12. Juni 2024

Der His­to­ri­en­film ist, von ehren­wer­ten Aus­nah­men abge­se­hen, ein ähn­lich min­der­wer­ti­ges Gen­re wie der his­to­ri­sche Roman. Die Fil­me von Rid­ley Scott gehö­ren nicht zu den Aus­nah­men. Nach­dem ich die vor Feh­lern, Über­trei­bun­gen, Ver­sim­pe­lun­gen und Kitsch strot­zen­den His­to­ri­en­schin­ken „Gla­dia­tor” und „König­reich der Him­mel” gese­hen hat­te, nahm ich mir fest vor, sei­nen „Napo­le­on” nicht anzu­schau­en, doch was ver­mag ein macht­lo­ses soge­nann­tes Fami­li­en­ober­haupt schon gegen den Druck der Basis? So tat ich’s denn doch cont­re cœur – und fand alle mei­ne Vor­ur­tei­le bestätigt.

Der Fair­ness hal­ber muss man bemer­ken, dass Napo­le­ons Leben jedes Men­schen­maß über­steigt und der Ver­such, die­se gesam­te Bio­gra­phie in einen Film zu pro­krus­ten, zwangs­läu­fig schei­tern muss. Die Regis­seu­re, die sich bis­her an Bona­par­te ver­such­ten, haben des­halb immer ein­zel­ne Epi­so­den aus die­ser Kome­ten­exis­tenz her­aus­ge­grif­fen, bevor­zugt die Hun­dert Tage und die Schlacht bei Water­loo (auch Kubrick woll­te einen Film aus­schließ­lich über die fina­le Nie­der­la­ge des Fran­zo­sen­kai­sers dre­hen). Rid­ley Scott hat sich also a prio­ri am The­ma ver­ho­ben. Die meis­ten Schwä­chen des Fil­mes rüh­ren daher. Es han­delt sich um will­kür­lich aus­ge­wähl­te, chro­no­lo­gisch anein­an­der­ge­reih­te, aber jen­seits der Chro­no­lo­gie zusam­men­hang­los wir­ken­de Epi­so­den­puz­zle­teil­chen. Aus die­sem Dilem­ma wird auch der Direc­tors Cut nicht herausfinden.

Von der Per­sön­lich­keit Bona­par­tes, der wie eine Natur­ge­walt über Euro­pa her­ein­brach, ver­mit­telt der Film nahe­zu nichts. Dabei macht Joa­quin Phoe­nix sei­ne Sache nicht schlecht. Aber alle ande­ren Figu­ren sind depri­mie­rend mise­ra­bel gecas­tet (außer der Dar­stel­le­rin der Marie-Antoi­net­te für ihren prä­lu­die­ren­den Kurz­auf­tritt). Der Welt­mann, ele­gan­te Plau­de­rer und eis­kal­te Intri­gant Tal­ley­rand etwa wirkt wie der Tür­hü­ter eines Dracula-Schlosses.

Das ging schon mal besser.

Einer der gött­lichs­ten Strei­che Tal­ley­rands, die Erzwin­gung der Demis­si­on von Bar­ras, die jenem mit einem Wech­sel von meh­re­ren Mil­lio­nen Francs schmack­haft gemacht wer­den soll­te – der Bür­ger Außen­mi­nis­ter steck­te aber den Wech­sel ein und droh­te dem Direk­to­ri­ums­chef nur nach­drück­lich mit den vor dem Schloss kam­pie­ren­den Trup­pen –, wird im Film nicht gezeigt (die Sze­ne selbst kommt vor).

Die Sex-Sze­nen sind fad und von unfrei­wil­li­ger Komik (den dog­gy style wird man jetzt wohl in le style de l’em­per­eur umbe­nen­nen). Der Dar­stel­ler des Alex­an­der wäre als Wer­ber in der Agen­tur von Don Dra­per („Mad Man”) bes­ser auf­ge­ho­ben als in Til­sit. Der Zar hat nach Napo­le­ons Abdan­kung tat­säch­lich Jose­phi­ne besucht, die sich für ihren (Ex-)Mann ver­wen­den woll­te, doch die Sze­ne, in der die bei­den in trau­ter Zwei­sam­keit in Jose­phi­nes Schlöss­chen mit­ein­an­der tan­zen, ist geschmack­los. Dass Napo­le­on wegen der Untreue sei­ner Favo­ri­tin die Ägyp­ten­ar­mee im Stich lässt, ist his­to­risch falsch, dass er im Film aus dem­sel­ben Grund die Gran­de Armée füh­rer­los in Russ­land zurück­lässt, eben­falls (gegen­über Cau­lain­court begrün­de­te er sei­ne Qua­si-Deser­ti­on mit der immer­hin wit­zi­gen Bemer­kung: „Mit den Fran­zo­sen ist es wie mit den Frau­en: Man darf sie nicht zu lan­ge allein lassen.“)

