Der Fetischismus ist der Monotheismus der Perversionen.
Ich begreife durchaus, warum jemand Fetischist sein kann, aber nicht, warum er sich auf nur einen Gegenstand kapriziert. Wenn Fetischist, dann Polyfetischist.
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Es gibt ein Kriterium, das sämtliche ethnisch-kulturellen Unterschiede übersteigt: gutes Benehmen.
(Diese beiden Kerle mit eindeutigem Hintergrund sehen das löblicherweise ähnlich.)
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Aber die Sonntage – bisweilen – den Künsten!
Kurz vor der Sommerpause sah beziehungsweise hörte ich mir in der Münchner Staatsoper „La Fanciulla del West“ an, Puccinis unpopuläre „Wildwest“-Oper, die ihre Uraufführung übrigens 1910 an der Metropolitan Opera in New York erlebte. Die Inszenierung in München war erträglich, die Sänger machten ihre Sache gut, die männliche Hauptrolle, „Dick Johnson alias Ramerrez, Bandit“, brüllte ein Koreaner, dem jegliche Italianità abging, doch das Publikum mag vor allem laute Stimmen. Der Dirigent überging einige meiner Lieblingsstellen oder deckte sie zu, aber das führte jetzt zu weit.
Warum ist diese Oper unpopulär? Musikalisch ist das „Mädchen aus dem Goldenen Westen“, wie der gängige deutsche Titel, dem Original der Theatervorlage „The Girl of the Golden West“ von David Belasco folgend, in den Zeiten hieß, als man die Libretti noch allesamt übersetzte und die Opern in deutscher Sprache aufführte, jedenfalls keinen Deut schlechter als „die großen Drei“ – La Bohème, Tosca, Madama Butterfly –, eher kompositorisch interessanter (um nicht das in diesem Kontext alberne Wort „besser“ zu verwenden). Sogar Anton von Webern zeigte sich begeistert: „Prachtvoll. Jeder Takt überraschend. Ganz besondere Klänge. Keine Spur von Kitsch!“ (Schrieb er ausgerechnet an Arnold Schönberg; die Antwort ist nicht überliefert.)
Besonders den zweiten Aufzug halte ich für einen der großartigsten, erregendsten Opernakte überhaupt – ich komme gleich darauf. Was, zumindest in meiner Deutung, dem dauerhaften Erfolg von „La Fanciulla“ im Wege stand, war das Sujet. Als Puccini die Oper komponierte, gab es das künstlerisch nicht besonders hochwertige Genre des Westernfilms noch nicht; inzwischen hat es sich zwischen Werk und Hörer geschoben und das Werk gewissermaßen nachträglich kontaminiert. Ein musiktheateraffiner Freund sagte einmal: „Cowboys und Indianer haben auf einer Opernbühne nichts zu suchen.“ Längst hat er dieses Vorurteil revidiert, nicht nur im musikalischen Sinne. Puccinis Personal besteht außerdem nicht aus Cowboys, sondern aus Goldsuchern – wir befinden uns in der Zeit des Goldrauschs 1849/50 –, immerhin mit einem Sheriff inmitten, während die beiden tatsächlich auf der Bühne erscheinenden Indianer – die Zugehfrau der Titelheldin und deren Mann – dies nur in äußerst kurzen Nebenrollen tun.
(Emmy Destinn und Enrico Caruso, das Uraufführungs-Liebespaar in der New Yorker Met anno 1910, im Vordergrund Wowkle, Mezzosopran, die Squaw von Billy Jackrabbit, „Rothaut”, Bass.)
Die Goldsucher wiederum tun etwas, das man in Abenteuer- und Westernfilmen nie zu sehen bekommt: Sie heulen vor Heimweh. Woraus man entnehmen kann, dass es sich, auch wenn sie englische Namen tragen, um Italiener handelt. Das kurze Vorspiel endet rhythmisch und scheppert in Blechbläsern und Becken auf eine Weise, die unweigerlich Assoziationen an die Vorspänne amerikanischer Westernserien aus den 1960er Jahren hervorruft, deren Musik freilich lange nach Puccini (n. P.) komponiert wurde. Zuvor erklingt aber das sehnsüchtig-brennende Motiv Johnsons und zeigt, dass man sich in der Oper befindet und nicht bei „Bonanza“. Eine „Pferdeoper“ nannte das Werk gleichwohl despektierlich Igor Strawinsky, denn für die Menschenjagd (Hetzjagd) im Dritten Akt fordert das Libretto acht Gäule auf der Bühne. Als Richard Strauss noch despektierlicher von einer „Indianeroper“ sprach, meinte er allerdings Verdis „Aida“.
