Bekanntlich leben, weben und sind wir im Jahr 300 nach Kants Geburt. – Ist den Besuchern des Kleinen Eckladens und vielleicht sogar einem Freizeitastrologen unter ihnen aufgefallen, dass „Manelchen“ am gleichen Tag wie Lenin und zwei Tage nach Satans Geburtstag zur Welt kam? – Das aktuelle Jubiläumsgedöns um den Königsberger Alleszermalmer mit der großen Schwäche fürs Sittliche, in das der herrschende Wokismus bekanntlich munter hineinplärrt („Kant war Rassist!“), gestattet die Frage, wo die Aufklärung heute ihren Sitz haben mag. Sie wird sich ja wohl nicht davongestohlen haben? Also wo?
Eine ihrer Dependancen jedenfalls befindet sich in München und ist für mich bequem zu Fuß zu erreichen. Es handelt sich um eine Dachgeschosswohnung in Isarnähe, von deren kleiner Terrasse sich ein reizender Blick über die Dächer der perspektivenschönen Isarstadt und auf die Prinzregentenstraße eröffnet. Dort entstehen die meisten Texte für die Webseite Publico, und dort wurde ein Buch geschrieben, das dieser Tage erschienen ist und von dem der heutige Acta-Eintrag handeln soll:
Ich würde es Ihnen gern in glänzendes Lobespapier verpackt und mit superlativistischen Schleifchen umwickelt andienen, doch der Autor und ich sind befreundet, weshalb ich mich etwas mäßigen muss. Das Mäßigungsgebot löst freilich nicht das größte Problem, mit dem sich ein Rezensent dieser Schrift konfrontiert sieht, nämlich die Entscheidung, welche Passagen er nicht zitieren soll. „Verachtung nach unten“ ist der seltene Fall eines Sachbuchs, das man allein der Prägnanz und Luzidität seiner Sprache wegen lesen sollte.
Im angelsächsischen Sprachraum heißen Sachbücher nonfictional books, was vielleicht die bessere Bezeichnung sein mag. Alexander Wendt vereinigt in seinem Opus verschiedene Genres der nichtfiktionalen Wirklichkeitsbeschreibung, es ist eine Cuvée aus Essay, Reportage, Fallsammlung, Streitschrift und bürgerlichem Manifest. Das Buch schildert einen Kulturkampf, dessen Auswirkungen jeder Bewohner eines westlichen Landes täglich verspürt, weil er ihn nicht nicht verspüren kann – es sei denn, er (m/w/d) zöge sich in eine Einsiedelei zurück und verzichtete auf jeglichen Mediengebrauch. Ein Graben durchzieht die Gesellschaften des Westens, auf dessen beiden Seiten sich anscheinend unvereinbare Milieus sammeln. Sie stehen sich „nicht als gesellschaftliche Gruppen gegenüber, die miteinander streiten, sondern als feindliche Stämme“, notiert der Autor. Beide agieren aber nicht auf der vielbemühten Augenhöhe, sondern es gibt ein klares Oben und Unten; der Graben, um im Bilde zu bleiben, durchzieht eine stark geneigte Ebene. Die titelgebende Verachtung orientiert sich entlang dieser Neigung.
Den Unterschied zwischen Oben und Unten illustriert exemplarisch das politisch-mediale Echo auf diejenigen, die momentan in Deutschland Demonstrationen veranstalten: Während die Bauern, wie zuvor auch die französischen Gelbwesten und kanadischen Trucker, negativ gelabelt werden – vom „Mistgabel-Mob“ sprach kosend der Spiegel, der Chefreporter des Südwestfunks twitterte: „Traktorfahren macht offenbar dumm” –, erfreuen sich die Klimakleber und erst recht die vermittels einer Medienmanipulation zusammengetrommelten Demonstranten gegen „Rechts“ offiziellen Wohlgelittenseins. Die einen handeln finanziell auf eigene Kappe, die anderen erhalten Zuwendungen. Wer indigniert auf die gelegentlichen Ausschreitungen bei den Bauernprotesten hinweist, sei darin erinnert, dass die in Übersee rumorenden Black lives matter-Tumultanten, auf deren Konto nicht nur Plünderungen, Brandstiftungen, verwüstete Straßenzüge, sondern sogar Tote gehen, Spenden im dreistelligen Millionenbereich einstrichen.
Die meisten Angehörigen der politisch-medialen Klasse, die Kultur‑, Kirchen- und Gewerkschaftsfunktionäre, die Wortführer an den Universitäten sowie die sogenannten zivilgesellschaftlichen Organisationen konzentrieren sich auf der guten Seite; das ist weder neu noch ungewöhnlich. Das Besondere an jenem neuen Oben besteht darin, dass es sich nicht mehr wie in früheren Gesellschaften vorwiegend materiell vom Unten absetzt, sondern moralisch. Wendt führt als Kategorie für diese Differenz das „kulturelle Kapital“ ein, über welches die eine Seite verfügt, die andere nicht. Die protestierenden Bauern in den Niederlanden und in Deutschland zum Beispiel „gehören nicht zu den Armen, was Einkommen und Vermögen betrifft. Aber sie befinden sich unten nach den Maßstäben des kulturellen Kapitals. Sie haben in der Sinnproduktion nichts zu sagen. Ihnen fehlt die Macht, Begriffe zu prägen.“ Diese Menschen existieren mit ihren Problemen und Ansichten jenseits der zivilgesellschaftlichen Wahrnehmung und außerhalb des medialen Scheinwerferlichts – „die im Dunkeln sieht man nicht“, schließt bekanntlich die Dreigroschenoper –, und wenn sie sich auf rustikale Weise dennoch ins Wahrgenommenwerden drängen, fallen die Reaktionen aus dem Kreise der Sinnstifter entsprechend verächtlich aus.
