­so­zia­lis­ti­schen Dreck zu. Auch wenn sie ihn an man­chen Stel­len zur Über­deut­lich­keit bringt.

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Ein Füll­horn von toten Begrif­fen, Namen und Geschmä­ckern, längst aus­ge­stor­ben und ver­ges­sen, tat sich bei der Lek­tü­re auf: Kali, Kiwi, Pfef­fi, der unver­meid­li­che Blaue Wür­ger (offi­zi­ell „Kla­rer Juwel”) und „Lin­den­blatt”, ein soge­nann­ter Wein aus Ungarn (den auch Johan­nes Schön­bach trank). „Er schaff­te es nicht, sich Kaf­fee zu machen, und über­goss Kaf­fee­li­kör mit kochen­dem Was­ser”. Genau so! Der Kun­de, wie man aus uner­find­li­chen Grün­den die Blues­ty­pen bezeich­ne­te („ein urs­ter Kun­de”). Der Bel­lo – so nann­ten wir auf dem Bau den Vor­schlag­ham­mer. Der klapp­ri­ge, ganz und gar un-ika­ri­sche Ika­rus-Bus. Der Bebo sher, bekann­tes­ter Rasier­ap­pa­rat der DDR, unter ande­rem von mir selbst her­ge­stellt beim VEB Berg­mann Borsig im Unter­richt für pro­duk­ti­ve Arbeit, kurz PA (kein Wun­der, dass die Din­ger nichts taug­ten). Peter Kot­te und Rein­hard Häf­ner. Die Trans­port­po­li­zei (Tra­po). Der Den­tal­draht zur Her­stel­lung von Schmuck aus Tin­nef, ver­scher­belt an die Urlau­ber, zur Finan­zie­rung des täg­li­chen Alko­hol­kon­sums. Und und und.

Was mich am meis­ten über­rasch­te, war aller­dings, dass (in der DDR) der Name Anton Kuh auftaucht.

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Wäh­rend Edgar und Kru­so als Tel­ler­wä­scher frön­ten, gehör­te ich zum Detache­ment der Tisch­ab­räu­mer, nur ein paar Wochen, weil ich mir bei einer nächt­li­chen Allo­tria betrun­ken den äuße­ren Mit­tel­hand­kno­chen brach (irgend­wer war auf die Idee ver­fal­len, Stuhl­leh­nen mit Kara­te­schlä­gen zu spal­ten; ich schei­ter­te am kür­zes­ten Stück) und tags dar­auf in Gips zur Knuf­fe erschien. Der Chef war erbost, weil ich aus­fiel, und er mein­te, ich hät­te mich geprü­gelt; das­sel­be unter­stell­te übri­gens der Dok­tor, der die bei­den aus­ein­an­der­ste­hen­den Kno­chen­tei­le recht rabi­at wie­der zusammenfügte.

Wir arbei­te­ten in einem rie­si­gen Well­blech-Selbst­be­die­nungs­schup­pen namens „Rake­te“. Kein Mensch ver­mag sich heu­te mehr vor­zu­stel­len, was für ein mise­ra­bler Fraß dort ver­ab­reicht wur­de, wel­che schaum­lo­se Plör­re als Bier aus­ge­schenkt wur­de, wie häss­lich das gesam­te Ambi­en­te war (Spre­la­cart-Tische mit Alu­mi­ni­um­bei­nen). Eine mei­ner Neben­auf­ga­ben bestand dar­in, die Schnit­zel­stü­cke, die der Küchen­chef abge­sä­belt hat­te, mit einem schwe­ren, beson­ders brei­ten Mes­ser so flach zu prü­geln, dass sie schließ­lich den hal­ben Tel­ler bedeck­ten und als gan­ze Por­ti­on durchgingen.