Und so geht es mun­ter­däm­lich wei­ter. Die Schlacht gegen die Mam­lu­ken des Murad Bey fin­det im Film, anders als in der Rea­li­tät, zu Füßen der Pyra­mi­den statt; die­sen Effekt woll­te sich der Regis­seur wohl nicht ent­ge­hen las­sen, doch dass er die Fran­zo­sen aus Spaß auf das Grab­mal des Che­phren feu­ern und des­sen ohne­hin ram­po­nier­te Ver­klei­dung noch mehr demo­lie­ren lässt, obwohl Bona­par­te extra eine Gelehr­ten­kom­mis­si­on mit­ge­nom­men hat­te, um die ägyp­ti­schen Alter­tü­mer zu erfor­schen, fällt wie­der­um unter: Blödsinn.

Mar­schall Ney, der „Mutigs­te der Muti­gen”, schaut aus wie der Foz­zi­bär. War­um nicht er, wie in Wirk­lich­keit, Napo­le­on nach des­sen Rück­kehr von Elba ent­ge­gen­zieht, um ihn zu ver­haf­ten und „in einem Käfig nach Paris zu brin­gen”, son­dern Gene­ral Mar­chand (der tat­säch­lich mit sei­nen Trup­pen in Gre­no­ble stand, um die Stadt gegen den Elba-Rück­keh­rer zu ver­tei­di­gen), bleibt schlei­er­haft. Die Völ­ker­schlacht bei Leip­zig, der eigent­li­che Grund für Napo­le­ons Abdan­kung und Exi­lie­rung, kommt nicht vor. Dass Bona­par­te die letz­te Kaval­le­rie­at­ta­cke von Water­loo selbst zu Pfer­de anführt, setzt dem Non­sens die Kai­ser­kro­ne auf. Ich will’s dabei bewen­den lassen.

***

Im Epi­so­den­schnip­sel Ägyp­ten­feld­zug gibt es eine Sze­ne, in wel­cher Bona­par­te eine Königs­mu­mie prä­sen­tiert wird, vor wel­cher er – welt­his­to­ri­sche Auto­kra­ten, Jahr­tau­sen­de ver­bin­dend, unter sich – in stil­ler Zwie­spra­che ver­harrt wie reich­lich hun­dert Jah­re spä­ter der jun­ge Win­s­ton Chruch­ill vor einer Büs­te von Napo­le­on („Lang­sam, Win­s­ton, lang­sam”, soll der Eng­län­der damals zu sich gesagt haben). Der Mumi­en­schrein ist jenem des Tutancha­mun nach­emp­fun­den, wäh­rend die Mumie jener von Ram­ses II. gleicht. Bei­des ist his­to­risch unmög­lich. Die Königs­mu­mi­en des Neu­en Reichs wur­den erst 1871 in ihrem Ver­steck in Deir el-Baha­ri ent­deckt, das Grab Tutancha­muns 1922. Aber dass sich der petit géné­ral auch Mumi­en ange­se­hen haben wird, viel­leicht die eines höhe­ren Beam­ten, darf als sicher gelten.

Der Maler Mau­rice Hen­ri Oran­ge hielt eine sol­che fik­ti­ve Sze­ne in sei­nem Gemäl­de Napo­lé­on Bona­par­te devant les pyra­mi­des, con­tem­plant la momie d’un roi von 1895 fest, (es hängt im Musée d’Art moder­ne Richard-Ana­cré­on, Gran­ville); da dürf­te Scott es herhaben.