So kommt es, dass, sagen wir, ein Zeit-Volontär, dessen Ein-Zimmer-Klause in Hamburg-Ottensen noch die Eltern bezahlen müssen, weil sein Einkommen dafür nicht ausreicht, sich einem Bauersmann mit 150 Kühen und 60 Hektar Land überlegen fühlen kann, weil er im Zentrum lebt und nicht an der Peripherie, weil er sich öffentlich um das Klima sorgt, regelmäßig gegen den deutschen Alltagsrassismus twittert, seine Cis-binäre Sexualität hinterfragt, die Privilegien der (anderen) Weißen checkt und sogar seine Mails penibel gendert. Er kann über den Bauern öffentlich sein Urteil sprechen, der Bauer umgekehrt nicht über ihn. Dasselbe Muster versetzt woke Studenten heute in die Lage, einen Professor, der anstößige, zum Beispiel konservative Ansichten vertritt oder auf Naturgesetzen beharrt, obwohl Weiße sie formuliert haben, so lange unter Druck zu setzen, bis er sich entschuldigt oder in die innere Emigration flüchtet oder von der Universitätsleitung gefeuert wird. Ein einziger falscher Satz, gelte er nun als „rassistisch“, „sexistisch“, „transphob”, „weiß-suprematistisch“ etc. pp., vermag Jahrzehnte wissenschaftlicher Reputation auf einen Schlag auszulöschen. Nach demselben Muster können inzwischen sogenannte DEI-Büros (das Kürzel steht für Diversity, Equity, Identity) und ESC-Kommandos (Environmental, Social and Corporate Governance), wie sie in nahezu allen größeren Unternehmen eingerichtet wurden, den anderen Abteilungen diktieren, welche Auflagen in Sachen Nachhaltigkeit, Diversität und Gleichstellung für sie gelten, und jeder Manager tut gut daran, das nicht weiter zu kommentieren – auch wenn die Regeln geschäftlich nicht den geringsten Nutzen ergeben –, weil das seinen Ruf und letztlich seinen Job gefährden würde. Ein Unternehmensführer besitzt im Normalfall nicht einmal die Macht, solche ohne jeden messbaren Effekt agierenden Kommissariate der Wokeness zu schließen, etwa im Zuge von notwendigen Einsparmaßnahmen, weil der Imageschaden größer wäre.
Dass, wie Wendt schreibt, „kulturelles Kapital heute das Materielle sticht“, ist die erste der drei großen Umkehrungen, die auf die Bewegung der Woken zurückgehen und übrigens auch den Lehren der klassischen Linken widersprechen. Die zweite, noch paradoxere Sinn-Verkehrung lautet: Das Bewusstsein bestimmt das Sein. Dieser Grundsatz gilt natürlich weder an der produzierenden Basis noch in jenen Stadtteilen, in denen das Gros der Migranten ankommt, sondern im Kokon der Sinndiktierer und Bewusstseinspräger. Zum Beispiel in den Parteizentralen der Grünen oder in jenen Redaktionen, wo steuerfinanzierter Haltungsjournalismus produziert wird. Dort ist man überzeugt, dass die meisten Probleme dadurch entstehen, dass man über sie spricht. Aus dieser Wahrnehmung betrachtet, gibt es für den Rechtspopulismus keine Ursachen in der Wirklichkeit, er existiert nur als böse Gesinnung seiner Vertreter („Nazis”) und verschwände, wenn man ihn einfach totschwiege. Zeitgeist-Moden wie Konstruktivismus und Poststrukturalismus haben der 180-Grad-Korrektur des marxistischen Basispostulates den Weg gebahnt, rund um die Uhr im Optativ lebende Politiker, Dozenten, Kulturschaffende und Medienvertreter zogen mit, und heute werkeln die Digitalkonzerne an der Fixierung der neuen Maxime – im Virtuellen mag man solchen Unsinn ja glauben –, außer natürlich bei den Umsatzzahlen und im Geschäftsbericht. 300 Jahre nach Kant ist das magische Denken in die Öffentlichkeit zurückgekehrt, wird zwischen bestimmten Worten und dem Gegenstand nicht mehr unterschieden, sind manche Begriffe so tabu, dass ihr bloßes Aussprechen zur Exkommunikation führt, herrscht der Glaube, fundamentale existentielle Kategorien wie Geschlecht oder Mutterschaft oder Volk seien „konstruiert” und durch einen Sprechakt zu ändern.
