Heute möchte ich darüber sprechen, warum der 17. Juni in der offiziellen deutschen Erinnerungspolitik praktisch keine Rolle mehr spielt (und auch im Westen schon lange vor der Wiedervereinigung nicht mehr spielte). Im Übrigen gilt diese Feststellung auch für den 9. November 1989, und zwar aus demselben Grund.
Lassen Sie sich nicht täuschen von dem bisschen Gedöns, das der Bundestag zum 70. Jahrestag des Aufstandes veranstaltet hat, und den salbungsvollen Worten, die Herr Steinmeier in der Feierstunde am Freitag im Bundestag sagte. Der 17. Juni ist und bleibt für die sogenannten Eliten dieses Landes ein Tag zum Vergessen. Nichts ist ihnen unangenehmer und peinlicher als ein Volk, das sich lautstark artikuliert.
Natürlich vereinnahmte der Bundespräsident die Aufständischen von vor 70 Jahren als „Vorkämpfer unserer heutigen Demokratie”. Die Worte „unser“ oder „wir“ verwandeln sich allerdings in ein wenig einladendes Gehege, wenn ein Linker sie ausspricht. Steinmeier ist Mitglied einer sozialistischen Partei. Die einzige logische Konsequenz, die aus dem 17. Juni zu ziehen ist – Nie wieder Sozialismus! –, werden Sie von ihm niemals hören. Für diesen Mann endet „unsere Demokratie“, wenn sie keine linken Mehrheiten hervorbringt.
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, ebenfalls SPD, bezeichnete den Tag als „ein Schlüsselereignis” der deutschen Geschichte: „Was 1953 mit brachialer Gewalt unterdrückt wurde, fand 1989 eine späte Vollendung – in der friedlichen Revolution.” Das stimmt. Der 17. Juni 1953 gehört zum 9. November 1989 wie die andere Seite der Medaille. Zwischen den beiden Ereignissen existiert gleichsam eine unterirdische historische Wasserader. Der 9. November 1989 – präziser gesagt: die Ereignisse, die seit dem 7. Oktober zu ihm führten – löste das Freiheitsversprechen des 17. Juni ein. Erich Mielke hat das geahnt. „Ist morgen der 17. Juni?“, fragte er in einer Lagebesprechung im August 1989, in den späten Tagen des vorletzten Lebensjahres der DDR.
So omnipräsent der 17. Juni als stete Drohung zu Häupten des Regimes schwebte, so nichtexistent war dieses Datum in der DDR-Öffentlichkeit. Im Geschichtsunterricht hatte der 17. Juni nicht stattgefunden. Kein Wort war je über diesen Tag gefallen. Offiziell war damals nämlich überhaupt nichts geschehen. Schon sich als Schüler nach diesem Datum zu erkundigen, hätte bedeutet, dass der Frager eingestand, seine Information aus obskuren Quellen zu beziehen, dass er ihnen zudem Glauben schenkte und der DDR-Geschichtsschreibung misstraute, denn wenn die schwieg, konnte ja nichts Erwähnenswertes passiert sein. Hätte der Frager noch die Impertinenz besessen, den im Westen kursierenden Terminus „Volksaufstand“ zu benutzen, wäre er erledigt gewesen. Denn – das Phänomen „kognitive Dissonanz“ gab es bereits in der DDR – es waren vom Westen bezahlte Saboteure, Rowdys und Asoziale, die damals, als offiziell nichts passiert war, in Berlin und anderswo randaliert hätten, bis die Rote Armee dem Spuk ein Ende bereitete.
Zur Überraschung eines wiedervereinigten DDRlers mit unterentwickelter Sympathie für den Sozialismus war der 17. Juni auch in der westdeutschen Öffentlichkeit mehr oder weniger inexistent. Es gab zwar die „Straße des 17. Juni“ auf der anderen Seite des Brandenburger Tores, aber dort stand ein sowjetisches Ehrenmal mit zwei Panzern jenes Typs, der damals bei der Niederschlagung des Aufstandes eingesetzt worden war. Mit Hilfe solcher Panzer war zuvor angeblich Deutschland „befreit“, also die Pest mit der Cholera therapiert worden – die verkorkste deutsche Geschichte en miniature.