Ein zweiter Grund, warum dem Werk nicht der Welterfolg beschieden war, den der Mann aus Lucca seit „Manon Lescaut“ (deren finaler Akt übrigens auch im Wilden Westen spielt) gebucht zu haben schien, besteht wahrscheinlich darin, dass am Ende alle mit heiler Haut davonkommen. Während die Vorgängerwerke ihren dramatischen Effekt vor allem aus dem Tod der weiblichen Hauptfiguren ziehen, hat „Fanciulla” Minnie alles im Griff und rettet nicht nur ihr Leben, sondern auch das ihres Geliebten, obwohl der die Schlinge bereits um den Hals trägt – eine Szene, die übrigens an den Zweiten „Tannhäuser“-Akt erinnert, wenn sich Elisabeth vor den Frevler stellt und ihn mit ihrem Körper gegen die Schwerter der Ritter schützt.
Immer noch: Uraufführung New York, 1910, Finale (gestellt).
Heute inszeniert man es moderner, aber stets angemessen düster:
Puccini wurde letztlich Opfer seiner eigenen Fähigkeiten: Nachdem er nacheinander den rührendsten – das Verlöschen der lungenkranken Mimi in „La Bohème“ –, den aufregendsten – Toscas Sprung von der Engelsburg – und den erschütterndsten Bühnentod – Butterflys Selbstentleibung – hingelegt hatte, war sogar ihm keine Steigerung mehr möglich. (Am Rande: Hätte der Italiener nur den Abschied der Cio-Cio-San von ihrem Kind komponiert und nichts außerdem, man würde ihn zu den Unsterblichen zählen müssen.) Das Publikum aber, einmal grundlegend verwöhnt und ansonsten sowieso ohne jede Empfindung für die Schwierigkeiten eines artistischen Neuanlaufs, meinte wohl, es werde nun immer so weitergehen. Das in der Ferne verlöschende „Addio!“ von Minnie und Johnson, unterlegt mit gleichfalls allmählich verklingenden Streichern und dem Pianogesang des Chores, bedeutete genau das Gegenteil der gewohnten Klimax. Nach den bisherigen Maßstäben war dieses Finale die Verweigerung eines Finales. Aber wer hatte diese Maßstäbe denn gesetzt?
Die zeitgenössische amerikanische Presse feierte Puccini vor der Premiere als „König der Melodien“. Auch hier gibt es eine despektierliche Version, nämlich den auf den Lucceser gemünzten Begriff „Melodien-Service“ (ich weiß nicht, wer ihn geprägt hat). Für seine Goldgräber-Oper hatte der Maestro selbst einen Stilwandel angekündigt, sie werde, sagte er, sich von allem unterscheiden, was er bis dato komponiert habe. Damals habe Puccini begonnen, „herb und ungefällig” zu werden, erklärte Heinrich Mann, der auch von Musik offenbar weniger verstand als sein Bruder. Sprach sich das Orchester in den Vorgängerwerken vor allem durch eingängige melodische Linien aus, übernehmen in „Fanciulla“ die Harmonik und die Instrumentierung den deskriptiven Part. Es gibt nur eine Arie, die es in die „Best of“-Sammlungen geschafft hat – korrekt formuliert: Es gibt nur eine Arie, und die hat es selbstverständlich in die „Best of“-Sammlungen geschafft –, Johnsons „Ch‘ella mi creda libero e lontano“, zu deutsch: „Lasset sie glauben, dass ich in die Welt zog“ (es heißt, dass viele italienische Soldaten mit dieser Melodie auf den Lippen in den Ersten Weltkrieg gezogen sind).
Der Primitivität und Derbheit der Goldgräberwelt entsprechen dunkle Orchesterfarben, allgegenwärtige Tritoni, Ostinati sowie die zentrale Rolle des Chores. Der besteht naturgemäß nur aus Männern, die unisono und in Oktavabständen singen, mitunter auf unfixierten Tonhöhen, was die Grobschlächtigkeit der jederzeit zur Lynchmobbildung bereiten Schar unterstreicht. Der waltende Grobianismus erschlägt freilich nur für diejenigen alle Feinheiten der Partitur, die eine Oper mehr sehen als hören.
Minnie, die Wirtin der „Polka“, der einzigen Kneipe weit und breit, ist ein engelhaftes Wesen, das den Goldgräbern aus der Bibel vorliest (in Belascos Schauspiel lediglich aus einem Buch namens „Old Joe Miller’s Jokes“), auf dass die ruppigen Kerle ein wenig Bildung erhalten. Auch ansonsten widmet sie sich der Mission, unter diesen Galgenvögeln zivilisierte Umgangsformen zu verbreiten. Für das zeitgenössische US-amerikanische Publikum sei Minnie eine Art Ikone gewesen, schreibt die Puccini-Biografin Mary Jane Phillips-Matz, als die Oper uraufgeführt wurde, hätten Millionen Amerikaner ihre Großmutter in der „Polka”-Wirtin erkennen können.
