Und als die dämmernde Frühe mit Rosenfingern erwachte …
Die Plattenbauten aus der Sowjetzeit ramponieren der Eos denn doch etwas die Aura.
Überwiegend frei von Menschenwerk indes sind die endlosen Strände des einstigen Ostpreußen, wo man kilometerweit wandern kann und kaum eine Seele trifft.
In Pionerski auf der Halbinsel Samland, zwischen den Badeorten Selenogradsk (Cranz) und dem derzeit wegen eines gigantischen Umbaus teilweise vom Meer abgetrennten Swetlogorsk (Rauschen), etwa 35 Kilometer nördlich von Königsberg, befindet sich eine Datscha von Wladimir Putin. (Ob der Hausherr jemals dort gewesen ist – Putins geschiedene Frau ist Kaliningraderin –, entzieht sich meiner Kenntnis.)
Als ich an dem weiträumig umzäunten Bau vorüberflanierte, fiel mir eine Bemerkung Friedrichs des Großen ein, der auf die Frage, warum er Schlesien angegriffen habe, entgegnete, es habe ihn gereizt, seinen Namen in den Gazetten zu lesen.
Das jedenfalls hat Wladimir Wladimirowitsch geschafft.
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Etwas rätselhaft ist die Gleichzeitigkeit von, wie soll ich’s nennen, Resowjetisierung und Rechristanisierung in Russland. Die Bolschewiken haben das Christentum bekanntlich als ein reaktionäres Überbleibsel des Zarentums betrachtet (bei Marx: der bürgerlichen Gesellschaft, aber die existierte in Russland ja kaum) und bis zur Ausmerzung bekämpft. Die Sowjetkommunisten sprengten in den 1920er und 30er Jahren fast alle Gotteshäuser oder entweihten sie für profane Zwecke – von über 50.000 Kirchen, die vor Lenins Oktoberputsch existierten, ließen sie keine hundert übrig –, sie schlossen sämtliche Klöster, vernichteten die Ikonen und deportierten Abertausende Geistliche in den Gulag; Historiker sprechen von der größten Christenverfolgung aller Zeiten.
Das ist der Grund, warum nahezu sämtlichen Kirchen in Russland die historische Patina fehlt: Es sind Neubauten (hier die Christ-Erlöser-Kathedrale in Königsberg-Kaliningrad).
Auch wenn die späte UdSSR den eisernen Griff um die Kirche etwas lockerte, darf man die Kommunisten zu den fanatischsten Feinden des Christentums rechnen, und es mag ein Wunder sein, dass die russische Christenheit den Gottesstaat der Atheisten überlebte und ungebrochen fortexistiert (vielleicht stählt Verfolgung eine Religion letztlich auch; wer weiß das schon). Doch wie kann es sein, dass sich das politische Russland heute gleichermaßen auf eine schöngefärbte sowjetische Geschichte und die von den Sowjets bekämpfte orthodoxe Kirche stützt? Das entbehrt jeglicher Logik.
Nun, Logik ist Glaubenssache, und die beiden so unverträglich erscheinenden Elemente russischen Selbstbewusstseins beginnen sich miteinander zu vertragen, wenn man sie ausschließlich als Bestandteile einer Großmachtsideologie betrachtet. Sowohl der wiedergekehrte Einfluss der Kirche auf die Gesellschaft als auch ein gewisser UdSSR-Kult stabilisieren die Idee eines russischen Imperiums, das jetzt eben wieder „orthodox” beziehungsweise religiös – auch dortzulande wächst der Anteil der Muslime in der Bevölkerung – zu sein hat. Eine ähnlich windschiefe Konstellation ergab sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion für das Verhältnis von Tätern und Opfern des alten Systems, worauf der Historiker Jörg Baberowski hingewiesen hat: Putin machte ihnen ein Angebot, das sie nicht ablehnen konnten, nämlich nicht Kontrahenten, sondern gemeinsam Sieger – des Weltkriegs – zu sein.
Die Kirche, die nach dem säkularreligiösen Intermezzo wieder in ihre angestammte Rolle zurückgekehrt ist, mag sich heute von der Geschichte bestätigt fühlen. Den Kommunisten verzeiht sie die atheistische Verwirrung, weil sie immerhin ein Reich geschaffen und den Zweiten Weltkrieg gegen Deutschland gewonnen haben. Die gemeinsame Ablehnung des westlichen Liberalismus ist ebenfalls ein starker patriotischer Kitt. Frei nach Andy Möller könnte man sagen: Ob Kommunismus oder Orthodoxie, Hauptsache Russland, Hauptsache Großmacht.