Wer meint, das Bewusstsein bestimme das Sein, muss das Denken der anderen zu prägen und zu beherrschen suchen. Er muss vorgeben, Sinn zu stiften. „In der Kaste der Wohlgesinnten“, schreibt Wendt, herrsche „neben der selbstverständlich akzeptierten Trennung in ein Zentrum und die Peripherie auch weitgehende Einigkeit darin, dass die wesentlichen Konflikte der Gesellschaft nicht mehr in der alten materiellen Sphäre stattfinden. Für sie gehört es zum Überzeugungsbestand, dass nicht mehr die schlechte Bezahlung und vor allem die schlechte Absicherung vieler Beschäftigter ein wirkliches Problem darstellen (die Milieuvertreter beeilen sich dann meistens zu sagen, diese Probleme gebe es auch), sondern die strukturelle, also tief in die Gesellschaft eingeprägte Diskriminierung beispielsweise von Menschen mit dunkler Hautfarbe, von Transsexuellen, von Muslimen, die als marginalisiert gelten und deshalb Aufmerksamkeit und mehr Sichtbarkeit verdienen. Ein weißer Lagerist, der weniger als 2000 Euro brutto bei Vollzeitarbeit verdient, gehört für sie durch seine Hautfarbe, aber auch durch die Geschichte seiner Vorfahren trotzdem zu den Privilegierten, eine Staatssekretärin mit Migrationshintergrund und dunklem Teint dagegen zu den ständig Diskriminierungsbedrohten, deren verletzte Gefühle mehr gesellschaftliche Zuwendung verdienen als die Lebensverhältnisse des schlecht bezahlten einheimischen Beschäftigten.“
Die daraus folgende dritte Umwertungsleistung der neuen Sinnschöpfer bestehe darin, dass es ihnen gelungen sei, „die Hauptrichtung der Gesellschaftskritik umzukehren. Sie verläuft neuerdings von oben nach unten.“ Seit Menschengedenken, so Wendt, gehöre die dünkelhafte Verachtung fremder Kollektive, sei sie ethnisch-kulturell oder sozial begründet, sei sie durch Klassen‑, Völker- oder Glaubensschranken markiert, zur Conditio humana, wobei der Kern der Verachtung darin bestehe, jemand anderem wegen dessen Gruppenzugehörigkeit bedenkenlos etwas zuzumuten, das man für sich selbst und seine Nächsten als empörend empfinden würde. „Aber nie und erst recht nicht in der Gegenwart galt der Blick nach unten als Ausweis einer großen charakterlichen Qualität, eines kritischen Bewusstseins, einer besonderen Sensibilität, einer Wohlgesinntheit. Nie galt kulturelle Verachtung als progressiv. Bis vor einigen Jahren jedenfalls. Erst als Teil der neolinken Theorie und Praxis erreichte das gesellschaftliche Herabschauen seine vorerst letzte Evolutionsstufe.“
Es gibt eine Schlüsselszene dafür, die der Autor in gebührender Ausführlichkeit würdigt. Sie spielt am Abend des 9. September 2016 im großen Saal der Cipriani Wall Street, einem neoklassizistischen Bau im New Yorker Financial District. Dort veranstaltete die Präsidentschaftsbewerberin Hillary Clinton gemeinsam mit Barbra Streisand eine Spendengala für den Wahlkampf der Demokraten, also ihren. Eingeladen hatten die Ladys die weiland noch nicht auf der Höhe des Q und seiner Gliederungen angelangte LGBT-Gemeinde der Stadt, die Kartenpreise für den Abend mit anschließendem Empfang durch die Kandidatin betrugen zwischen 2.500 und 250.000 Dollar. An jenem Abend verwendete Hillary Clinton in ihrer Rede eine Formulierung, die sie womöglich den Wahlsieg kostete, die aber vor allem jene Verachtung, die Wendts Buch im Titel trägt, vollendet zum Ausdruck bringt, auch im quantitativen Sinne: the basket of deplorables, „der Korb der Jämmerlichen“ oder „Beklagenswerten“. Wobei das merkwürdig schiefe Wort „Korb“ eher als „Haufen“ zu verstehen war. Mit dieser Formel bedachte Clinton nach ihren eigenen Worten „die Hälfte der Trump-Unterstützer”. Im schicken Lower Manhattan vor einem im hohen Maße solventen und im höchsten Maße woken Publikum rubrizierte die Kandidatin mehr als 30 Millionen Amerikaner unter „die Rassisten, Homophoben, Fremdenfeindlichen, Islamophoben – ihr wisst schon”. Diese 30 Millionen, für die abwertende Termini wie Rednecks, Hillbillys, Karens oder generell White Trash im Umlauf sind, schrieb sie komplett ab. Der anderen Hälfte der potentiellen Trump-Wähler gestand sie noch generös Gehör zu. Mehr aber nicht.
Das Zusammenfallen von gutem Einkommen, guter Gegend, gutem Leben und guter Gesinnung auf der einen, geringem Einkommen, Peripherie, prekärem Leben und böser Gesinnung auf der anderen Seite hätte kein Hollywood-Kitschier deutlicher überzeichnen können als die demokratische Präsidentschaftskandidatin auf ihrer Spendengala.
Wie die Wahl ausging, ist bekannt.
Verachtung ist der Kernaffekt der Woken gegenüber allen Nichtwoken. Die progressive Moral-Elite mokiert sich über die unverbesserlichen Underdogs. Das verhält sich in Deutschland nicht anders als in den USA; beleidigende und wahrhaft verhetzende Kommentare etwa über die ost- bzw. mitteldeutschen Hinterwäldler wegen ihres falschen Wahlverhaltens und überhaupt falscher Ansichten sind Legion. Einem politisch spiegelverkehrt agierenden Jan Böhmermann hätte die Polizei längst die Wohnungstür eingetreten und sämtliche elektronischen Geräte weggenommen. Idealtypisch hat sich im Zweiten deutschen Staatsfernsehen eine Maid namens Sarah Bosetti, ihrer Selbstwahrnehmung nach Kabarettistin, zur Gesellschaftsspaltung geäußert, indem sie fragte (damals ging es um die Coronaimpfung, aber der Anlass ist ja beliebig):
Idealtypisch ist dieses Gleichnis deshalb, weil es in schöner Klarheit „rechts” und „unten” zusammenbringt – das komplementäre „links” und „oben” kann sich jeder Zuseher selbst dazudenken. Der Dünkel wäre unvollständig, ja halbherzig, wenn er sich auf die Gesinnung beschränkte, weshalb er sich auf die gesamte Art zu leben erstreckt. „Die Verachteten sind, was die Wähler Robert Habecks, Emmanuel Macrons und Hillary Clintons nicht sein wollten. Der Wunsch, möglichst einen großen Abstand zwischen sich und den anderen zu lassen, beschränkt sich nicht auf die Ansichten der Peripheren zu Migranten und zur politischen Elite. Er schließt auch die Art und Weise ein, wie die Verlorenen sprechen, essen, sich kleiden, ihre Wohnungen und Einfamilienhäuser einrichten. Er erstreckt sich auf ihren Mediengeschmack, überhaupt auf ihren Geschmack. Er betrifft ihre Lebensweise. Das falsche Leben der einen erlaubt den Bewohnern des inneren Gesellschaftskreises, die Rolle der Moralischeren, Klügeren, Empfindsameren und ästhetisch Gebildeteren einzunehmen, kurzum: die Rolle der zum besseren Leben Erwachten.”
