Die Mär will, dass Bachs Goldberg-Variationen für schlaflose Nachtstunden geschaffen wurden. Adressat sei der russische Gesandte am Dresdner Hof, Hermann Carl von Keyserlingk, gewesen, ein von Schlaflosigkeit geplagter Freund des Komponisten. In dessen Diensten stand der Cembalist Johann Gottlieb Goldberg, ein Bach-Schüler übrigens, und so habe der Meister für den Freund ein Folge von Variationen komponiert, auf dass der Schüler ihm des Nachts die stehende Zeit damit vertreibe.
Die heutige Bekanntheit der Goldberg-Variationen geht in hohem Maße auf Glenn Gould zurück, der 1955 mit diesem – bis dahin fast ausschließlich den Cembalisten vorbehaltenen – Opus sein Debüt gab und eine der meistverkauften Klassik-Platten überhaupt lancierte. Die relative und relativ konstante Popularität des hochvirtuosen und vollendet gearbeiteten Werkes verdankt sich vor allem der zauberisch-verträumten und zugleich von einer unergründlichen melancholischen Schwere beseelten, an eine Sarabande erinnernden Aria, mit welcher es sowohl anhebt als auch schließt. Deren Basslinie zeichnet das harmonische Gerüst für die 30 Variationen vor, aber vermutlich hat selten ein Laie diese Bassstimme hinter der göttlichen Melodie der Aria je wahrgenommen. Das gesamte Werk steht in G‑Dur, mit drei Abstechern nach g‑Moll, was eine gewisse klangliche Geschlossenheit erzeugt, die durch den heiteren Charakter der meisten Stücke verstärkt wird, etwa die immer wieder buchstäblich vom Hocker reißende Gigue in Variation 7. Es gibt ausgemachte Bravour-Nummern (etwa die Variationen 14, 20, 23), die quasi schon das Klaviervirtuosentum ankündigen. Wenngleich den Höhepunkt das große Moll-Adagio bildet (Variation 25), eine jener Bachschen Existenztiefenbohrungen, bei denen man nicht weiß, ob man eher in helle Verzückung geraten oder in bittere Tränen ausbrechen soll.
Sokolov spielt – wie immer live, diesmal 1982 in Leningrad – einen dynamischen, glanzvollen Bach, bei dem wahrlich niemand schlafen kann, weit entfernt vom romantischen Ton Perahias, vom Ungestüm der frühen oder der Versonnenheit der späten Gould-Aufnahme. Der Flügel singt und strahlt, der Klang ist zuweilen dick, aber nie parfümiert (wie etwa bei Schiff). In der Gesamtwirkung liegt Sokolov damit näher beim Cembalo-Originalklang als alle anderen, was mir zwar kein Kriterium, aber eine Bemerkung wert ist.
Bach: Goldberg-Variationen, Partita Nr. 2; Grigory Sokolov (2 CDs/Melodiya)
Erschienen in: eigentümlich frei, Februar 2015