Das zen­tra­le Wort in „Kru­so“ ist „Frei­heit“, und in der Tat emp­fan­den wir damals Ban­sin als einen Ort rela­ti­ver Frei­heit, den Grenz­strei­fen zum Trotz, die natür­lich auch auf Use­dom patrouil­lier­ten, denn alles galt als Gren­ze an den Rän­dern von Erichs des Ein­zi­gen fest­um­frie­de­ten Lauf­ställ­chen. Es war Frei­heit, einen jener Bun­ga­lows zu bewoh­nen, in denen die Sai­son­kräf­te mit den Urlau­be­rin­nen schlie­fen, die sie bei den spon­ta­nen Par­tys am Strand auf­ge­le­sen hat­ten. Es war die Frei­heit der Lager­feu­er, an denen irgend­wer Klamp­fe spiel­te und sub­ver­si­ve Lie­der sang, die Frei­heit der Bran­dung, der schril­len Typen, die, regime­feind­li­ches mensch­li­ches Treib­gut, von irgend­wo­her auf­kreuz­ten und ziel­si­cher uns fan­den, die Frei­heit der Abwe­sen­heit von Vor­ge­setz­ten und Agi­ta­to­ren und natür­lich die Frei­heit eines per­ma­nen­ten Besäuf­nis­ses mit all sei­nen bizar­ren Begleit­erschei­nun­gen. Anders als im Roman ver­schwand bei uns nie­mand Rich­tung Meer – Use­dom lag zu weit ent­fernt vom „Wes­ten“ –, nie­mand ertrank bei einem Flucht­ver­such oder wur­de ver­haf­tet, aber zwei der pit­to­res­ken Figu­ren, mit denen ich dort den Rausch fei­er­te, haben spä­ter ihr Leben im Suff ver­lo­ren; der eine, weil er sich auf dem Gas­herd nachts einen Tee kochen woll­te, dabei ein­schlief, der alte, durch­ge­ros­te­te Kes­sel sei­nen Geist auf­gab und das aus­lau­fen­de Was­ser die Flam­me lösch­te; der ande­re, weil er, um sei­nen Heim­weg zu ver­kür­zen, wäh­rend der Fahrt aus dem Schie­nen­bus sprang und von dem ent­ge­gen­kom­men­den Zug erfasst wurde…

Zu den absto­ßends­ten Grund­tat­sa­chen der DDR (wie jedes sozia­lis­ti­schen Man­gel­sys­tems) gehör­te die Macht­aus­übung der Sub­al­ter­nen, der ihr eige­nes Geduckt­wer­den kom­pen­sie­ren­den Frus­trier­ten, sobald sie ein­mal die Gele­gen­heit erhiel­ten, sich auf­zu­spie­len, weil sie über Res­sour­cen ver­fü­gen durf­ten, ob nun als Kell­ner, Haus­meis­ter, Poli­zist, Ver­käu­fer oder der­glei­chen mehr. Über Rim­baud (auf den die­se Beschrei­bung viel­leicht nicht ganz passt) heißt es im Roman: „Gern belei­dig­te er Gäs­te. Er kom­men­tier­te ihr Aus­se­hen, ihre Bestel­lun­gen, ihre, sei­nes Erach­tens, mehr als unge­nü­gen­den intel­lek­tu­el­len und sprach­li­chen Fähig­kei­ten. ‚Jeder nach sei­nen Fähig­kei­ten’, brüll­te er über die Tische, wenn er mit einer Trom­mel vol­ler Bier­glä­ser die Ter­ras­se betrat. Dazu sein her­ri­scher Aus­druck. Wie ein Feld­herr am Vor­abend des letz­ten Gefechts.” Die­se Gering­schät­zung der Urlau­ber habe ich genau­so erlebt. „Trink aus, Mensch!” fuhr ein Ban­sin-Ess­kaa – es war der mit dem Tee­kes­sel – ein allein bei sei­nem Bie­re sit­zen­des Männ­lein an, „du bist nicht zum Spaß hier!” Das mag noch unter der­ber Scherz gefal­len sein, doch wenn ich an die Schlan­gen den­ke, die unser Kar­tof­fel­puf­fer­ver­käu­fer mut­wil­lig ent­ste­hen ließ, weil er kei­ne Lust zum Puf­fer­ma­chen hat­te (schließ­lich emp­fand er sich als Gitar­rist), sowie aus einem Emp­fin­den all­ge­mei­ner Daseins­be­schis­sen­heit, wäh­rend er die Leu­te mit einer empö­ren­den Unhöf­lich­keit behan­del­te – er sprach kein Wort mit ihnen –, die wie­der­um anstan­den, weil es weit und breit kei­ne Alter­na­ti­ve gab, etwas „auf die Hand” zu essen zu bekom­men, dann habe ich die DDR en minia­tu­re vor mir.

Es gab veri­ta­ble Irre unter den Eskaas dort oben, aber eben auch die wirk­lich wich­ti­gen Leu­te, mit denen man die wirk­lich wich­ti­gen Gesprä­che füh­ren konn­te (zumin­dest erschien es mir damals so). Die Irren waren zum Teil gefähr­lich. Auch Ed gerät in zwei schwe­re Schlä­ge­rei­en, die exis­ten­ti­el­le Erschüt­te­run­gen aus­lö­sen und deren eine ihn in den Radar der staat­li­chen Orga­ne bringt.