So unterscheiden sich die TV-Galas äußerlich auch nicht sonderlich von jenen der sowjetischen Zeit.
Wie die UdSSR präsentiert sich Russland nicht als Nationalstaat, sondern als Vielvölkerstaat, als Imperium, unter der Überschrift Русский мир – die russische Welt. Das unterscheidet die russische „Buntheit” von der deutschen bzw. westeuropäischen.
PS: „Ich lese ja Ihre Acta Diurna mit grossem Interesse, meistens sogar mit Genuss, jetzt fühle ich das starke Bedürfnis, meinen Senf dazuzugeben”, schreibt Leser ***. „Wie Sie selbst wahrscheinlich mindestens so gut wissen wie ich, leben wir in einem Deutschland, wo:
– regelmässig missliebigen Personen das Konto gesperrt wird,
– morgens um 6 wegen läppischer Delikte (Beleidigungen und dergleichen) mit massivem Polizeieinsatz Hausdurchsuchungen durchgeführt werden (einschliesslich der Konfiszierung der gesamten IT-Ausrüstung),
– RT Deutsch und andere Medien (Feindsender) gesperrt werden,
– die Innenministerin den deutschen Beamten die Nachweispflicht auferlegt, staats- und v. a. regierungstreu zu sein (Beweislastumkehr) und ein neuartiges Delikt names ‚Delegitimierung des Staates’ herbeifantasiert,
– wo die EU mithilfe des Digital Service Act (DSA) dem Bürger die Informationen zuteilt, die er noch sehen darf.
Und das mit dienstfertiger Unterstützung der Mainstream-Medien. (Aufzählung ohne Anspruch auf Vollzähligkeit.)
Vor diesem Hintergrund den Russen ‚Ablehnung des westlichen Liberalismus’ vorzuhalten, finde ich schon etwas schräg.”
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Bis an die Sterne reichte einst ein Zwerg.
Sein irdisch Reich war nur ein Königsberg.
Doch über jedes Königs Burg und Wahn
Schritt eines Weltalls treuer Untertan.
(Text: Karl Kraus)
Freilich, bevor es sich auch bis nach Russland herumspricht, dass Kant ein weißer Suprematist, Rassist, Antisemit und irgendwie auch ein verhinderter Sexist war, wird Deutschland wohl längst ein von Rassisten, Sexisten, Antisemiten und antiweißen Suprematisten übernommenes Land sein.
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Die Schonung des Kant-Grabs bei der Eroberung Königsbergs durch die Rote Armee – er war der einzige Deutsche, der verschont wurde – geht auf einen Befehl Stalins zurück, der bei Marx und Lenin gelesen hatte, dass der deutsche Idealismus zwar ein Unternehmen bürgerlich beschränkter Philosophen war, Kant und Hegel aber irgendwie als Fortschrittsdenker und geistige Vorläufer des Kommunismus vereinnahmt werden konnten. In der heutigen Kant-Erinnerungsstätte im alten Dom, von einem Museum kann man nicht reden, finden sich neben der Kopie der Totenmaske und ein paar Handschriften kaum historische Überbleibsel aus dem Haushalt des Vernunftkritikers und „Alleszermalmers” (Moses Mendelssohn). Ich weiß nicht, ob dieser Anzug ein Original ist, er sieht recht ungetragen aus:
Irgendwie mussten die auf drei Etagen verteilten fünf Räume im Westgebäude des alten Königsberger Doms aber mit Exponaten gefüllt werden, um einen musealen Eindruck zu erwecken.
Kant war Preuße, und in Königsberg wurde 1701 das Königreich Preußen gegründet. Eine Sammlung von preußischen Medaillen und Erinnerungsmünzen passt also in die Выставка und erregte mein teilnehmendes Interesse.
Sofort rief ich mich zur Ordnung und memorierte in Gedanken die Worte, die der Große Bundespräsident des besten Deutschlands, das es je gab, angelegentlich des 150. Jahrestages des Reichsgründungsunheils zu seinem die Corona-Sicherheitsabstände sorgsam einhaltenden Fachpublikum und zugleich an die Adresse aller anständig gebliebenen Almans beziehungsweise in deren Namen gesprochen hatte: „Wir Deutsche stehen dem Kaiserreich heute so beziehungslos gegenüber wie den Denkmalen und Statuen von Königen, Kaisern und Feldherren aus dieser Epoche.” Vielleicht, sagte eine innere Stimme zu mir, die der des Bundespräsidenten sehr ähnlich klang, bistu gar kein Deutscher? Vor allem kein „Wir Deutsche”-Deutscher?
