Michel Houellebecq ist einer der freiesten Köpfe und bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart, wobei ich ihn weniger im stilistischen, artifiziellen Sinne, sondern als literarischen Seismographen meines Epöchleins verehre (ausführlich dazu hier). Ich habe von ihm so gut wie jede Zeile gelesen, und ich werde dies weiter tun, was auch immer er veröffentlicht. Zuletzt hatte der Franzose angekündigt, der Roman „Vernichten” werde sein letzter sein (die finalen Danksagungen enden denn auch mit dem Satz: „Für mich ist es Zeit, aufzuhören”), und man weiß nicht recht, was danach noch kommen sollte. Die Frage, ob sich dieses Aufhören lediglich aufs belletristische Genre erstreckt, ist durch sein neuestes Opus „Einige Monate in meinem Leben“ beantwortet: Es sind tagebuchartige Aufzeichnungen, die sich über ein halbes Jahr erstrecken, wobei ein Vorfall so sehr im Mittelpunkt steht, dass es ohne ihn das ganze Buch nicht gäbe; das Diaristische ist nur Vorwand und Verpackung.
Was dieses Ereignis betrifft, bietet es einigen Anlass, an Houellebecqs Zurechnungsfähigkeit im geschäftlichen und medienökonomischen Sinne zu zweifeln. Es handelt sich um einen durch die Öffentlichkeit geisternden „Porno” mit laiendarstellerischer Beteiligung des Autors, dem momentan, wie man sagt, ein juristisches Nachspiel folgt. Der in medientypischer Echolalie immer wieder als „Provokateur” und „Skandalautor” beschriebene und als rassistisch, sexistisch und reaktionär etikettierte Schriftsteller ist einem linken niederländischen sogenannten „Künstlerkollektiv” namens „Kirac” („Keeping it Real Art Critics”) auf den Leim gegangen, „das sich”, findet die taz, „in guter alter Provotradition als Sand im Kunstbetriebsgetriebe verstanden wissen möchte”. Der Geneppte beschreibt die Motive der unappetitlichen Truppe weit treffender: Deren „Technik” bestünde darin, „das bestehende künstlerische Milieu zu verunglimpfen, ja zu beleidigen, mit dem Ziel, sich einen Platz darin zu verschaffen”. Warum ein berühmter Autor auf solche Lemuren hereinfiel und sich von ihnen beim Sex filmen ließ, bleibt ein obszönes Rätsel; ich vermute eine Kombination aus mutwilliger Weltfremdheit und luziferischer Hybris, befeuert von Alkohol und Drogen, aber was weiß ich schon.
Kurzum, der sogenannte Starautor geht in die Falle, hält die Mädels, die sich dabei filmen lassen wollen, wenn er sie vögelt, für „rechtschaffene Exhibitionistinnen“, unterzeichnet in wohl nicht gerade nüchternem Zustand einen Filmvertrag, in dem er seine Persönlichkeitsrechte an die Produzenten abtritt, und wundert sich später über das Resultat. Beziehungsweise, in seinen eigenen Worten, über die „unermessliche und selbstmörderische Dummheit, die das männliche Geschlecht bei sämtlichen Tierarten – natürlich auch der menschlichen – mitunter an den Tag legt, wenn es um die Verteilung seines Spermas geht“.