Zum Feiertag der deutschen Einheit wurde bekanntlich der Termin eines blutleeren Verwaltungsaktes gewählt. Auch im Kohlschen Biedermeier hielten die Politiker sich und ihre Taten für bedeutender als das Volk. Die beiden emotionaleren und bedeutungsvolleren Daten, eben der 17. Juni und der 9. November, waren der Bundesregierung bereits damals nicht geheuer, und den Wortführern des Landes ohnehin nicht. Bei den meisten Linken auf beiden Seiten der Mauer, die heute wieder vereint sind, wurde der 17. Juni verdrängt, kleingeredet, ignoriert.
Der Schriftsteller Patrick Süskind schrieb am 16. September 1990 im Spiegel – und er sei hier lediglich als prominentes Pars pro toto zitiert – Folgendes:
„Freilich hatte man uns in der Schule beigebracht, daß die Teilung Deutschlands nicht von Dauer sei, daß die Präambel des Grundgesetzes jeden bundesdeutschen Politiker verpflichtete, auf ihre Überwindung hinzuarbeiten, daß die Bundesrepublik und ihre Hauptstadt Bonn nur ein Provisorium darstellten. Aber das haben wir schon damals nicht geglaubt und glaubten es mit den Jahren immer weniger. Man lebt nicht jahrzehntelang in einem Provisorium – schon gar nicht in einem so prächtig gedeihenden, schon gar nicht als junger Mensch –, und wenn in den Sonntagsansprachen von ‚unseren Brüdern und Schwestern in der Zone‘ die Rede war oder man uns nach dem Bau der Berliner Mauer aufforderte, zum Zeichen der nationalen Solidarität nächtens ein Adventslichtlein ins Fenster zu stellen, so kam uns das ebenso lächerlich und verlogen vor, als würde man von uns Heranwachsenden im Ernst verlangen, einen Stiefel in den Kamin zu stellen, damit der Nikolaus uns Schokolade hineinwürfe. Nein, die Einheit der Nation, das Nationale überhaupt war unsere Sache nicht. Wir hielten es für eine vollkommen überholte und von der Geschichte widerlegte Idee aus dem 19. Jahrhundert, auf die man getrost verzichten konnte. Ob die Deutschen in zwei, drei, vier oder einem Dutzend Staaten lebten, war uns schnuppe. Am 17. Juni gingen wir segeln.“
Am 17. Juni gingen wir segeln – das war die Einstellung einer Generation, die nicht mehr an die deutsche Nation glaubte und auch nicht daran, dass Recht und Freiheit den Nationalstaat zur Voraussetzung haben könnten. Im Gegenteil: Sie hatten „Angst vor Deutschland“. So lautete der Titel eines Sammelbandes, in dem der eben zitierte Text von Süßkind erschien. Es handelte sich um eine im Bewusstsein der Teilung aufgewachsene Generation, der die Landsleute hinter der Mauer schlechterdings gleichgültig waren. Zumindest die intellektuellen Wortführer dieser Generation – Süskind sagte es in seinen weiteren Ausführungen – wollten nicht länger Deutsche sein, sondern stattdessen Europäer, Kosmopoliten, „Anywheres“. Der Osten war ihnen unbekannt, allenfalls peinlich, in jedem Fall aber: egal. Diesem Phänomen der nationalen Entsolidarisierung folgte später, in unseren Tagen, aber im identischen Milieu, die soziale Entsolidarisierung. Die grüne, linke, woke Schickeria in den besseren Stadtteilen interessiert sich keine Sekunde für ihre Landsleute in den prekären Gegenden, die den Hauptstoß der von ihnen herbeigeschriebenen und ‑politisierten Massenmigration auffangen müssen. Das scheint auf den ersten Blick nichts mit dem 17. Juni zu tun zu haben, auf den zweiten aber schon. Ich komme noch darauf.