Daraufhin lenkte Allah meinen Blick auf den Ausspruch eines steinmeierschen Amtsvorgängers.
Glücklich das Land, dem ein Pahl-Rugensteinmeier sein „Wir” dekretiert!
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Leser ***, „seit einigen Jahren” regelmäßiger Besucher des kleinen Eckladens, war „sehr überrascht, dass Sie meine Heimatstadt besuchen. Ich bin dort geboren und aufgewachsen, lebe aber schon länger in Deutschland und studiere hier Mathematik. Seit Beginn des Krieges bin ich nicht mehr dort gewesen. Und ausgerechnet heute schreibt mir meine Mutter, ich möge doch zu Silvester endlich mal die Familie besuchen (in Russland ist es ja die Zeit für Familientreffen, wie hierzulande Weihnachten). Da überlege ich also und plane, und plötzlich lese ich Ihren Artikel. Für mich war es wie ein Zeichen, dass ich dorthin fahren soll, trotz der politischen Lage. Wie alles manchmal zusammenkommt.
Die Stadt hat wirklich etwas Besonderes. Während meiner Zeit dort sah ich immer die schönen alten deutschen Gebäude, die inmitten der grauen sozialistischen und den oft geschmacklosen Bauten der neunziger Jahre so sehr herausstachen. Sie waren für mich wie Überreste einer anderen Welt, in die man eintauchen und dem Alltag entfliehen kann. So dachte ich in meiner grenzenlosen Naivität damals, wenn ich nach Deutschland ziehe, gibt es ja nur solche schönen Gebäude und ich könnte wirklich in dieser Welt leben. Dann bin ich brutal mit dem Verbrechen gegen die Ästhetik namens westdeutsche Nachkriegsarchitektur konfrontiert worden. Ich habe wirklich gestaunt, wie dieselben Menschen, die vor dem Krieg so gebaut haben, dass es mich selbst in Kaliningrad, Jahrzehnte nachdem es Russland gewesen ist, fasziniert hat, nach dem Krieg etwas so Hässliches bauen konnten.
Manchmal habe ich das Gefühl, in den ehemaligen deutschen Ostgebieten lebt vielleicht etwas weiter, das Deutschland selbst nicht mehr hat, diese besondere Atmosphäre und Lebensgefühl, dessen Ausdruck die Architektur ist. Vielleicht romantisiere ich einfach nur meine Zeit in Kaliningrad, wer weiß. Jedenfalls freue ich mich darauf, wieder meine Lieblingsviertel zu besuchen und diese besondere Atmosphäre zu erleben. Es ist so seltsam, dass man in Europa lebt, aber dieses Europa, wie man es sich in Russland vorgestellt hat, zunehmend gar nicht mehr existiert. Manchmal wünsche ich mir, für eine Woche im früheren Deutschland leben zu dürfen, denn es war wirklich großartig. Je länger ich nun im Deutschland von heute lebe, desto weniger bleibt von meiner anfänglichen Begeisterung.”
Irgendwie fühlt man sich nach einem solchen Brief als Deutscher ein bisschen mitschuldig, mindestens aber von einer kollektiven Dämlichkeit oder Erbärmlichkeit in die Mithaftung genötigt.
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Womit wir thematisch in Deutschland angekommen wären – und damit bei den alten Plagen. Zum Beispiel dem Personalwechsel (mit begrenztem Serviceangebot), unter Brüdern verbotenerweise auch „Umvolkung” genannt.
Und bei der Cancel Culture.
„Nach SZ-Informationen erfolgt die Unterlassung wegen der Zusammensetzung der Mitwirkenden” – puh, ich hatte schon gefürchtet, es habe damit zu tun, dass Reclam sich mit dem Deutschland-Büro der Hamas auf einen Schlussstrich unter den jüdischen Opferkult verständigt hat. Steimle, belehrt die Gazette ihre Leser, „wird der sogenannten ‚Neuen Rechten’ zugeordnet”, und diese Buben haben das Recht verwirkt, Texte von Klemperer vorzutragen, bei denen das Publikum obendrein noch auf dumme Parallelen kommen könnte. Schließlich kannte Steimle, quatsch, Klemperer weder die Lingua Viridis Imperii noch die Zivilgesellschaft als höchstes Stadium der Volksgemeinschaft.
