Kaum hat der Pressstrolch sie in den Mund genommen, inflationieren auch mit sublimen Erkenntnissen aufgeladene Termini zu interessengeleiteten Plapperbegriffen. Einer sei hier versuchshalber vom Seim gesäubert
Lasst uns, liebe Kinder und vereinzelte Eltern, heute über das Ressentiment reden. Es bedarf keines empirischen Nachweises, dass mit dem Begriff in der hiesigen Öffentlichkeit nahezu ausschließlich gegen „rechts” hantiert wird, das ist eindeutig. Sogar der Verfasser dieses Diariums, gewiss einer der ressentimentfreiesten Menschen in seinem Hausgang, sah sich mit diesem Vorwurf konfrontiert, gewissermaßen summarisch, denn ein Rezensent des Deutschlandradios verwies ihn mit dem Dekret „Die Schwäche des rechten Denkens ist das Ressentiment, die Schwäche des linken Denkens die Phrase“ des diskursiven Feldes. Quod erat hinreichend demonstrandum.
Was aber bedeutet eigentlich Ressentiment?
Zunächst einmal: Der Vorwurf ist ehrenrührig. Gemeint ist eine schwelende, sinistre, enge, dumpfe Gemütsverfasstheit, die anderen Böses wünscht. Wenn wir von „ausländerfeindlichen Ressentiments“ hören, von „rassistischen Ressentiments“, von den „Ressentiments der alten weißen Männer“ oder (freilich zunehmend seltener) von „antisemitischen Ressentiments“, ist uns klar, dass jeder, den die Vorwürfe treffen könnten, aus der Gemeinschaft der Anständigen besser auszuschließen ist. Beziehungsweise er es schon selbst erledigt hat. Ressentiment scheint so etwas wie moralische Krätze zu sein.
Eine halbwegs adäquate Übersetzung des französischen Wortes lautet „Groll”, näherhin ist ein heimlicher Groll gemeint. Der Groll unterscheidet sich vom Zorn dadurch, dass er sich nicht ausagiert, sondern vor sich hin schwelt und brütet. Er nagt an dem Grollenden und verdüstert sein Leben. Etwas nagt an dem Grollenden und verdüstert sein Leben. Daraus lässt sich zunächst einmal folgern, dass dieses Etwas stark genug sein muss, den Grollenden in seiner Aversion verharren zu lassen. Das Ressentiment kann sich nicht – beziehungswiese nicht direkt – ausagieren. Ressentiment richtet sich immer nur von unten nach oben. Es ist ein Zeichen von Ohnmacht. Wer immer das Wort verwendet, sollte sich das zunächst vor Augen führen. Wer „ausländerfeindliche Ressentiments“ in sich trägt, ist gewiss kein Plantagenbesitzer, noch wohnt er in einer Villengegend.
Aber ist der Begriff überhaupt semantisch sinnvoll zu umgrenzen? Hatte etwa Spartakus ein Ressentiment gegen Rom? Gab es unter den Männern des 20. Juli 1944 ein Ressentiment gegen Hitler? Hegten die verfolgten Juden Ressentiments gegen die Nazis? Man sieht sogleich, der Groll muss eine negative moralische Dimension bekommen, sich gegen etwas Anerkanntes, Positives richten, damit er sich im Kraftfeld des Zeitgeistes zum „Ressentiment” aufladen kann. Damit wird der Begriff aber moralisch gefasst, also relativ, und für die Beschreibung einer Gesellschaft ungefähr so ergiebig wie das ptolemäische Weltbild für jene unseres Sonnensystems. Ein paar linke Schlaumeier haben ein eleganter als alle deutschen Entsprechungen klingendes Fremdwort gekapert und in ihren Herrschaftsdiskurs eingespeist. Der Journalist zieht verlässlich mit. Ressentiment ist folglich alles, was schwelend böse ist und dem von Fall zu Fall neu zu definierenden Menschheitsfortschritt irgendwie im Wege liegt. Aber dann könnte man doch gleich „schwelend böse” sagen oder vom dumpfen Groll sprechen? Wut ist Wut, Hass ist Hass, Geiz ist Geiz, Neid ist Neid, Groll ist Groll. Ohnmächtiger Groll ist ohnmächtiger Groll, und so fort. Was wäre das Besondere am Ressentiment?