Die deutsche Teilung war die Strafe für Auschwitz, statuierte der Schriftsteller Günter Grass, dem lange entfallen war, welchem militärischen Orden er einst selbst angehört hatte; vielleicht tränten ihm auch die Augen beim Häuten seiner autobiographischen Zwiebel zu sehr, bis er endlich bei der letzten Schicht angekommen war. Das Pech der Ost- bzw. historisch gesehen Mitteldeutschen bestand darin, dass sie, anders als Grass und Süskind, diese Strafe unter der sowjetischen Knute ganz allein erdulden mussten. Als die Nachricht vom Mauerfall den Bundestag erreichte, erhoben sich die meisten Abgeordneten und sangen die Nationalhymne. Die grünen Sieger der Geschichte blieben sitzen – und sicherlich auch Grass daheim vor seinem Tätervolksempfänger. Dass die Demonstranten „Wir sind das Volk!“ und später „Wir sind ein Volk!“ riefen, klang in den Ohren der Grünen wie ein Geisterchor aus der Vergangenheit, die bekanntlich für den Progressisten immer etwas Schlimmes ist. Ein Zombie ging um und auf die Straße: das deutsche Volk.
Der aktuelle grüne Wirtschaftsminister und eigentliche Chef der Partei – sofern man einer Tentakel des globalistischen Kraken irgendeine Chefrolle zusprechen mag – fand „Vaterlandsliebe stets zum Kotzen“ und „wusste mit Deutschland noch nie etwas anzufangen und weiß es bis heute nicht“. Man hat es an seinem verkniffenen Benehmen bei der Feierstunde im Bundestag wieder studieren können, wie unangenehm ihm die Nationalhymne ist. Wenigstens hat er nicht gezittert.
„Volksverräter“, erklärte Habeck bei anderer Gelegenheit, „ist ein Nazibegriff. Es gibt kein Volk, und es gibt deswegen auch keinen Verrat am Volk.“ Zumindest wenn es um Deutsche geht, also Nazibegriffsverwender. Das ukrainische Volk darf seine Heimat verteidigen. Das tibetische Volk darf sich gegen seine Sinisierung wehren. Zwar werden wegen „Volksverhetzung“ im besten Deutschland aller Zeiten immer mehr Hausdurchsuchungen veranstaltet und Anklagen erhoben, seit die Grünen ihre Leute in Polizei und Justiz untergebracht haben, aber ein deutsches Volk im Sinne einer ethnisch-kulturellen Abstammungsgemeinschaft und immer noch größten Teils des Staatsvolkes darf es nicht geben.
Dann gibt es natürlich auch keinen Volksaufstand.
Wer vom 9. November geschockt war, ist es nachträglich auch vom 17. Juni. An beiden historischen Tagen erhoben sich Menschen gegen die sozialistische Tyrannei. Sie standen auf gegen staatliche Bevormundung, Gesinnungsterror, politische Verfolgung, Unfreiheit und die jeder sozialistischen Herrschaft wie der Donner dem Blitz folgende Verelendung.
Ist Ihnen aufgefallen, meine Damen und Herren, dass in vielen Medienberichten zu den Jahrestagen von Mauerbau und Mauerfall praktisch nicht mehr erwähnt wurde, wer eigentlich diese Mauer gebaut hatte und zu welchem Zweck? Und warum so viele DDR-Bürger ihren Staat verlassen wollten? Haben Sie irgendwo gelesen, dass die Menschen vor dem Sozialismus davongelaufen sind? Ist irgendwo beklagt worden, dass die direkte Nachfolgerin der Mauerbauerpartei heute im Bundestag sitzt, in Länderparlamenten mitregiert und in Thüringen sogar den Ministerpräsidenten stellt? Dass sie in den sogenannten neuen Bundesländern als Koalitionspartner der CDU im Gespräch ist? Im Gegenteil. Das neue „Narrativ“ lautet, dass 1989 die Menschen in der DDR für Weltoffenheit und gegen die Abschottung ihres Landes durch Grenzen auf die Straße gingen.
