Bach: Das wohltemperierte Klavier

Hans von Bülow hat das „Wohl­tem­pe­rier­te Kla­vier“ das Alte Tes­ta­ment der Musik genannt, Goe­the schien es, „als wenn die ewi­ge Har­mo­nie sich mit sich selbst unter­hiel­te“. Solan­ge Men­schen exis­tie­ren, wird irgend­wo jemand die­se Prä­lu­di­en und Fugen spie­len, und solan­ge dies geschieht, ist der Mensch nicht verloren.

Beim ers­ten zehn- bis zwan­zig­ma­li­gen Hören ist es ein recht her­me­ti­sches Werk, aber je öfter man sich mit ihm befasst – ein Men­schen­le­ben dürf­te unge­fähr aus­rei­chen –, des­to mehr offen­bart sich sei­ne über­wäl­ti­gen­de Viel­falt. Es ist eine Ent­de­ckungs­rei­se ins Nuan­cier­te und die schöns­te Illus­tra­ti­on des Welt­ge­set­zes, dass wah­re Frei­heit sich nur inner­halb einer Form zu ent­fal­ten ver­mag. Die­se Form ist bei Bach die Fuge. Mit dem WTK sta­tu­ier­te er das Sys­tem aller 24 Ton­lei­tern der Dur-Moll-Ska­la, über wel­ches schon vor ihm nach­ge­dacht wor­den war, aber erst Bach bewies sei­ne prak­ti­sche Gül­tig­keit. Es war ein Auf­bruch in unbe­tre­te­nes Land, voll­zo­gen mit einer sol­chen tech­ni­schen Meis­ter­schaft und kom­po­si­to­ri­schen Genia­li­tät, dass die­ser Mei­len­stein bis heu­te aus der Musik­ge­schich­te her­aus­ragt. Wie wich­tig es Bach mit sei­ner Pio­nier­tat war, zeigt die Tat­sa­che, dass er dem Ers­ten Teil von 1722 zwan­zig Jah­re spä­ter 24 wei­te­re Prä­lu­di­en und Fugen fol­gen ließ, wobei es rüh­rend ist, wie der 60jährige im Zwei­ten Buch dem galan­ten Stil sei­ner Zeit, der die Fuge bereits als ver­al­tet galt, zuwei­len Ein­tritt in sein Werk gestat­tet (Präl. & Fuge f‑Moll).

Den frei­en, spie­le­ri­schen, meist lyrisch gehal­te­nen, natür­lich eben­falls poly­pho­nen Prä­lu­di­en ste­hen die erns­ten, stren­gen, „tie­fe­ren“ Fugen gegen­über, was kei­nes­wegs heißt, dass Letz­te­re per se musi­ka­lisch höher­wer­tig sei­en. Das ver­deut­licht bei­spiels­wei­se mein momen­tan liebs­tes Duo in b‑Moll (Buch I), wo das Prä­lu­di­um in sei­ner mys­te­riö­sen Ver­son­nen­heit und unaus­lot­ba­ren Trau­rig­keit neben der sich in sakra­ler Majes­tät erhe­ben­den fünf­stim­mi­gen Fuge durch­aus als gleich­wer­tig zu bestehen vermag.

„Die Fuge ist die Form, die aus dem ein­zi­gen Grund­stoff Melo­die zur höchs­ten mög­li­chen Kom­pli­zie­rung ent­wi­ckelt ist“ (Wer­ner Oehl­mann). Ihr fehlt die inne­re Dra­ma­tik der Sona­te, sie stürmt nicht über Wider­stän­de oder wird von ihnen zurück­ge­wor­fen, sie bil­det kei­ne Kämp­fe ab, son­dern fließt unbe­irrt dahin. Sofern heu­ti­gen Ohren die Barock­mu­sik näher erscheint als die roman­ti­sche, dürf­te Benn den Grund getrof­fen haben mit dem Satz, nicht Ent­wick­lung, son­dern Unauf­hör­lich­keit wer­de das Mensch­heits­ge­fühl des 21. Jahr­hun­derts sein. Die Fuge ist ten­den­zi­ell unend­lich, ihre kon­tra­punk­tisch geschich­te­ten Stim­men sind gleich­sam Tei­le einer über­ge­ord­ne­ten kos­mi­schen Ein­heit. Bach war ihr emi­nen­tes­ter Meister.

Vie­le gro­ße Pia­nis­ten haben das Werk gespielt, ich emp­feh­le die hei­li­gerns­tes­te aller mir bekann­ten Aufnahmen.

J.S. Bach, Das Wohl­tem­pe­rier­te Kla­vier; Edwin Fischer (Naxos)

Erschie­nen in: eigen­tüm­lich frei, Sep­tem­ber 2014

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