… wie lebt es sich als Geächteter?/ Wiedervorlage eines Interviews aus dem Jahr 1995 anlässlich des Todes des großen Gelehrten
Nolte: Eine gewisse Einsamkeit ist notwendig für einen Menschen, der viel arbeitet und dessen Arbeiten sich nicht ganz im Kontext von zunftgemäßen Fragen bewegt, und sie wird durch diesen Zustand höchstens noch vertieft. Also ich lebe so, wie ich leben möchte, nämlich arbeitend.
Mit anderen Worten: Das Ergebnis des Wirbels, den Sie verursacht haben, ist die angenehme Ruhe des Parias?
Nolte: Von einer völligen Ächtung kann ja keine Rede sein. Der schweizerische Rundfunk hat unlängst ein langes Interview mit mir im ersten Programm gesendet; ich hatte vor kurzem Gespräche mit „L“ Espresso“ aus Mailand und dem „NRC Handelsblatt“ aus Amsterdam; in Bälde wird ein langes Interview in einer Mailänder Kulturzeitschrift erscheinen. Ich bin im Ausland – zumal in Italien – bei weitem nicht so „geächtet“ wie in Deutschland.
Eine Reihe linker bis linksliberaler italienischer Professoren und Universitätsdozenten hat im Sommer 1995 einen Appell für die Freiheit der Wissenschaft veröffentlicht und dabei den Fall Nolte als Beispiel für eine „Tendenz“ angeführt, die „Redefreiheit, Pressefreiheit und Freiheit der Kultur“ bedrohe. Sind Sie enttäuscht, weil von deutschen Fachkollegen bislang nichts dergleichen zu hören war?
Nolte: Das Merkwürdige ist, daß diese Linken die grundlegende Maxime der liberalen Gesellschaft, die der Meinungsfreiheit, besser verteidigen als die sozusagen professionellen Liberalen. Ich fand es in der Tat betrüblich, daß zwei angesehene deutsche wissenschaftliche Zeitschriften es abgelehnt haben, die – wenn man so will – gelehrte Version meines „Spiegel“-Gesprächs von 1994 zu drucken, und zwar offenkundig aus Furcht vor zu erwartenden Angriffen.
Den Historikerstreit haben Sie mit der Frage ausgelöst, ob ein „kausaler Nexus“ zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus bestünde. Apropos kausaler Nexus: Glauben Sie, daß ein solcher besteht zwischen den Diffamierungen im Gefolge des Historikerstreits 1986/87 und dem anschließenden Brandanschlag auf Ihr Auto zwischen den Denunziationen nach Erscheinen Ihres Buches „Streitpunkte“ 1993 – so hat Margarita Mathiopoulos behauptet, Sie hätten die Solingen-Attentäter im Gefängnis besucht – und dem wenig später folgenden Überfall auf Sie in Berlin?
Nolte: Ein direkter Zusammenhang nicht. Im übrigen würde ich das Jahr 1986 noch gar nicht durch den Begriff Diffamierung kennzeichnen – das fing erst 1987/88 an, als, wenn ich so sagen darf, das zweite Glied in Aktion trat, all diese Leute, die da ihre kleinen Bücher und Artikel schrieben.
Diejenigen, die den Brandanschlag auf mein Auto verübten, müssen irgendwoher von dieser öffentlichen Kontroverse erfahren haben. Es gab ja einen recht eindeutigen Bekennerbrief. Das gleiche gilt für diesen Tränengas-Sprayanschlag. Irgendwann hat sich unter den, wie sie sich nennen, Antifaschisten die Meinung festgesetzt, daß ich nicht nur falsche Ansichten habe, sondern ein böser Faschist bin. Und da solche Dinge, wenn sie sich herumsprechen, immer gröber und eindeutiger werden, haben diese Leute in Berlin-Mitte sich durch die Ankündigung, ich würde einen Vortrag halten, offenbar herausgefordert gefühlt. Ich möchte da aber nur einen Kausalzusammenhang im abstraktesten Sinne annehmen.
Ein Faschist sind Sie ja offenbar nicht, aber irgendwie böse …
Nolte: (lacht): Ja, böse …
… mitleidlos, skandalös unterkühlt.
Nolte: Es ist sicherlich nicht ganz falsch, daß angesichts solcher grausamen Ereignisse, wie sie teilweise mein Thema sind, wissenschaftliche Kühle etwas Herausforderndes und Negatives hat. Man übersieht dabei, daß diese meine Kühle nicht die des Mikroskop-Forschers ist, sondern es ist die Kühle des Mannes, der eben doch ein bißchen mehr weiß als die große Menge dieser Betroffenen und Empörten. Nämlich beispielsweise, daß der Vorwurf entsetzlicher Verbrechen, wie er heute mit Recht gegen die Nationalsozialisten vorgebracht wird, nicht einzigartig ist, sondern auch in den 20er Jahren vorgebracht wurde – nur von anderen Menschen gegen eine andere Macht. Natürlich habe ich diese Literatur gelesen, so wie Hitler sie auch gelesen hat, und ich bin geradezu verpflichtet, dem nachzugehen, was sich in seinem Kopf abgespielt hat.