In einem historischen Exkurs vergleicht Wendt die Herablassung der Moralelite gegenüber den deplorables zunächst mit dem Standesdünkel der Adligen im Ancien Régime, um dann ihre eigentliche Geburtsstätte im England des 19. Jahrhunderts zu verorten, wo sich die Blasiertheit der Bessergestellten eine selbstwertstabilisierende Rechtfertigung erfand. Damals habe sich in den sittenstrengen Kreisen eine Theorie verbreitet, die Armut nicht mit geringen Löhnen, mangelnder Bildung und prekären Verhältnissen erklärte, sondern mit der moralischen Minderwertigkeit der niederen Klassen, vor allem deren Neigung zu Müßiggang und Laster. Wendt zitiert den Mediziner und calvinistischen Geistlichen Joseph Townsend, der in seiner 1786 veröffentlichten Dissertation „On the Poor Laws. By a Well-Wisher to Mankind” erklärte: „Die Armen wissen wenig von den Motiven, die Höherrangige zum Handeln bewegen – Stolz, Ehre und Ehrgeiz.” Die Leitbegriffe derer, die auf den Pöbel herabblicken, haben sich geändert, der selbstgefällige Affekt ist geblieben. Das Recht darauf, existentielle Privilegien gegenüber den deplorables zu genießen, entlehnen die Moralveredelten ihrer famosen Gesinnung.
(Bernd Zeller)
Umgekehrt ist bei den Linken neuen Typs die Eliten- und Machtkritik inzwischen tabu. Wie konnte es dazu kommen?
Bevor wir dieser Frage nachgehen, setze ich der Augenfreundlichkeit zuliebe drei Sternchen.
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Wer der im Untertitel des Buches stehenden Moral-Elite angehören will, muss zunächst einmal woke sein oder es fingieren. Das ist die Grundvoraussetzung, um an kulturelles Kapital zu gelangen. Die Plage der Wokeness, die in statu nascendi noch Political correctness hieß – mir fallen als Gleichnis spontan jene zähnefletschend-grimassierenden „Gremlins“ ein, die im gleichnamigen Film dem Leib des (allerdings viel zu niedlichen) Mogwai entsprangen und von der Stadt Besitz ergriffen, zumal der Film auch noch 1984 in die Kinos kam –, hat sich zum beherrschenden Kulturphänomen in der westlichen Welt aufgebläht. Beherrschend muss buchstäblich verstanden werden; von einer „Plage“ zu sprechen, ja nur einen Witz über die Erweckten zu machen, könnte sich niemand erlauben, der auch nur die kleinste Karriere in Politik, Verwaltung, Medien, Kulturbetrieb, Bildungswesen, längst auch in der Kirche und inzwischen sogar in der freien Wirtschaft anstrebt. Trotzdem gehört es zur Strategie der Woken, dass sie ihre Diskursherrschaft, die eigentlich eine Diskursverhinderungsherrschaft ist und sich der Methoden des Zensierens, Anschwärzens, Cancelns, Niederbrüllens, Mundtotmachens und zuletzt der sozialen Vernichtung bedient, schlichtweg bestreiten.
Davon abgesehen, dass die Wokeness die aktuelle Gestalt oder meinetwegen auch Larve des Linksseins bildet, was lediglich von ein paar Alt-Linken bestritten wird, gibt es tatsächlich weder eine verbindliche Begrifflichkeit, noch eine exakte Eingrenzung für diese Klientel. „Handelt es sich um ein Milieu, eine neue Klasse, eine Kaste, eine Schicht, wenn wir von den Wohlgesinnten im Zentrum der Gesellschaft sprechen, die in Medien, Politik und Institutionen Begriffe prägen, Diskussionsregeln aufstellen und Sinn produzieren?”, fragt Wendt. „Für jede einzelne Bezeichnung gäbe es gute Gründe. Nur der alte Klassenbegriff passt hier nicht.“
Der Publico-Betreiber verpasst dieser Klientel das Etikett „progressiv regressiv”, weil es sich um „verkehrte Linke” handele. Die Inversionslinken bedienten sich lediglich der „Symbolik der alten Fortschrittsbewegung”, um so „den Kritikreflex des politischen, akademischen und medialen Milieus links der Mitte weitgehend abzuschalten”. Und das funktioniere, obwohl es sich um eine Bewegung handele, „die ihre Ziele nur notdürftig mit einem progressiven Firnis überzieht, in Wirklichkeit aber darauf zielt, die Gesellschaft weit zurückzuwerfen, hinter die Aufklärung, hinter die bürgerliche Emanzipation, in ein neues dunkles Zeitalter des Tribalismus und damit notwendigerweise in eine Ära des permanenten Unfriedens”. Die Klassiker der Linken, mutmaßt Wendt, wären verblüfft, wenn sie sähen, dass ihre Erben „es für Fortschritt halten, wenn sich eine Gesellschaft wieder nach Eigenschaften wie Hautfarbe, Geschlecht und Herkunft gliedert und dass sie eine unabänderliche Verächtlichkeit bestimmter Menschengruppen als neue Doktrin verkünden”. In sämtlichen westlichen Ländern, heißt es im Vorwort, fände derzeit der Versuch statt, „die Bürgergesellschaft durch eine neue, von Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht und Religion definierte Gesellschaft der Stämme zu ersetzen, Parlamente durch Ständeversammlungen, den westlichen Individualismus durch das Denken im Kollektiv, die Meritokratie durch die Zuteilung von Ressourcen nach Quoten, das Aushandeln von Begriffen mit Rede und Gegenrede durch eine unkritisierbare Orthodoxie und den westlichen Rationalismus durch einen Okkultismus”. Davon handle und dagegen wende sich sein Buch.