Die Namen der Honigfallensteller findet man in den Medien, im Buch erhalten sie Aliasnamen: Der Drahtzieher und Filmer ist der „Kakerlak”, seine beiden Kopulationsdienstleisterinnen, die dem Autor angeblich als Fans bzw. als angebliche Fans verkauft wurden, heißen „die Sau” und „die Pute” – „die Sau wünschte, dass unsere sexuelle Begegnung vom Kakerlak gefilmt wurde, um ihren Onlyfans-Account mit Material zu versorgen” –; zuletzt züngelt noch eine „Viper” ins Geschehen. Deren Beschreibung hören wir uns jetzt zur Gänze an (mich fragte eine Leserin, ob ich die zitierten Passagen immer abtippe; nein, ich diktiere sie in mein Händi, maile sie mir und korrigiere die drolligen Fehler – etwa „dauerirritiert” statt „dauererigiert” – des Aufnahmeprogramms *):
Gérard Depardieu und Bernard-Henri Levy hätten ihn ermutigt, gegen „Kirac” zu prozessieren. Aufgrund des von ihm unterschriebenen Vertrags (der vollständig im Buch abgedruckt ist) scheinen die Chancen des Autors, den Film einzukassieren, nicht besonders groß zu sein. Egal wie der Rechtsstreit ausgeht, die Bilder sind in der Welt, und Michel ist in den Honigbrunnen gefallen. Dort stellt er einige Betrachtungen an, nicht ganz so fundamentale und daseinsumstülpende wie der Thomas Mann’sche Joseph während seines dreitägigen unfreiwilligen Brunnenaufenthaltes, doch interessant sind sie allemal.
Zunächst sinniert er über die Scham, ein Gefühl, das er eigentlich für überflüssig hält, zumindest in Bezug auf alles Sexuelle – was seine Bereitschaft zu diesen absurden Dreharbeiten nicht unbedingt erklärt, aber irgendwie illustriert. Nun auf einmal ist es da, das entbehrliche Gefühl; zweimal zitiert Houellebecq den letzten Satz aus Kafkas „Prozeß”, und er staunt darüber, dass Vergewaltigungsopfer, die an ihrem Geschick keinerlei Schuld haben, Scham empfinden (was mir nur zu begreiflich ist, weil für meine Begriffe Schuld und Scham nicht besonders eng zusammenhängen). Die Schizophrenie der gesamten Konstellation bezeugt der Passus, in dem der „Skandalautor” für Zeitgenossen, die Amateurpornos veröffentlichen, ein „völliges Unverständnis” bekundet: „Mir fällt es schon schwer zu begreifen, dass Menschen ihre Urlaubsfotos in sozialen Netzwerken posten. Aber intime Aufnahmen?” Und dann steigt er selbst für das alte Rein-raus-Spiel in die Bütt? Aber warum?
Trotz seines Unverständnisses habe er in dieser Zurschaustellung „etwas Bewundernswertes” gesehen, „aufgrund des Mutes, den es erforderte, der völligen Gleichgültigkeit gegenüber gesellschaftlichen Normen, die sich darin offenbarte, gepaart mit dem Umstand, dass sie letztlich recht hatten, dass die Sexualität in ihrem Ursprung keinerlei Verbindung zum Bösen hatte; ich sah sogar einen Akt der Großzügigkeit darin, dessen Unmotiviertheit mich beeindruckte.”
Hier trennen sich unsere Ansichten; ich halte Menschen, die ihren privaten Fick, sit venia verbo, filmen und ins Netz stellen, keineswegs für großzügig, sondern für schwachsinnsnah obszön. Und natürlich gründet das Böse (auch, vielleicht sogar vor allem) im Sexuellen, die Vergewaltigung etwa ist strukturell dort angelegt, sozusagen evolutionsgewollt, der Eifersuchtsmord desgleichen. Wie sollte es auch in Reinheit zu haben sein, das größte Vergnügen, das die Natur ihren Geschöpfen ermöglicht, um die nächste Generation ins Dasein zu rufen?
Bekanntlich hat der Mensch die Verbindung zwischen Lust und Zeugung gekappt, Freund Houellebecq als typischer Décadent ist kinderlos, und die gelegentliche Verabsolutierung des Sexuellen zu einer Art Theodizee in seinen Büchern bekommt dadurch für mich etwas abstoßend Degeneriertes, wie ich es auch abstoßend finde, ab einem gewissen Alter noch seinen Körper zur Schau zu stellen; ich meine überhaupt, man sollte jeden Schamrest, der sich in den Köpfen der degenerierten Westler findet, wie eine Kostbarkeit hegen. Schließlich gehören Scham und Zivilisation zusammen. Gleichsam als List der Vernunft („Vernunft” im hegelschen Sinne; ich glaube an nichts dergleichen) hat die Epoche der sexuellen Enthemmung eine der Prüderie ausgelöst, das Pendel schlägt in die andere Richtung, teils als Folge des feministischen Generalverdachts gegen den Mann an sich, teils als Backlash des Religiösen, vor allem durch die mähliche Islamisierung Westeuropas, und da sich vor allem Konservative und Moslems fortpflanzen, gehen wir wohl – leider – verklemmten und – gottlob – weniger obszönen Zeiten entgegen. Houellebecq nennt es „jene gewaltige Bewegung in Richtung Asexualität, die den Beginn des 21. Jahrhunderts kennzeichnet, die Flutwelle, die die Moderne über den schlichten Umweg der demographischen Auslöschung dem Ruin entgegenspülte“. Er ist der repräsentative Autor der Aussterbenden, das hat er selbst oft genug betont.
