1. November 2023

Der­zeit ver­brin­ge ich eine Woche Urlaub in Russ­land, nicht tief im Lan­de, nur in der ost­preu­ßi­schen Exkla­ve, im Oblast Kali­nin­grad. Eini­ges hat sich ver­än­dert, seit ich das letz­te Mal hier war, die Gren­ze ist noch mehr Gren­ze als frü­her, es gibt prak­tisch über­haupt kei­ne (west­li­chen) Tou­ris­ten mehr, der Euro gilt nicht als Zah­lungs­mit­tel (man kann ihn aber offi­zi­ell zu einem bes­se­ren Kurs als in Deutsch­land in Rubel umtau­schen), und mit mei­nen Kre­dit­kar­ten kann ich weder Geld abhe­ben noch irgend­et­was kau­fen. Es ver­kehrt kein ein­zi­ger Flug von Deutsch­land nach Russ­land oder umge­kehrt – die Ein­rei­se per Flie­ger ist nur über die Tür­kei mög­lich –, und es fährt auch kein Zug von Deutsch­land nach Königs­berg; man kommt nur mit dem Bus oder dem Auto über die Grenze.

Die Ein­rei­se

In einem ver­ranz­ten Bus­bahn­hof in Gdansk ali­as Dan­zig beginnt der zeit­lich unkal­ku­lier­ba­re Teil der Rei­se. Der Bus ist nicht eben­falls gera­de neu und bis auf den letz­ten Platz besetzt, fast aus­schließ­lich mit Rus­sen. Rus­sisch ist selbst­re­dend auch das Fuhr­un­ter­neh­men. Dass es am Über­gang vom NATO- und EU-Gebiet ins Fein­des­land schön lan­ge dau­ert, hat aber vor allem damit zu tun, dass jetzt auch die Polen Grenz­re­gime spie­len; ein Beam­ter sam­melt alle Päs­se ein, eine hal­be Stun­de spä­ter wird jeder Insas­se mit rus­si­schem Pass ein­zeln auf­ge­ru­fen und muss sich im Vor­der­teil des Bus­ses foto­gra­fie­ren las­sen, die weni­gen ande­ren bekom­men ihre Papie­re kom­men­tar­los wie­der ein­ge­hän­digt. Wäh­rend­des­sen wird es all­mäh­lich dun­kel, eini­ge der rus­si­schen Pas­sa­gie­re müs­sen in Kali­nin­grad in Flug­zeu­ge umstei­gen, die sie wei­ter nach Russ­land brin­gen, und sie begin­nen sich zu orga­ni­sie­ren, bil­den Rei­se­grüpp­chen, tele­fo­nie­ren mit Taxis, die sie auf der ande­ren Sei­te auf­sam­meln und zum Flug­ha­fen brin­gen sol­len, und ver­ein­ba­ren mit dem Fah­rer einen Ort, wo er sie abset­zen soll. Zu den Wei­ter­müs­sern gehört auch mei­ne Sitz­nach­ba­rin, die durch ihre Ansehn­lich­keit den pene­tran­ten Schweiß­ge­ruch des Gevat­ters vor mir etwas kom­pen­siert, aber mei­ne Ver­mu­tung, die pol­ni­sche Ver­si­on sei bestimmt nur der belangslo­se­re Teil der Grenz­schi­ka­ne, mit der geseufz­ten Ver­mu­tung bestä­tigt, dass die Rus­sen wahr­schein­lich jedes ein­zel­ne Gespäck­stück kon­trol­lie­ren wer­den. Tat­säch­lich müs­sen alle Pas­sa­gie­re aus­stei­gen, ihr gesam­tes Gepäck aus dem Sou­ter­rain des Bus­ses holen und damit durch den Zoll gehen; aller­dings belas­sen es die rus­si­schen Gren­zer dabei, die Päs­se und Visa zu kon­trol­lie­ren und das Gepäck wie beim Check-in am Flug­ha­fen zu durch­leuch­ten, nie­mand muss sei­nen Kof­fer öff­nen. Über­ra­schend schnell geht es wei­ter, und wir sind in Russland.