Um zu beschreiben, aus welchen negativen Energien sich Aufstände wie die französische Revolution oder die 68er Studentenunruhen speisten, verwendet heute kaum jemand den Terminus Ressentiment (zumal in dem Augenblick, wo es sich triumphierend durchgesetzt hat, es schon wieder keines mehr im Sinne des heimlich schwärenden Grolls wäre, sondern jenes der besiegten Gegenseite auslöste). Die Motive für die besagten Aufstände sind mit Worten wie Neid, Wut, Hass, Zorn hinreichend beschrieben. Nicht einmal wenn wir nach dem Gegenstück des Ressentiments suchen und es im Gönnen festmachen, geraten wir ins Eindeutigere, denn Gönnen ginge auch als das Gegenteil etwa des Neides oder der Missgunst durch. Man wird feststellen, dass Ressentiment kein besonders fruchtbarer Begriff ist, dessen wahllos-gezielte Verwendung in der Gegenwart sich wohl lediglich seinem Hautgout, seiner pejorativen Kraft verdankt. Es sei denn, man vollzieht jene entscheidende Wendung, die Nietzsche ihm gab. Ein Ressentiment, das den Namen verdient, ist schöpferisch, und zwar gegen-schöpferisch. „Der Sklavenaufstand der Moral beginnt damit, daß das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werte gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der Tat, versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten“, heißt der berühmte Passus in Nietzsches „Genealogie der Moral“ (1. Abhandlung, 10. Abschnitt). „Die Schwäche soll zum Verdienst umgelogen werden“, fährt der Philosoph fort (1,14). „das Sich-nicht-rächen-Können heißt Sich-nicht-rächen-Wollen“. Nietzsche verortete dieses schöpferische Ressentiment bekanntlich in der jüdisch-christlichen Tradition, in welcher eine schlaue Priesterkaste die Ohnmacht zur Tugend umdefiniert habe bzw. durchaus hat; dies soll uns hier nicht interessieren. Dass die Botschaft Christi im Kern vollkommen ressentimentfrei ist, steht für mich außer Zweifel (und auch Nietzsche hätte in diesem Fall wohl zugestimmt).
Das Ressentiment, das diesen Namen verdient, wird also tätig, aber es attackiert nicht direkt, sondern auf Schleichwegen, es greift nicht das Überlegene und Vortreffliche an, sondern behauptet, es existiere überhaupt nichts Überlegenes und Vortreffliches beziehungsweise es sei woanders zu finden, und alles, was bislang als vortrefflich gegolten habe, sei unter moralischen Gesichtspunkten anrüchig, diskriminierend, ein bloßes Machtmittel, eine Konvention, ein „Konstrukt”. Es handelt sich keineswegs um Ressentiment, wenn sich Menschen gegen eine Tyrannei erklären; ein Machtloser, der nach Macht oder „Teilhabe“ verlangt, ist ein völlig normaler Fall, warum sollte man ihn mit Ressentiment in Verbindung bringen? Ressentiment wird daraus, wenn der Machtlose behauptet, Macht sei schlecht. (Erzähle jetzt keiner vom Barfüßler Gandhi, der wusste sehr wohl, wie man Macht gebraucht.) Der Fuchs, der nicht an die Trauben kommt und beteuert, sie seien ihm viel zu sauer, befindet sich mit diesem Argument auf dem Wege ins Ressentiment, aber voll erblühte dieses erst in der Behauptung, süß sei schlecht (um ein treffendes Bild Max Schelers zu gebrauchen). Wer behauptet, er entstamme zwar keiner großen alten Familie mit Tradition, aber er könne dasselbe leisten wie jemand mit diesem erlauchten Pedigree, mag recht haben oder nicht, aber erst, wenn er sagte: Tradition ist schlecht, wertlos, diskriminierend etc., agierte er im Banne des Ressentiments.
Wenn dem so ist, dann gelangt man rasch zu der Erkenntnis, dass das Ressentiment weit eher auf seiten der (neidischen) Linken zu finden sein muss als auf jener der (geizigen) Rechten. Die Linke versucht schließlich, das Bestehende unter ständigen Legitimationsdruck zu setzen, sie attackiert unentwegt Institutionen, Traditionen, Gepflogenheiten, Konventionen und Konstanten unter dem Hinweis darauf, diese seien ungerecht, elitär, hierarchisch, patriarchalisch, rassistisch, sexistisch, nicht mehr zeitgemäß, schlössen Menschen aus etc pp. Hier gibt es nicht nur für das Gerechtigkeitsempfinden, sondern auch für das Ressentiment ein unüberschaubares Betätigungsfeld. Intellektuelle Moden wie Feminismus, Multikulturalismus, Gender Studies, Poststrukturalismus sind ohne das unterschwellige Wirken von Ressentimentkräften gar nicht denkbar, wie überhaupt die geisteswissenschaftlichen Fakultäten an den Universitäten veritable Ressentimentkraftwerke bilden, in denen Benachteiligungsgefühle durch Diskursturbinen geleitet und in moralische Erpressungsenergien umgewandelt werden. Das ganze Projekt „Diversity” ist angewandtes Ressentiment, es richtet sich in Wahrheit gegen jede Distinktion, jede Art von Vornehmheit, Erlesenheit und Besonderssein. Das Ressentiment will die Herrschaft des Mittelmaßes (und vielleicht wird der Planet ja anders nicht zu retten sein als vermittels durchgesetzten Mittelmaßes), deswegen gedeiht es gemeinhin nicht bei Menschen mit einem IQ unter 100, sondern in jenen Intelligenzregionen, die von Dummheit und Genialität gleichermaßen weit entfernt sind. Einzig in historischen Ausnahmesituationen, wenn etwa Rom herrscht und der vermeintliche Erlöser am Kreuz endet, kann es vorkommen, dass sich ein Genie ins Ressentiment verirrt und die paulinische Umwertung vornimmt.
Und so lässt sich letztlich aus dem teilergiebigen Begriff wenigstens eine persönliche Lehre ziehen: Man prüfe sein Denken und Urteilen stets genau darauf, ob sich Ressentiment hineinverirrt hat. Je mehr einer bereit ist, Ungleichheit zu seinem Nachteil anzuerkennen, desto weniger Ressentiment trägt er in sich.
Acta diurna, 18. Februar 2016