In ihrer engelhaften Unschuld ist Minnie gleichwohl eine etwas unrealistische Figur – nicht ganz so unrealistisch wie Isolde, Aida, Senta oder Leonore –, was sich aber ganz gut damit verträgt, dass auch Ramerrez alias Johnson den Banditen mit jeder Note und jedem Wort verleugnet. In seinem Schmachten nach der Schenkin steckt eine tristaneske Sehnsucht nach Erlösung von der Last der Existenz an sich. Wie eine solche Frau und ein solcher Kerl in eine solche Situation geraten konnten, bleibt rätselhaft. Es ist auch vollkommen egal, denn wir sind in der Oper – und wer sich einmal mit Personal und Ambiente arrangiert hat, wird bald bemerken: in einer der musikalisch besten, die es gibt.
„La Fanciulla“ ist ein Werk der dramatischen Effekte und in seiner Anlage beinah filmisch. Das meint vor allem den erwähnten zweiten Akt, dessen Spannungskurve grandios ist. Der gesamte Aufzug spielt in Minnies kleiner Hütte, hier empfängt sie den Fremden, der sich Mister Johnson nennt und mit dem sie im ersten Akt getanzt hat, verguckt sich noch heftiger in ihn und lässt sich von ihm unter seinem Inkognito den, wie es damals noch poetisch hieß, ersten Kuss rauben. (Die vom Schneesturm aufgestoßene Tür in dieser Szene zitiert die aufspringende Tür von Hundings Hütte in der „Walküre” und gehört zu den zahlreichen Anspielungen auf Wagner im Werk Puccinis.) Kurz darauf muss sie erfahren, dass ihr Besucher nicht nur Küsse raubt: Der Sheriff Jack Rance und ein paar Goldgräber kommen auf der Suche nach dem Banditen Ramerrez vorbei und erzählen ihr, dass dieser Mister Johnson, mit dem sie nachmittags getanzt hat, kein anderer als Ramerrez sei.
Kaum sind die Männer weg, holt sie ihren Herrenbesuch aus seinem Versteck und schmeißt ihn raus. Wenig später fällt draußen ein Schuss, Johnson taumelt verletzt ins Haus zurück, und bald schon klopft der Sheriff an die Tür. Minnie, die den Verwundeten auf dem Dachboden versteckt hat, lässt Rance ein. Der hat ihr schon im ersten Akt einen Heiratsantrag gemacht und weiß nun nicht genau, ob er sich die Frau, die endlich einmal allein und obendrein im Nachthemd vor ihm steht, einfach packen oder weiter den Räuber suchen soll; zudem hegt er halbbewusst den Verdacht, dass beides irgendwie zusammenhängen könnte. Von irgendwoher fällt ihm ein Tropfen Blut auf die Hand – es tropft im Orchester gewissermaßen aus der Harfe, ein schauerlicher Moment –, Rance entdeckt Mister Johnson über sich, und eigentlich wäre dessen Schicksal besiegelt. Doch Minnie bietet dem Sheriff eine Partie Poker um Johnsons Leben an. Ihr Einsatz ist ihre Jungfräulichkeit.
Diese Pokerszene ist ein ziemliches Unikum in der Opernliteratur. Wie komponiert man ein Kartenspiel in einer schneesturmumtosten Blockhütte um das Leben eines Mannes, der blutend und bewusstlos mit am Tische sitzt (oder, je nach Inszenierung, daneben liegt)? Puccini löst das Problem mit unheimlichen Tönen der Holzbläser, bedrohlichen Sechzehntelbewegungen in den Bässen, gedämpften Pauken und langen Pausen, in denen man tatsächlich wähnt, im Kino zu sitzen. Ausgerechnet der kolportagehaft wirkenden Szene mit dem herabkleckernden Blut soll übrigens ein reales Ereignis zugrunde liegen; Belascos Vater, der selber nach Gold grub, hat eine solche Story überliefert.
Die Spannungskurve dieses Aktes wäre natürlich nichts ohne die Musik. Eine suggestive Ostinatofigur untermalt das Bühnengeschehen und trägt es leitmotivisch. Sie hat anfangs etwas Schleppendes – das „Girl“ schleppt auf diesem Motiv ja tatsächlich, nämlich den angeschossenen Johnson ins Haus –, aber am Ende, nachdem Minnie den Sheriff geleimt und ihm das bereits verwirkte Leben ihres räuberischen Geliebten abgejagt hat, bäumt sich dieses Ostinato im Tutti des Orchesters auf und gewinnt dabei den kraftvollen Schwung eines sehr schweren Pendels. Hinein webt und mischt sich das teils hysterische, teils erleichterte Triumphgeschrei Minnies, das zwar nur der Rettung Johnsons beziehungsweise dem nunmehr erlangten Besitz seiner Person gilt („Er gehört mir!“), aber ungefähr so klingt, als verkündige sie auf direkten Geheiß Gottes die mit sofortiger Wirkung geltende Apokatastasis panton.
Stellen Sie sich vor, Sie könnten sterben, ohne das gehört zu haben.