Der Emp­fang

Das ist zwar pri­vat, doch wäh­rend der lan­gen Fahrt mit ihrer unge­wis­sen Ankunfts­zeit hat sich eini­ges an Appe­tit und auch Durst ange­staut. Die Tafel unse­rer Gast­ge­ber – Ber­ge von Vor­spei­sen, Fisch, Schin­ken, Sup­pe, Bra­ten, selbst­ge­ba­cke­ne Des­sert­küch­lein, arme­ni­scher Kognak – macht alles War­ten ver­ges­sen und löscht alle Unbe­quem­lich­kei­ten aus. Wein habe ich sicher­heits­hal­ber selbst mit­ge­bracht. Es soll der ein­zi­ge Man­gel sein, den ich hier fest­stel­len kann (aber natür­lich fin­det sich da und dort ein brauch­ba­res Fläschchen).

Die Fire­wall

Apro­pos Man­gel: Weder Twit­ter noch Face­book funk­tio­nie­ren. Aber das ist weni­ger ein Defi­zit als viel­mehr eine Erho­lung. Spä­ter bemer­ke ich, dass sich die Web­sei­ten der Sprin­ger­pres­se (Welt, Bild) eben­falls nicht auf­ru­fen las­sen, des­glei­chen das Agit­prop-Por­tal t‑online; alle ande­ren schon (auch die New York Times). Rein tech­nisch funk­tio­niert die Abschot­tung also. Da ich zudem wegen der unan­ge­mes­se­nen Kos­ten hier sowohl auf mobi­le Daten als auch auf Tele­fo­na­te ver­zich­te, befin­de ich mich aus­häu­sig im präs­mart­phoni­schen Sta­di­um, der tele­kom­mu­ni­ka­ti­ven Stein­zeit, und ich genie­ße das außer­or­dent­lich. Die­se Idyl­le offe­riert ihre Nach­tei­le ledig­lich, wenn man ein Taxi braucht; die wer­den nahe­zu aus­schließ­lich über eine App geru­fen. Über­haupt ist man hier online­tech­nisch weit fort­ge­schrit­ten, das Netz funk­tio­niert aus­ge­zeich­net, Bar­geld ist out, über­all wird mit der Kre­dit­kar­te bezahlt, sogar die älte­re Frau, die in der Fla­nier­stra­ße von Cranz (Sele­no­grad­sk) Blu­men­sträu­ße feil­bie­tet, akzep­tiert Kar­ten. Mit mei­nen Rubel­schei­nen bin ich ein Exot.

Die Kli­ma­zie­le

Spe­zi­ell der deut­sche Gast, an dem die hei­mi­sche Dres­sur, wie sehr er sich gegen sie gesträubt haben mag, den­noch ihr Werk getan hat, muss ver­blüfft fest­stel­len, dass der Kli­ma­wan­del und die Bekämp­fung des teuf­lisch-tücki­schen CO2 hier kein The­ma sind. Die Heiz­kö­per der Zen­tral­hei­zung haben kei­ne Tem­pe­ra­tur­reg­ler, kei­nen Dreh­knopf zum An- und Abstel­len, die Hei­zung läuft ein­fach, und wenn es zu warm wird, macht man das Fens­ter auf. Die Woh­nung befin­det sich in einem Plat­ten­bau aus der Bre­sch­new-Zeit, inwie­weit die­se Art der Tem­pe­ra­tur­re­gu­lie­rung reprä­sen­ta­tiv ist, weiß ich nicht. Irgend­wann, wenn der Win­ter vor­über und das Wet­ter warm genug ist, erzählt man mir, wird die Hei­zung ein­fach abge­stellt. Auf­fäl­lig ist die enor­me Dich­te der Pkw, durch­weg Ver­bren­ner, und zwar von der ältes­ten Müh­le bis zum aktu­ells­ten Luxus­schlit­ten. Der Liter Ben­zin kos­tet 50 Rubel (= 50 Cent). Elek­tro­au­tos habe ich kei­ne gese­hen. Fahr­rä­der sehr sel­ten. Eine Las­ten­radra­ben­mut­ter nie.