Sie meinen, weil die Vorstellungen in Hitlers Kopf für die Wirklichkeit letztlich entscheidender waren als die Wirklichkeitswahrnehmung in Tausenden normalen Köpfen?
Nolte: Ja sicher. Dieser kausale Zusammenhang zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus ist natürlich auf den ersten Blick kein anderer als der im Kopfe Hitlers und anderer Nationalsozialisten. Die Art und Weise, wie Hitler die Nachrichten über die russische Revolution aufgenommen hat, ist meines Erachtens so gravierend, daß man das gar nicht übersehen kann, zumal ihm noch in seiner spätesten Zeit dieselben Äußerungen über die Lippen kamen. Manche meinen, daß es kausale Zusammenhänge nur zwischen Dingen gibt, aber im praktischen Leben sind fast alle Zusammenhänge durch den Kopf vermittelt.
In der deutschen Öffentlichkeit dominiert die Meinung, daß jeder Vergleich bezüglich des Dritten Reichs automatisch eine Verharmlosung nach sich zöge wie der Blitz den Donner. Leuchtet Ihnen dieser Nexus ein?
Nolte: In Gestalt des von mir sogenannten negativen Nationalismus ist ja so etwas wie eine neue Religion entstanden, die viele Leute einfach brauchen. Man möchte irgendwo ein absolutes Böses haben, um es mit völlig gutem Gewissen bekämpfen zu können und sich gleichzeitig auf der Seite des absolut Guten zu wähnen. Darüber, daß man solche Vorgänge, wie sie durch den Namen Auschwitz abgekürzt bezeichnet werden, als etwas ganz Entsetzliches betrachtet, muß nicht erst diskutiert werden, aber sie sind nach meiner Ansicht immer noch nicht das absolute Böse und können auch nicht aus dem geschichtlichen Kontext herausgelöst beurteilt werden. Aber da verteidigen diese „neuen Religiösen“ sozusagen ihren Glauben. Und wer einen Glauben verteidigt, wird oft fanatisch.
Das gilt natürlich nicht für Sie.
Nolte: Ich habe eben keinen politischen Glauben, und deshalb bin ich auch kein politischer Fanatiker.
Bei der Lektüre Ihrer Bücher kann man durchaus den Eindruck gewinnen, daß Sie, über Ihre Thesen hinaus, den Leser zusätzlich durch Euphemismen provozieren wollen. Falsch?
Nolte: So formuliert halte ich es für mindestens übertrieben. Ich bin durch meine philosophische Herkunft mitbestimmt, so daß man mir, wohl mehr als bei den meisten anderen Historikern, die Ehre antun müßte, meine Sätze sorgfältig zu lesen, zu wägen und in den Zusammenhang zu stellen, aber diese Art Lektüre ist mir leider selten zuteil geworden. Wenn man meine Aussagen vergröbert, bedingende Vor- und erklärende Nachsätze ausläßt, kann man mich sehr leicht uminterpretieren. Diese Art des Umgangs mit mir bin ich gewöhnt, und ich habe fast schon die Hoffnung verloren, daß ich das noch zurechtrücken könnte.
Ihre Texte sind durchsetzt vom Wort „aber“. „Die Aber“, sagt die Gräfin Orsina in Lessings „Emilia Galotti“, „kosten Überlegung.“
Nolte: Richtig. Manche nennen das ja Dialektik. Es bedeutet, daß viele Aussagen für sich allein nicht vollständig sind; es muß noch etwas hinzugefügt werden.
Wenn Sie, wie Sie sagen, kein politischer Fanatismus leitet, dann könnten Sie also die Grünen wählen und trotzdem dieselbe Geschichtsphilosophie vertreten?
Nolte: Im Prinzip ja, und ich wurde ja vor 30 Jahren im allgemeinen den Linken zugerechnet. Ich hätte trotzdem Bedenken, weil sich in dieser Partei besonders viele und hartnäckige Vertreter der erwähnten quasireligiösen These befinden, an deren Seite ich mich schlecht stellen kann. Deshalb habe ich ja die Existenz einer radikalen Rechtspartei gefordert, und das hat natürlich besonders viel Zorn erregt, obwohl man sich eigentlich sagen müßte: Entweder bejaht man das pluralistische System – dann muß man auch bejahen, daß es nicht nur eine Linke, sondern auch eine Rechte gibt -, oder man bejaht es nicht.
Diese Partei wäre für Sie ein Pendant zu den Grünen?
Nolte: Nein. Früher habe ich gedacht, das Grün wäre nur die Tarnfarbe. Die radikale – nicht extreme, ich mache da einen großen Unterschied – linke Partei existiert in Form der PDS. Sie existiert nicht nur, sondern ist faktisch auch anerkannt, und das halte ich für richtig. Aber dann muß es eben auch ein Gegengewicht geben, das nicht nur existiert, sondern ebenfalls anerkannt ist.