Dass die Erfolgsaussichten für die Etablierung einer solchen postzivilisatorischen Gesellschaft zumindest unsicher sind, sei auch den Progressiv-Regressiven klar, meint der Autor. Die Propagandisten der permanenten Anklage wüssten sehr gut, dass keine (weiße westliche) Mehrheit ihre Sicht jemals akzeptieren könne. „Sie wissen, dass die ihrer Ansicht nach schuldbeladene westliche Zivilisation auf absehbare Zeit nicht verschwindet. (So, wie die radikalen Klimaprediger übrigens wissen, dass sich der Kapitalismus nicht so bald verflüchtigt.) Das Ideal der Progressiv-Regressiven besteht darin, die von ihnen behaupteten Ungerechtigkeiten dauerhaft anzuprangern, also im Namen der Moral Macht, Ressourcen, Aufmerksamkeit zu fordern, auch wenn sie behaupten, sie seien eigentlich angetreten, um empörende Verhältnisse zu beseitigen. Es geht ihnen darum, Tribut einzutreiben. Nicht für die, die sie zu vertreten vorgeben, sondern für sich selbst. Den perfekten Zustand erreicht die Gesellschaft in ihren Augen schon dann, wenn niemand mehr die Legitimität ihrer Machtausübung infrage stellt.”
Dieser Zustand ist freilich so gut wie erreicht. Teils lärmend und türknallend, teils diskret auf Taubenfüßen ist ein Konsens in die Gesellschaft eingezogen, dem sich zu unterwerfen für jeden Zeitgenossen, der außerhalb der rechtspopulistischen Parallelwelt irgendwohin aufsteigen oder auch nur in Ruhe gelassen werden möchte, verpflichtend ist, nämlich „dass Identitätsfragen wichtiger genommen werden müssen als alte Fragen vom Unten und Oben, dass die Wahl der richtigen Worte wichtiger ist als der Eingangssteuersatz, dass die Gesellschaft eher aus Kollektiven als aus Bürgern bestehen sollte, dass gleiche Chancen nicht genügen, sondern der Staat Gleichstellung mit Quoten notfalls erzwingen muss, dass es eine kollektive Schuld des Westens gibt, gegen die der Globale Süden Vorrechte besitzen sollte. Mit diesem Überzeugungssystem kann jemand in linken Organisationen arbeiten, aber auch als Redakteur einer Zeitung, die sich selbst als Stimme der Gemäßigten sieht, als Funktionär einer Partei, die sich als bürgerliche Kraft betrachtet, oder als leitender Angestellter eines börsennotierten Unternehmens. Diese Überzeugungen muss dort niemand mehr begründen.”
Es muss auch niemand wirklich von diesen Maximen überzeugt sein; wie die Moslems sind die Bolschewoken mit der Unterwerfung unters Glaubensbekenntnis bereits zufrieden.
(Nochmals: Zeller)
Aber wer hat diesen Zeitgeist durchgesetzt? Wer verwaltet und verteidigt ihn? Wer sorgt dafür, dass er nicht durch einen anderen ersetzt wird? Während sich traditionelle politische oder soziale Bewegungen um eine Führerfigur gruppierten – das letzte große Beispiel wäre Donald Trump –, ist die Bewegung der Woken eher einem Virenprogramm vergleichbar, das nach und nach die gesamte Festplatte übernimmt, aber im Analogen keine Oberpriester, keine zentralen Persönlichkeiten, keine bedeutenden Köpfe besitzt; keine Generäle, sondern lauter Unteroffiziere (von denen es einige, wie die Gender-Quacksalberin Judith Butler oder die antiweiße Wanderpfäffin Robin DiAngelo, immerhin zum Millionär geschafft haben). Wendt zitiert dazu das Buch „Twilight of Democracy. The Seductive Lure of Authoritarism“ – deutsch: „Die Verlockung des Autoritären” – von Anne Applebaum, und zwar als ein Pars pro toto für „Dutzende ähnlicher Bücher, die vor der Demokratiebedrohung warnen, vor Viktor Orbán, der PiS-Partei und nun wieder Donald Trump”, aber deren „Konzept von Autoritarismus” einzig die traditionelle Form der charismatischen Führerfigur kenne, die, gestützt auf eine relative oder absolute Mehrheit, ihren Willen durchsetzt. „Die Machtausübung von wohlorganisierten, mit kulturellem Kapital ausgestatteten Minderheiten kommt bei Applebaum und verwandten Autoren nicht vor.” Dabei besitze gerade diese Variante einen enormen Vorteil für die Machtausübenden: Sie können nicht einfach abgewählt werden. „Klassische Herrschaftskritik an den Handelnden und ihren Methoden fällt in diesem Modell sehr viel schwerer. Es gibt nicht das eine Gesicht der Macht, es existiert keine Zentrale mit Straße und Hausnummer. Darin ähneln die Bewegungen der Wohlmeinenden in bemerkenswerter Weise den zentrumslosen sozialen Netzwerken, ohne die es diese neuzeitlichen Machtkonglomerate nicht oder wenigstens nicht in dieser Form geben würde.”