Die Ver­sor­gungs­la­ge

Die Stra­ßen sind voll, die Geschäf­te eben­falls, auch Luxus­mar­ken wer­den aus­gie­big feil­ge­bo­ten. Der Markt ist ein opti­sches und olfak­to­ri­sches Vergnügen.

Es herrscht eine über­wäl­ti­gen­de Fül­le. Die Prei­se für ein­hei­mi­sche Lebens­mit­tel sind nied­rig. Ver­ständ­nis­lo­sig­keit ern­tet, wer, bei­spiels­wei­se am Käse­stand, eine Bestel­lung unter­halb des hal­ben Kilo­gramms in Auf­trag gibt. Rein kuli­na­risch gese­hen, lässt es sich hier gut leben.

Die Stim­mung

Am Sonn­tag­abend Kon­zert in der Kali­nin­gra­der Phil­har­mo­nie, dem musi­ka­li­schen Zen­trum der Stadt (mein Ehe­ge­spons hat dort 2006 mit den Kali­nin­gra­der Phil­har­mo­ni­kern das Ers­te Kla­vier­kon­zert von Rach­ma­ni­now gespielt), zum Jubi­lä­um des Kom­so­mol (Grün­dungs­da­tum ist der 29. Okto­ber 1918), der Jugend­or­ga­ni­sa­ti­on der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei, ein befremd­li­cher Anlass. Der Kon­zert­saal befin­det sich im wie­der­auf­ge­bau­ten Gebäu­de der ehe­ma­li­gen Königs­ber­ger Kir­che der „Hei­li­gen Fami­lie”, die der Archi­tekt Fried­rich Heit­mann 1904 bis 1907 erbaut hat.

Ein Armee­or­ches­ter ohne Strei­cher, qua­si in über­di­men­sio­nier­ter Big-Band-Beset­zung, beglei­tet einen Bari­ton und eine Mez­zo­so­pra­nis­tin, die vor aus­ver­kauf­tem Haus ein Med­ley aus sowje­ti­schen Jugend­lie­dern, Sol­da­ten­mär­schen und Roman­zen vor­tra­gen – auch „Kat­ju­scha” ist dabei –, teil­wei­se avan­ciert instru­men­tiert, durch und durch patrio­tisch, mit­un­ter zum Heu­len schön. (Ich konn­te nicht ein­fach mit­fil­men; unter ande­rem sang der Bari­ton die­ses Lied.)

Bekannt­lich hat in Russ­land so etwas wie eine „Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung” kaum statt­ge­fun­den, was ent­schei­dend mit der Peti­tes­se zusam­men­hängt, dass Sta­lin den Krieg gewon­nen und Hit­ler ihn ver­lo­ren hat – die meis­ten 68er wären glü­hen­de Natio­nal­so­zia­lis­ten gewor­den, wenn sie nicht die Nach­kom­men von Ver­lie­rern gewe­sen wären –, und die Ära der UdSSR mag für vie­le Rus­sen heu­te als eine Zeit gel­ten, in der ihr Land etwas dar­stell­te auf der Welt­büh­ne. Das Publi­kum, die meis­ten alt genug, um die Sowjet­uni­on noch erlebt zu haben, kennt alle Lie­der, vie­le sin­gen oder klat­schen mit; bei einer Sta­lin­grad-Bal­la­de steht der hal­be Saal auf. Es ist der ein­zi­ge Moment der Rei­se, in dem mich eine Ahnung davon anweht, dass die­ses Land sich im Krieg befindet.