Er habe, schreibt Houellebecq, „die Aufklärung nie gemocht, die Französische Revolution rief zunehmende Abscheu in mir vor, ich war weiterhin überzeugt, dass eine Gesellschaft auf Dauer ohne Religion nicht möglich und erst recht nicht wünschenswert ist.“ Ob und woran Monsieur Houellebecq, der sich zwischenzeitlich zum Katholizismus bekehrt zu haben schien, nunmehr aber erklärt, sein Verhältnis zum Christentum sei „nie schlechter gewesen”, tatsächlich glaubt, geht in der Wirrnis diaristischer Augenblickseingebungen unter: „Ich glaube nicht an Ideen; ich glaube an Menschen” (Seite 79). „Ich glaube nicht stärker an die Materie als an den Geist” (Seite 103). „Ich glaube an Messgeräte, an Ergebnisse, die auf den Skalen dieser Geräte angezeigt werden, und an mathematische Beziehungen, die sich zwischen diesen Ergebnissen herstellen lassen” (Seite 104).
Nun, Stringenz und Logik sind genauso Glaubensdinge wie Gott oder die Menschengemachtheit des Klimawandels, also, bis zur Ausrufung irgendeiner Logo‑, Theo- oder Klimatokratie, Privatsache. Als Privatmensch ist Frankreichs größter lebender Autor immer ein entzückender Solipsist gewesen, sogar dann, wenn er nolens volens einen Porno veröffentlicht hat. Meine Lieblingsanekdote mit Houellebecq’scher Beteiligung spielt auf Bere Island in West Cork (Irland), wo ihn eine Journalistin in seinem Haus besuchte und sich während des Gesprächs erkundigte, ob gerade Ebbe oder Flut sei. Die Antwort ist es wert, in Erz gegraben zu werden: Ja, da bewege sich etwas, aber er ziehe die Vorhänge zu.
Souverän ist, wer darüber entscheidet, was er zur Kenntnis nimmt und was nicht. Etwa: „Aus der COVID-Krise habe ich mich nach den ersten drei Monaten ausgeklinkt, ich konnte die rund um die Uhr laufende Sondersendung zu dieser uninteressanten Pandemie nicht mehr ertragen.”
Oder: „Bei dem Kleinkrieg vor einigen Jahren, der mit der Annexion der Krim endete, war ich völlig überrascht, ich hatte geglaubt, die Ukraine und die Krim würden noch zu Russland gehören; bei der gleichen Gelegenheit erfuhr ich von der Existenz der baltischen Staaten. Gewisse Auswirkungen des Zusammenbruchs der UdSSR waren mir also entgangen.”
Oder aber: „Mein Verhältnis zum französischen Journalismus begann, wie ich gegen meinen Willen feststellen musste, ins rein Juristische abzudriften.”