Jetzt bin ich doch ins Zitieren gekommen, und wieder droht der Eintrag elend lang zu werden. Jedenfalls beschreibt Wendt die Techniken der Verachtung und die Zugangswege zum kulturellen Kapital – das überspringen wir jetzt –, um sich danach einem Phänomen zu widmen, welches man von den Jakobinern und vor allem aus der kommunistischen Weltbewegung kennt: dem Reinigungsfuror der Erwachten nach innen. Wie die Sowjetmacht, nur smarter und nahezu unblutig, führen die Wohlmeinenden einen Kampf an zwei Fronten. Während ihre verbalen Schläge und rhetorischen Tritte nach außen bzw. unten praktisch immer die Richtigen treffen, fallen den internen Säuberungen auch reihenweise Zeitgenossen zum Opfer, die sich selbst als links oder liberal verstehen. In einem ohnehin vorgesäuberten Milieu, an den Universitäten oder im Kulturbetrieb zum Beispiel, wo es kaum Konservative oder gar Rechte gibt, liegt das in der Natur der Sache. Das Ritual der Opferung ist viel zu wichtig, als dass man auf „falsche” Opfer Rücksicht nehmen könnte. Deren Exklusion schweißt die Herde der Wohlmeinenden umso fester zusammen. Abschreckende Beispiele stärken den Konsens. Einmütigkeit braucht ein minus eins, statuierte der Anthropologe René Girard; bestrafe einen, erziehe hundert, sekundierte der große Konsenssachverständige Mao. Das woke Kollektiv muss unter Stress bleiben, um zu funktionieren und weiter an seiner Reinheit zu arbeiten. Nur der permanente wechselseitige Bekenntnisdruck garantiert die Dynamik der Bewegung. Was die Vielfalts-Simulanten tatsächlich erzeugen, ist ein Konformismus, der seinesgleichen sucht.
Wendt zeichnet eine Reihe der Hexenjagden nach, die immer nach dem Muster ablaufen, dass der Rufmord auch dann seine karriereschädigende (cancelnde) Wirkung zeitigt, wenn sich der Anlass als nichtig erwiesen hat oder auf einer Falschbeschuldigung beruhte, während selbst ein der Lüge überführter Rufmörder kaum Konsequenzen zu befürchten hat, weil ihn wenigstens die richtigen Motive leiteten. Die meisten dieser Kampagnen ereigneten sich in den USA, wo man den Europäern zeitgeistig üblicherweise ein oder zwei Jahrzehnte voraus ist, und so stammt die meiste Literatur, die Wendt in seine Analyse einbettet, ebenfalls aus dem Mutterland der Wokeness, von Vicky Osterweils „In Defense of Looting”, Robin Di Angelos „White Fragility” („ein Grundlagenbuch des Verachtungsdenkens“) und Adrian Daubs „Cancel Culture Transfer” bis zu Peter Turchins „The Age of Discord” und Mark Lillas „The Once and the Future Liberal. After Identity Politics”.
Die woke Bewegung nahm ihren Anfang in amerikanischen Universitäten – die dümmsten Ideen stammen immer aus Universitäten – und hat, wie erwähnt, auch die Unternehmen ergriffen, doch nirgendwo fand sie symbiosetauglichere Verhältnisse vor als in den Internetkonzernen des Silicon Valley. Die merkwürde Allianz der Wokeria mit den Milliardärssozialisten der Plattformindustrie wurde in den Acta schon öfter thematisiert, und auch Wendt widmet diesem Bündnis und der Frage, was die unnatürlichen Partner verbindet, ein separates Kapitel. Das Verbindende ist erheblich. „Die prägenden Personen auf beiden Seiten nehmen die Welt ähnlich wahr. Beide ignorieren, was Gesellschaft eigentlich bedeutet: nämlich ein über Generationen gewachsenes Gefüge aus Tradition, Sprache, Rechtsauffassungen und glücklicherweise befriedeten Kämpfen in der Vergangenheit.” Gemeinsam sei ihnen die „Feier des permanenten Wandels”, gemeinsam blickten sie auf das Gewachsene herab und meinten, es sei der Erhaltung nicht wert. „Beide der angeblich ungleichen Partner wünschen sich, was Regeln und Strukturen betrifft, eine größtmögliche Homogenität. Die Gesellschaft selbst soll sich in eine Plattform mit einheitlichem Betriebssystem und gleicher Software verwandeln, gleichgerichtet, alternativlos.”
Beider Ideal sei das Monopol.
„Beide treffen sich harmonisch in der Verachtung für alle, die Umwälzungen nicht freudig begrüßen, und geißeln deren trotziges Beharrungsvermögen. Mit dem Begriff des Bürgers kann weder ein Regressiv-Progressiver noch ein Plattformlenker etwas anfangen. Beide wünschen sich eine Gesellschaft der Objekte statt der Subjekte.”
Und so verwandelt sich ein auf den ersten Blick noch unnatürlich und schief wirkendes Bündnis in ein geradezu naturhaftes.
Es sind wieder einmal die auflockernden Sternchen fällig, finden Sie nicht?
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Die meisten Progressiv-Regressiven arbeiten nicht im produktiven Sektor, können aber gut bis blendend von ihrem Einkommen leben. Doch wie steht es eigentlich um jene Klientel, als deren Sprecher sie sich ausgeben? Zu den stärksten Abschnitten in Wendts Buch zählen die eingangs erwähnten reportagehaften Passagen, bei aller analytischen Brillanz der anderen. Als guter Reporter hat er sein Thema nicht nur am Schreibtisch recherchiert. Gleich im ersten Kapitel besucht der Autor eine wilde Migrantensiedlung in der Cova de Vapor, der „Dampfbucht”, in Trafaria an der portugiesischen Westküste, südlich von Lissabon. Wer diesen Ort betritt, „verlässt Europa”. In etwa sechshundert Hütten, überwiegend aus Hohlziegeln errichtet und mit Blechplatten gedeckt, leben an die dreitausend Menschen, fast alle stammen aus Afrika. Die Siedlung an der Cova de Vapor ist eine jener weltweit zu findenden „Ankunftsstädte”, wie der kanadische Autor Doug Saunders in seinem Buch „Arrival City: How the Largest Migration in History is Reshaping Our World” solche Agglomerate nennt. Eigentlich handelt es sich um ein „Ankunftsdorf”, notiert Wendt. „Es gibt fast nur Provisorien.” Niemand will hier bleiben. Die Migranten möchten schnellstmöglich nach Lissabon oder in andere europäische Städte weiterziehen, um tatsächlich irgendwo anzukommen. Ihre Lebenswünsche sind einfach: ein Job, eine Wohnung, eine Familie. Eine Mehrheit der Migranten, Kriminelle und Sozialleistungsabgreifer hin, religiöse Eiferer her, will nichts als ein normales Leben führen, betont Wendt. Sie suchen gerade keine Gesellschaft, in der die Regeln des Zusammenlebens täglich neu ausgehandelt werden, weil sie das aus ihren Herkunftsländern kennen. Sie wollen genau das Gegenteil: „Stabilität”.