Sie haben mit einer Bemerkung Entrüstung ausgelöst, die der Geschichtspublizist Sebastian Haffner schon 17 Jahre vor Ihnen machte, nämlich: Man könne Hitlers Krieg auch tendenziell als europäischen Einigungskrieg betrachten. Heute ist eine europäische Einigung unter entschieden freundlicheren Bedingungen möglich. Hält es der Geschichtsdenker für wünschenswert, daß Europa, nachdem es 50 Jahre – auch als Folge des Hitler-Fiaskos – von außen dominiert wurde, wieder eine selbständige, offensive Rolle in der Weltpolitik spielt?
Nolte: In diesem Punkt habe ich immer etwas mit den französischen Linken sympathisiert, die gar nicht so sehr im Politischen, sondern im Kulturellen antiamerikanisch sind. Wenn Europa, von wo die Menschheitskultur doch zu einem großen Teil ausgegangen ist, zu einem bloßen Satelliten der USA würde – und das sieht auf vielen Gebieten ja so aus -, wäre das beklagenwert. Es muß ja nicht gleich Abkopplung sein, aber ein sowohl militärisch als auch geistig selbstbewußteres und unabhängigeres Europa halte ich für wünschbar.
Mit universellem Anspruch?
Nolte: Nein, das gerade nicht. Das ist von Hitler mit einer solchen Intensität und Übertreibung betrieben worden, dahin können und sollten wir nicht zurück. Wir sind hinfort eine unter den Weltkulturen, damit müssen wir es genug sein lassen – aber wir müssen nicht notwendigerweise eine Satellitenkultur sein. Wenn man heute überhaupt den Ausdruck Nationalismus gebrauchen will, kann es nur noch ein defensiver Nationalismus sein, und auch der Europäismus kann meines Erachtens nur noch defensiv sein. Große Missionsideen werden wir nicht mehr entwickeln können, sondern wir müssen sehen, daß wir keine allzu dürftige Rolle in dieser künftigen einen Welt spielen.
Diese eine Welt ist normalerweise ein Schreckgespenst für Konservative. Sie sprechen das große Wort so gelassen aus?
Nolte: Was ich mir in der Tat wünsche, ist, daß unsere Nachfahren nicht völlig aufgehen in dem, was eine Reihe von Denkern Nachgeschichte genannt haben und was Heidegger die Weltzivilisation nannte. Ich glaube aber, daß vorläufig nicht mehr aufrechterhalten werden kann als die Überzeugung, daß auch die Weltzivilisation, so mächtig sie ist, nicht das letzte Wort für die Menschheit sein kann.
Würden Sie bitte zu den folgenden Personen einen Satz sagen: Jürgen Habermas?
Nolte: Er ist auf jeden Fall ein bedeutender Kopf. Gleichzeitig ist er dasjenige, als was er sich auch selbst charakterisiert hat, nämlich ein Produkt der Umerziehung. Insofern halte ich es nicht für Zufall, daß wir beide damals in einen Konflikt geraten sind.
Ernst Jünger.
Nolte: Ich halte ihn für eine der großen repräsentativen Persönlichkeiten dieses Jahrhunderts, und wer dauernd auf dem herumreitet, was er während der 20er Jahre geschrieben hat, erweist sich damit als enger Kopf.
Joschka Fischer.
Nolte: Ich weiß nicht viel von ihm. Wenn ich es recht sehe, ist er wohl ein Beispiel für einen weitverbreiteten Vorgang, nämlich, daß junge Linke zwar nicht alte Rechte, aber im Alter doch sehr viel überlegter und, wenn man so will, vernünftiger werden.
Rudolf Augstein.
Nolte: Wir sind Repräsentanten einer Generation, sogar desselben Jahrgangs; wir haben die entferntesten Wege eingeschlagen und trotzdem eine gewisse innere Nähe und vielleicht sogar versteckte Sympathie nicht verbergen können. Es handelt sich einfach um zwei verwandte Arten von Intellektualität.
War Martin Heidegger auch ein Intellektueller?
Nolte: Nein. Heidegger ist eine andere Qualität. Zu ihm kann ich aufschauen, und ich kann nicht sagen, er repräsentiert etwas ähnliches wie ich.
Marx und Nietzsche dagegen haben Sie als Intellektuelle definiert. Also steht Heidegger in Ihrem Wertekosmos über ihnen?
Nolte: Ich glaube, ja.
Gibt es irgendeinen Autor, den Sie nicht verstanden haben?
Nolte: So paradox es scheint: Das ist kein anderer als Heidegger, über den ich ein Buch geschrieben habe. Bei ihm hatte ich aber immer den Eindruck, ich kann ihn in seinem Verhältnis zu Politik und Geschichte darstellen, und das ist ja der Gegenstand des Buchs, aber auf die inneren Gründe komme ich nicht. Heidegger ist derjenige, dem gegenüber ich am ehesten so etwas wie Verzweiflung oder ein Gefühl eigener Unfähigkeit empfunden habe.
Erschienen in: Focus 50/1995