Der Leser mit einem Faible für die Verweigerung von Fortschrittsdienst und gesellschaftlicher Mitwirkung kommt auch in diesen Notizen wieder auf seine Kosten. Und jener mit einer Aversion gegen links selbstverständlich auch: „Die Proletarier hatten vom Marxismus nur eine einzige Sache angenommen, im Übrigen die einzig richtige, dass sie nämlich die wahren Erzeuger und rechtmäßigen Besitzer der Güter der Erde waren. Die linken Parteien hatten die Aufgabe, ihnen zu dienen, und nicht umgekehrt. Wirkten sie bei irgendeinem Thema, wie beispielsweise der Einwanderung, dem Wunsch des Volkes entgegen, verloren Sie augenblicklich ihre Berechtigung.“
„Ganze Bevölkerungsgruppen zu zwingen, sich Neuankömmlinge einzuverleiben, die sie mit zunehmender Heftigkeit ablehnten, erinnerte mich entfernt an das Stopfen von Gänsen und erschien mir mittelfristig unmöglich, ja sogar selbstmörderisch, man kann ein Volk nicht ewig gegen seinen Willen regieren, selbst Machiavelli hätte mir da nicht widersprochen.“
Deswegen soll es ja kein Volk mehr geben, Monsieur H.! Mais nous verrons.
* „Ich vermute, dass Ihnen dieser etwas umständliche Weg einfach Freude bereitet; sollte dem nicht so sein, möchte ich Sie auf einen etwas einfacheren Weg aufmerksam machen: Die Fa. Alphabet (Google) bietet ein Texterkennungsprogramm an, mit dem man Text einfach abfotografiert und dann verschicken kann, z.B. als Mail. Die App heisst ‚Google Lens’. Die Fehlerquote bei der Texterkennung ist minimal, aber nicht fehlerfrei, erfordert also trotzdem ein Gegenlesen. Diese Arbeit bleibt Ihnen also nicht erspart.”
(Leser ***)
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Wenn wir gerade bei berühmten zeitgenössischen Autoren sind:
Merke: Cancel Culture ist eine verschwörungstheoretische Unterstellung der Rechten. Das Vergehen von Frau Rowling besteht darin, dass sie an die Existenz von lediglich Mann und Frau „glaubt” wie derzeit knapp acht Milliarden andere Menschen auch, also eine zumindest symbolisch verbrennenswerte Ketzerin ist. Bemerkenswert, dass die Inquisitoren des Museums in Seattle es wagen, den Namen einer Autorin zu tilgen, deren Bücher die ganze Welt kennt – „Harry Potter” ist in über 80 Ländern erschienen, die Gesamtauflage liegt bei einer halben Milliarde Exemplaren.
Mir fällt zu dieser speziellen Art einer Damnatio memoriae – Tilgung des Verfassernamens bei einem Werk, das zu populär ist, um es ebenfalls der Feme zu überantworten – nur das Beispiel der „Loreley” im Dritten Reich ein: Heines Gedicht, vielfach vertont, in der bekanntesten Version von Friedrich Silcher – es gab wohl keinen deutschen Chor, der es nicht sang –, firmierte dort als das Werk eines unbekannten Autors.*
* „Sehr geehrter Herr Klonovsky, diese ‚Loreley’-Legende ist wohl unausrottbar. Es gibt bis heute keinen Beleg dafür.” (Leser***)
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Bleiben wir heute bei den Büchern.
Leser *** sandte mir dieses Meisterwerk der DDR-Kinderliteratur („Für Leser ab 7 Jahren an”). Es stammt aus dem Jahr des Mauerbaus.
Der Neger Jim spielt Akkordeon in einer Hafenkneipe von Marseille. Dorthin verschlägt es den mittellosen, hungernden, kranken Flüchtling Peter, der selbstverständlich nicht aus der DDR, sondern aus dem Dritten Reich nach Frankreich geflohen ist – wenn belletristische Bücher im größten „Leseland” unter der Sonne in Staaten des „nichtsozialistischen Währungssystems” handelten, dann fast immer vor der Gründung des realsozialistischen Pendants. Während Peters Zustand die rohen Gesellen in der Spelunke nicht sonderlich rührt, nimmt der mitleidige Jim ihn mit in seine kleine Wohnung und pflegt ihn dort gesund.
Schnitt.
Warum ich das zitiere? Nun, weil Claas Relotius und ich glauben, dass dieser Art Literatur wieder eine große Zukunft beschieden sein wird. Nur am Titel müsste noch etwas gearbeitet werden.