Die „Dampfbucht” ist der äußerste Rand der Peripherie. Deutlich weiter im Inneren, doch nach den Maßstäben der Verwalter des kulturellen Kapitals immer noch weit draußen, vollzieht sich beispielsweise das Leben von Wolfram Ackner, eines Schweißers, der mit seiner Frau und seinen drei Töchtern in einem (noch nicht abbezahlten) Haus am Rande von Leipzig wohnt und den Wendt als nächsten Zeugen präsentiert. Auch Ackner verlangte es, nachdem er jahrelang als Berufsnomade um den halben Globus gereist war, nach Stabilität. Nach einem Zuhause. How dare he?
Ganz anders die woken Sinnpräger im Zentrum der Gesellschaft. „Sie beschäftigen sich mit der Herstellung von Unsicherheit”, beobachtet Wendt. „Ihre Formeln dafür heißen ‚Riss im System’, Disruption, Umbruch, Abriss, Aufbrechen von Strukturen. Ihre Forderung lautet, dass der Boden um sie herum schwanken und das allermeiste, was auf ihm steht, zum Einsturz bringen soll. Sie verkünden die Lehre vom permanenten, alle mitreißenden Wandel.” Maliziös bezeichnet Wendt sie als „weiße Mittelschichtsangehörige mit Hang zum Dekonstruktivismus” oder „Verkrustungsaufbrecher mit Kuratorenstatus”. Ihre Parole könne lauten: „Friede dem Zentrum, Krieg der Peripherie”. Offenbar glaubten sie selbst daran, dass die von ihnen besiedelten Zentren von jenem großen Umbruch, den sie ständig fordern, verschont bleiben.
Solche Edle empfinden Vorbehalte ihren Motiven gegenüber oder gar Kritik als Sakrileg und reden normalerweise nur mit Ihresgleichen. Einer immerhin, Tadzio Müller, „Deutschlands Klimaaktivist der ersten Stunde” (taz), für den „die Berufsbezeichnung Protest-Entertainer am ehesten passt, vielleicht auch Protest-Entrepreneur” (Wendt), war unkonventionell genug, den Autor von „Verachtung nach unten” zum Gespräch zu empfangen (wie übrigens auch die Verantwortliche für Diversity, Equity und Identity bei BMW). Müller ist nicht nur ein Streiter gegen die fossile Energieerzeugung, Mitgründer der Bewegung „Ende Gelände” und zwischenzeitlicher Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung, sondern ein Homosexueller, der als BDSM-Hure arbeitet, also praktisch unkritisierbar. Er lebt in einer Berliner Altbauwohnung, die ihm der Papa geschenkt hat, und das süße Problem der Kinderaufzucht ist nicht seins. Der zentrale Satz, den er im Gespräch mit Wendt ausspricht, lautet: „Warum soll ich irgendetwas davon abhängig machen, was ein Arbeiter bei VW denkt?” Von Müller stammt der Begriff „Normalextremisten”, der zeigt, dass er in jenem Teil der Bevölkerung offenbar ein Problem sieht. Es sind diejenigen, die das kapitalistische System weder sprengen noch abschaffen wollen, weil sie wissen, dass es sie ernährt. Es sind diejenigen, die fossile Energie verbrauchen, indem sie zur Fabrik pendeln, diejenigen, die nicht global denken, sondern an ihre Familien, die die Große Transformation der Industriegesellschaft nicht vorantreiben, sondern behindern, und die wahrscheinlich populistische Parteien wählen. Es sind diejenigen, „die den großen Riss im System nicht wünschen, sondern fürchten”, kommentiert Wendt. „Meist fehlt ihnen auch ein Elternteil, der ihnen das Geld für eine Eigentumswohnung in einer europäischen Großstadt schenkt.”
In solchen Passagen ist „Verachtung nach unten” pures Dynamit.
Der Autor präsentiert zwei soziale Milieus, zwischen denen eine unsichtbare, aber unüberwindliche Mauer existiert, ja die im Grunde auf verschiedenen Planeten leben, wobei das Milieu der Wohlmeinenden bei denen im Dunkeln, den Stabilitätsnarren, ähnlich wie Hillary Clinton einen Unterschied macht zwischen den deplorables, den peinlichen Landsleuten, und den Migranten; zu Letzteren pflegen sie zwar auch keinerlei Kontakte, behaupten aber, ihre Interessen zu vertreten. Ein monströs lächerliches Sinnbild solcher Interessensvertretererschleichung wurde anno 2012 mit EU-Fördergeldern in die „Dampfbucht” gepflanzt: die „Casa do Vapor”. Eine besonders progressive Architektengruppe schuf dieses „Projekt”, ein Holzhaus mit einer Gemeinschaftsküche mitten in der Siedlung. Den Erbauern zufolge verkörperte ihr Werk „partizipatorisches Design” und eine „kollektive Bricolage”. Sie verkauften es als „Austauschort zwischen Praktikern, Teilnehmern und lokalen Anwohnern”, sprachen von „Konzepten des sozialen Raums” und rühmten die einzigartige soziale und urbane Umgebung. „Das mit dem europäischen Kulturhauptstadtprogramm finanzierte und von Aktivisten errichtete Gemeinschaftshaus aus Holz stand merkwürdigerweise nur ein Jahr, bis 2013. In der Dampfbucht, wo praktisch alles aus Provisorien besteht, gehörte das Kulturhauptstadtgeschenk zu den kurzlebigsten Bauten überhaupt.”