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Apropos: Ich finde, das Recht auf Israelkritik sollte allmählich als Grundrecht aller deutschen Staatsbürger, vor allem der künftigen, ins Grundgesetz aufgenommen werden.
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Leser *** schreibt: „Dirk Rossmann, Großdrogist und leidenschaftlicher Impfbefürworter – ‚Unsere Wirtschaft und das soziale Miteinander werden in einem Jahr kollabieren, wenn wir nicht zu einer allgemeinen Impfpflicht kommen’, sagte er im November 2021 –, hat ein nur wenigen bekanntes Steckenpferd: Er schreibt mit einem Co-Autor namens Ralf Hoppe (Spiegel/Zeit) wild verschiedene Genres (eine Prise Weltrettung, eine Prise Liebelei, eine Prise Agententhriller) vermischende Klimakrisenschmonzetten: ‚Der Zorn des Oktopus’, ‚Der neunte Arm des Oktopus’ und gerade ganz frisch erschienen: ‚Das dritte Herz (Sie ahnen es vielleicht bereits) des Oktopus’.
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Die Zeit ruft inzwischen den akademischen Volkssturm in die Bütt.
Patrice wer? Die Schrottsammelstelle erteilt Bescheid: „Zwischen 1981 und 1984 diente er bei der NVA, zuletzt als Unteroffizier. Anschließend arbeitete er als hauptamtlicher FDJ-Funktionär erst im VEB Werk für Fernsehelektronik und dann in der FDJ-Bezirksleitung Berlin. 1989 wurde er zum Fernstudium der Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin zugelassen (…) 2001 wurde er an der Europa-Universität Viadrina zum Dr. phil. mit einer Arbeit zur Geschichte des Goldbroilers in der DDR promoviert.”
Ein Dr. phil. für die Geschichte des Goldbroilers – ich bewundere jeden, der sich in diesem Land noch als Satiriker durchzuschlagen versucht.
Diese Fachkraft meint nun, wenn eine Regierung über eine parlamentarische Mehrheit beschließt, die Grenzen des ihr anvertrauten Landes gegen illegale Einwanderung via Asylerschleichung zu schützen, stärke sie in Wirklichkeit die „Rechtsradikalen”, ungefähr so, wie die Verstärkung der Feuerwehr naturgemäß die Brandstifter ermuntert, die es ohne Feuerwehr gar nicht gäbe. Und eine ihrer Selbstwahrnehmung nach journalistisch tätige regierungsnahe Agitproptruppe druckt’s – also im Grunde: FDJler befragen FDJler. Was wäre es für ein köstliches Schauspiel, zwanzig frisch hereingeschneite Orientalen (männlich/muslimisch/rasurbefreit) in der Zeit-Redaktion einzuquartieren; für die Kantinenbesuche spendieren die Ressortleiter finanzielle Dauerpatenschaften, das Feuilleton übernimmt die Toilettenreinigung, und den zentralen Kult ihrer sympathischen Religion könnten die dauerhaft Hochwillkommenen ja fünfmal täglich im Konferenzraum verrichten. Und die gebenedeiten unter den Zeit-Weibern werden halt ihr Haar bedecken müssen.
PS: „Erheitert von Ihrem Artikel zum ‚akademischen Wirken’ von Patrice Poutrus” sendet mir Leserin *** „einen Beitrag zum ‚akademischen Wirken’ von Andrea Nahles. Die Magisterarbeit von Frau Nahles (nach 10-jährigem Studium) beschäftigte sich mit dem Thema: ‚Die Funktion von Katastrophen im Serien-Liebesroman’. Da ist man als SPD-Kandidat und Mitglied im Vorstand der Bundesagentur für Arbeit doch bestens gerüstet.”
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„Sehr geehrter Herr Klonovsky, heute gibt es wieder ein Treffen der Herren Scholz und Merz im Kanzleramt. Einziges Thema ist abermals: Welche langjährigen Programmpunkte der AfD zum Thema ‚Migration’ können wir als folgenlose Ankündigungen in einer solchen Art und Weise übernehmen, daß die Wähler glauben, daß die Ideen dem harten Ringen unseres breiten demokratischen Zweckbündnisses mit sich selbst völlig neu entsprungen sind, so daß sie, die Wähler, nächstes Jahr nicht die AfD, sondern eben wieder uns, das alternativlose demokratische Spektrum, wählen werden.”
(Leser ***)