Kein Heim­weh. Nirgends.

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Dass Sei­lers Buch auto­bio­gra­phi­sche Züge trägt, ist evi­dent. Ich neh­me an, das trifft auch und beson­ders für den Epi­log zu. Edgar wech­selt aus der drit­ten in die ers­te Per­son („Abtei­lung Ver­schwun­den. Edgars Bericht”). Der Epi­log ver­lässt den magi­schen Rea­lis­mus und wen­det sich der erschüt­tern­den Rea­li­tät zu, er ist ein Requi­em für die ertrun­ke­nen DDR-Flücht­lin­ge. „Grenz­ver­let­zer – so jeden­falls nen­nen sie das, aus ihrer Sicht ist es die Gren­ze, die ver­letzt wird“, sagt Kruso.

Nach vie­len ins Lee­re gehen­den Recher­chen ist es Edgar gelun­gen, im Kel­ler eines däni­schen Insti­tuts den Men­schen zu fin­den, der Bescheid weiß über jene „unbe­kann­ten Toten eines ver­schwun­de­nen Lan­des”, die in all den Jah­ren an der Hid­den­see direkt gegen­über­lie­gen­den Küs­te ange­schwemmt wur­den. Die­ser Archi­var des Todes – er ist übri­gens weit­läu­fig ver­wandt mit Fried­rich von Har­den­berg und zitiert im Toten­kel­ler aus den „Hym­nen an die Nacht” – erklärt Edgar, es habe im Insti­tut kei­ner mehr dar­an geglaubt, dass noch ein­mal jemand kom­men wer­de, der sich für die Toten inter­es­sie­re: „Sie sind der ers­te hier, nach vier­und­zwan­zig Jahren.”

Sei­ler ali­as Edgar spricht vom drei­fa­chen Ver­schwin­den die­ser Unglück­li­chen. Das ers­te Ver­schwin­den war ihr heim­li­cher Auf­bruch von daheim, nie­mand durf­te wis­sen, dass und wohin sie gin­gen, zum einen weil ihr Vor­ha­ben jeder­zeit ver­ra­ten wer­den konn­te (das hieß „Repu­blik­flucht”, zwei Jah­re Knast), zum ande­ren, weil sie in ihrer Fami­lie und unter ihren Freun­den kei­ne „Mit­wis­ser” zurück­las­sen woll­ten, denen dann eben­falls staat­li­che Repres­sa­li­en droh­ten. Zum ers­ten Ver­schwin­den gehör­te auch, dass der Flücht­ling nichts am Lei­be trug, wor­an man ihn hät­te iden­ti­fi­zie­ren kön­nen. Irgend­wann wur­de aus ihm ein Vermisster.

Das zwei­te Ver­schwin­den ereig­ne­te sich im Meer, wenn der Flücht­ling merk­te, dass sei­ne Kräf­te nicht aus­rei­chen wür­den, der See­gang, die Käl­te, ein Krampf ihn ermü­det hat­ten und der Pro­zess des Ertrin­kens ein­setz­te, allein, nur Was­ser rings­um und abso­lu­te Ein­sam­keit. Zum zwei­ten Ver­schwin­den gehört auch der Weg der Lei­che im oder unter dem Was­ser. „Man­che wer­den ange­schwemmt. Ent­we­der am ver­hass­ten oder ersehn­ten Ufer.”

Dann folgt das drit­te Ver­schwin­den. Die Lei­chen, oft Mona­te unter­wegs, las­sen sich nicht iden­ti­fi­zie­ren. Nie­mand sucht nach ihnen. Ihre Über­res­te wer­den namen­los begra­ben. Sie sind ver­schwun­den auf ewig.

Die­se Men­schen, ich wie­der­ho­le es wie­der und wie­der, sind vor dem Sozia­lis­mus geflo­hen, sie haben den Sozia­lis­mus so sehr ver­ab­scheut, dass sie lie­ber das Risi­ko auf sich nah­men zu ertrin­ken, als län­ger dort zu leben. Wenn die Gren­zer sie ent­deck­ten, wur­den sie gejagt wie Tie­re und, wenn ihre Flucht zu gelin­gen droh­te, abge­schos­sen wie Tie­re. Mehr muss man von die­ser DDR gar nicht wissen.

***

Und doch – oder trotzdem –:

Sei­lers Buch sei allein des­we­gen „sehr gut”, ver­si­cher­te mir ein sehr sehr guter deut­scher Schrift­stel­ler, weil es „einen Mythos erschaf­fen” habe.

 

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