Der Wunsch der allermeisten Menschen nach Stabilität und der Ruf einer Elite nach permanenter Umwälzung, resümiert Wendt, trenne diese beiden Gruppen schärfer voneinander als Reichtum und Armut, Herkunft oder Religion. „Wenn jemand die Wendung ‚Verkrustungen aufbrechen’ benutzt, dann meint er so gut wie nie seine eigenen.”
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„Wer von Gruppenidentitäten spricht, muss sich sozial blind stellen.”
(Noch so ein Wendtscher Merksatz)
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Am Ende seines Betrachtung führt Wendt den Bürger als Gegenspieler der Progressiv-Regressiven ein und errichtet eine Art Gesetzestafel aus zwölf Regeln als „Summe aus der Geschichte von Bürger‑, Macht- und Rechtsverständnis”, die als Grundlage zur Befriedung der Gesellschaft hilfreich sein könnten. Und zwar (ich spare mir die Anführungsstriche):
1. In einer offenen Gesellschaft lässt sich aus der Hautfarbe weder eine generelle Privilegierung noch eine generelle Diskriminierung ableiten.
2. Schuld ist immer individuell und konkret. Niemand muss sich eine Schuld für den Kolonialismus und die Sklaverei einreden lassen. Es gibt keine „white guilt”.
3. Niemand kann eine moralischere, höherwertige Sicht der Dinge für sich beanspruchen, weil er einer Minderheit angehört.
4. Wenn sich jemand durch eine legitime Meinungsäußerung „verletzt” fühlt, ist das ein Affekt, aber kein Argument, das jemand kümmern müsste.
5. Im öffentlichen Raum hat niemand Anrecht auf einen „safe space”, also einen Schutzraum vor Kritik und überhaupt anderen Meinungen.
6. Institutionelle Machtteilung, Rede und Gegenrede gehören zu allen öffentlichen Angelegenheiten. Zweifel gehört zur Wissenschaft.
7. Von keinem Mitarbeiter in einem Unternehmen und einer Institution dürfen Bekenntnisse verlangt werden, die über das hinausgehen, was Verfassung und allgemeine Gesetze vorsehen.
8. Es ist völlig legitim, eine pauschale Anklage gegen den Westen als kolonialistisch, rassistisch und unterdrückerisch genauso pauschal als anmaßend zurückzuweisen.
9. Wer die Existenz einer „weißen Schuld” und einer kollektiven westlichen Schuld für die Vergangenheit behauptet, sollte umgehend mit der Frage konfrontiert werden, was ihn dazu legitimiert.
10. Weder der Staat mit seinen Ressourcen noch überwiegend staatlich finanzierte Organisationen haben sich am öffentlichen Meinungsstreit zu beteiligen.
11. Der Staat und seine Repräsentanten befinden sich gegenüber den Bürgern in einer dienenden Position. Sie sind den Bürgern verantwortlich, nicht umgekehrt.
12. Erwachsene sind keine Erziehungsobjekte. Auch die beste Absicht rechtfertigt keinen Übergriff auf die Souveränität des Bürgers.
Im Schlusskapitel entwirft der Autor eine Art Neuen Westfälischen Frieden, der die Spaltung der Gesellschaft zwar nicht überwinden, aber erträglich machen soll, so wie sich 1648 Protestanten und Katholiken ja nicht zur Ökumene versammelten, sondern die Kämpfe einstellten. „Im Grunde bräuchten die Regressiv-Progressiven nur einen Schritt zu unternehmen – sie müssen den Kulturkrieg einstellen”, schreibt er. Die Woken hätten den größeren Schritt zu tun, da sie momentan am Drücker säßen, doch sie sollten sich vor Augen führen, dass sie außer Abrissarbeiten nichts anzubieten hätten und der Peak of Wokeness womöglich schon vorüber sei.
„Deshalb noch einmal zur Erinnerung, was Kulturkrieg bedeutet: Ganze gesellschaftliche Gruppen als Erbärmliche, als Abgedriftete, als Unbedeutende zu etikettieren – das ist Kulturkrieg. Vorträge und Veranstaltungen, die sich im legalen Rahmen bewegen, aus politischen Gründen zu verhindern – das ist Kulturkrieg. Staatlich finanzierte Meldestellen für strafrechtlich nicht relevante Meinungen einzurichten – das ist Kulturkrieg. Der Mehrheitsgesellschaft einzureden, sie sei kollektiv rassistisch und trüge eine Erbschuld für die Vergangenheit – das ist Kulturkrieg. Druck auf Universitäten, Verlage, Medien auszuüben mit dem Ziel, die Forschung zu gängeln und das Erscheinen bestimmter Texte zu verhindern – das ist Kulturkrieg. Jeden, der etwas gegen diese Kulturkrieger vorbringt, zum Gesellschaftsfeind, zum Demokratiefeind, zum Faschisten zu stempeln – das ist Kulturkrieg. All diese Dinge geschehen. Alles, was die Regressiv-Progressiven ihrerseits zur Befriedung beitragen müssten, wäre, sie in Zukunft zu unterlassen.”
Nicht der Pendelausschlag in eine Säuberung von rechts, sondern die Entgiftung der öffentlichen Atmosphäre sei das Ziel. Wem sein Kompromissvorschlag zu nachgiebig gegenüber Leuten erscheine, die sich selbst meist keine Rücksicht bei ihren Kampfmethoden auferlegten, dem empfiehlt Wendt eine Meditation über Ciceros Satz: „Der ungerechteste Frieden ist immer noch besser als der gerechteste Krieg.” Ein auf Dauer gestellter Kulturkrieg „könnte am Ende das vernichten, was in der Gesellschaft alle dringend brauchen – die Stabilität. In einem Sieg auf einem Trümmerhaufen liegt wenig Wert. Das gilt für jede Seite.”
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