Unter Putin erleb­te oder erlebt die Sowjet­uni­on eine gewis­se Renais­sance, je mehr sich Russ­land vom Wes­ten ab- und dem Osten zuwand­te. Den­noch han­delt es sich bei die­sem Kon­zert weni­ger um Sowjet- oder Groß­macht­pro­pa­gan­da als viel­mehr um ein musi­ka­li­sches Ein­tau­chen in gemein­sa­me Jugend­er­in­ne­run­gen, kol­lek­ti­ve Pri­vat­nost­al­gie, wobei sich bemer­kens­wer­ter­wei­se auch eine Rei­he von jun­gen Leu­ten im Publi­kum befin­det, die dar­an unmög­lich teil­ha­ben kön­nen. Wun­der­li­ches Volk. Man fän­de zu die­ser Art Kon­zert in Deutsch­land kein Gegenstück.

Am Ran­de. Eine rus­si­sche Bekann­te hat für das klas­si­sche Kon­zert­pu­bli­kum in Deutsch­land eine rei­zen­de Meta­pher geprägt: Von hin­ten sähen die­se über­wie­gend im Pen­sio­närs­al­ter ange­lang­ten Zuhö­rer, inson­der­heit die Frau­en, wie ein Pus­te­blu­men­feld aus, weil sich deut­sche Senio­ren, aus wel­chen Grün­den auch immer, sei es Spar­sam­keit, Acht­lo­sig­keit oder der Wil­le zur „Authen­ti­zi­tät”, ihr grau­es Haupt­haar nicht fär­ben las­sen. Hier indes, beim Kom­so­mol­ge­denk­kon­zert, sieht man kei­nen ein­zi­gen Grau­kopf, obwohl ein Gut­teil der Anwe­sen­den das ent­spre­chen­de Alter erreicht hat.

Beim Gang durch die Stadt bestä­tigt sich eine Beob­ach­tung von mei­nem ers­ten Besuch anno 2007 (ich habe damals im Focus dar­über geschrie­ben): Die meis­ten und vor allem die jün­ge­ren Frau­en zei­gen deut­lich mehr Chic als bei­spiels­wei­se gleich­alt­ri­ge Ber­li­ne­rin­nen – die Män­ner dage­gen nach wie vor eher nicht. Der Hal­lo­ween-Unfug greift übri­gens auch am Pre­gel um sich, wobei es fast aus­schließ­lich Mädels sind, die sich auf gru­se­lig schminken.

***

Apro­pos Nost­al­gie: Im Küs­ten­städt­chen Cranz hat man ein recht nagel­neu wir­ken­des Denk­mal die­ses welt­his­to­ri­schen Ban­den­chefs mit Fai­ble für Genick­schüs­se auf­ge­stellt; fri­sche Blu­men lie­gen darauf.

Wie in jeder rus­si­schen Stadt gibt es auch in Kali­nin­grad einen „Platz des Sie­ges” und eine „Stra­ße des Sie­ges” – umge­kehrt sind in ’schland ja zahl­rei­che Stra­ßen und Plät­ze in irgend­ei­ner Umschrei­bung der Nie­der­la­ge gewid­met; es passt also –, nach wie vor exis­tiert eine „Ulit­sa Dzerz­hinsko­go”, und auch das Denk­mal für den ver­sof­fe­nen „Gustloff”-Torpedierer Alex­an­der Marine­sko steht noch.

***

Und apro­pos Krieg: Mei­ne Gast­ge­ber erzäh­len, dass sich nach dem Angriff auf die Ukrai­ne die Zahl der „Men­schen aus den Repu­bli­ken” (= Mus­li­me aus dem Süden) erheb­lich redu­ziert habe. Ange­sichts einer dro­hen­den Regis­tra­tur und womög­li­chen Ein­be­ru­fung sei­en sie sofort verschwunden.

Redet Pis­to­ri­us des­halb davon, Deutsch­land müs­se sich auf einen mög­li­chen Krieg vor­be­rei­ten? Ist der Mann so clever?

 

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