Ich nahm die Sze­ne zum Anlass, ein­mal wie­der in Vivant Denons Buch „Mit Napo­le­on in Ägyp­ten” zu lesen, das Bona­par­tes obers­ter Kunst­räu­ber und Lei­ter des Musée Napo­lé­on, des spä­te­ren Lou­vre, nach sei­ner Rück­kehr aus Ägyp­ten ver­öf­fent­lich­te und das zu einem inter­na­tio­na­len Best­sel­ler wur­de, der viel zur sich damals in Euro­pa aus­brei­ten­den Ägyp­to­ma­nie bei­trug. Ein paar Zita­te dar­aus – ich wechs­le jetzt das The­ma – illus­trie­ren die enor­men Men­ta­li­täts­un­ter­schie­de zwi­schen Mor­gen- und Abendländern.

Im Ori­ent stand damals die Zeit buch­stäb­lich still. „Sie schei­nen nur dazu da zu sein, um das Land zu bevöl­kern”, notier­te der Fran­zo­se. Sei­ne Ein­drü­cke aus Kai­ro schil­dert er so: „Über­wie­gend fin­det man Paläs­te mit Mau­ern umzo­gen, die die Stra­ßen trau­rig machen, statt sie zu ver­schö­nern. Die Woh­nun­gen der Armen sind hier noch elen­der als ander­wärts, denn außer der Trost­lo­sig­keit und Dürf­tig­keit im All­ge­mei­nen kom­men hier noch die Sorg­lo­sig­keit und Nach­läs­sig­keit hin­zu, die das Kli­ma erlaubt. (…) Es scheint über­haupt, als wenn bei ihnen alles zur Ruhe ein­lädt, die Diwans, auf wel­chen man mehr liegt als sitzt, wo man sich wohl befin­det, und von denen auf­zu­ste­hen ein Geschäft ist; die Klei­dung, deren Ober­teil aus wei­ten Röcken besteht, die die Bei­ne mit umwi­ckeln, die gro­ßen Ärmel, die acht Zoll über die Fin­ger­spit­zen hin aus­rei­chen; ein Tur­ban, des­sent­we­gen man den Kopf nicht beu­gen kann; ihre Gewohn­heit, in der einen Hand eine Pfei­fe zu hal­ten, mit deren Dampf sie sich betäu­ben, und in der ande­ren einen Rosen­kranz, des­sen Per­len sie zwi­schen den Fin­gern durch­ge­hen las­sen; all dies ver­hin­dert jede Tätig­keit und jedes Nach­den­ken; sie sin­nen, ohne zu wis­sen, wor­auf, ver­rich­ten alle Tage das Glei­che und haben am Ende gelebt, ohne sich Mühe zu geben, in die Ein­för­mig­keit ihrer Exis­tenz Abwechs­lung zu bringen.”

„Der Des­po­tis­mus, der ewig befiehlt und nie belehrt, ist wohl unstrei­tig die Quel­le und der fort­dau­ern­de Grund die­ses Still­ste­hens von Hand­werk und Gewer­be. (…) Sie bau­en so wenig wie mög­lich. Nie bes­sern sie aus: einer Mau­er droht der Ein­sturz, sie stüt­zen sie, sie fällt wirk­lich, gut, so hat man eini­ge Zim­mer weni­ger im Haus, sie rich­ten sich neben den Trüm­mern ein; das Gebäu­de selbst ver­sinkt end­lich, sie ver­las­sen den Fleck.”

Nach eini­ger Zeit haben sich die Euro­pä­er ange­passt: „In der zwei­ten Nacht stürz­te unse­re Küche und unser Pfer­de­stall ein; aber gleich­gül­tig wie ech­te Musel­ma­nen rühr­ten wir uns nicht von der Stelle.”

Faul bis zu Lethar­gie, waren die Ara­ber doch muti­ge Krie­ger. Es half ihnen nicht gegen die euro­päi­sche Tech­nik. Eines der Resul­ta­te die­ses in end­lo­sem Gott­ver­trau­en ruhen­den Still­stands war die Nie­der­la­ge der bes­ten Rei­te­rei des Mor­gen­lan­des (wenn nicht der Welt, wie Denon schreibt) gegen ein Häuf­chen fran­zö­si­scher Infan­te­ris­ten, die sich zu Kar­rees for­mier­ten und die Mam­lu­ken ein­fach zusammenschossen.

Auch dar­über kann man meditieren.

 

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