Auf vergleichbare Weise wird man versuchen, aus dem 17. Juni 1953 für die Geschichtsbücher einen Tag zu machen, an dem die Ostdeutschen erstmals nach einer bunten weltoffenen Gesellschaft mit feministischer Außenpolitik verlangten. Die Deutschlandfahnen, die die Demonstranten trugen, wird man als Vorläufer der Regenbogen- und Europafahnen beschreiben, ihr Verlangen nach freien Wahlen als Vorstufe der freien Wahl seines Geschlechts. Und man wird daran erinnern, dass womöglich auch queere Menschen Steine auf Panzer warfen und weiblich gelesene Personen Flugblätter verteilten.
„Hunderttausende hatten im Juni 1953 den Mut, der SED-Diktatur die Stirn zu bieten. Sie riskierten ihr Leben”, erklärte Steinmeier. Wofür? Dafür, dass ihre Kinder und Enkel einmal gendern und endlich ihre heteronormativen Geschlechterrollen ablegen können? Dafür, dass ihre Kinder und Enkel einmal das Weltklima retten und einen ökosozialistischen Maßnahmestaat errichten dürfen? Dafür, dass ihre Kinder und Enkel sich, von kritischen Weißseinsforschenden belehrt, als weiße Rassisten begreifen lernen, die in einem viel smarteren Gesinnungsstaat als der DDR wegen eines falschen Wortes oder falscher Parteimitgliedschaft ihren Job verlieren können, aber in einem Siedlungsgebiet ohne Grenzen leben dürfen, wo „Alman“, „Jude“ und „Kartoffel“ beliebte Kosenamen auf den Schulhöfen sind? Na wofür denn sonst!
Übrigens: Steinmeier kam drei Jahre nach der Niederschlagung des Aufstandes zur Welt und studierte Ende der 1970er in Gießen Rechts- und Politikwissenschaften. Während seiner Studienzeit gehörte er zur Redaktion der linken Quartalszeitschrift Demokratie und Recht, die vom Verfassungsschutz beobachtet wurde, als der noch die Verfassung und nicht die Regierung schützte. Die Zeitschrift erschien im Pahl-Rugenstein-Verlag, der von der DDR finanziert wurde, was seinem Programm durchaus anzumerken war. Als der Herr Pahl-Rugensteinmeier anfing, sich Gedanken über „unsere“ Demokratie zu machen, waren also jene Genossen mit im Spiel, die den 17. Juni niedergeschlagen hatten. Der aktuelle Bundeskanzler war als Juso ja auch ein gern gesehener Gast in der DDR. Wie gesagt, von solchen Leuten werden Sie die Worte „Nie wieder Sozialismus!“ niemals hören. Und von den grünen Ökosozialisten erst recht nicht.
Was aber war der 17. Juni?
Ein Volksaufstand, sagt man heute so dahin. Das ist nicht ganz richtig. Das Volk stand nicht auf. Es waren ein paar hunderttausend Arbeiter, die im sogenannten Arbeiter- und Bauernstaat aufstanden. Sie forderten freie Wahlen und Freilassung der politischen Gefangenen; Ausgangspunkt der Unruhen waren allerdings Preiserhöhungen im Einzelhandel und eine maßlose Steigerung der Arbeitsnormen. Die Öffnung der Archive habe ergeben, schreibt der Historiker Hubertus Knabe, dass es „ganz normale Bürger waren“, die vor 70 Jahren auf die Straße gingen.
1989 verhielt es sich nicht anders. „Wir sind das Volk!“ war der Ruf einer Minderheit. Der Otto-Normal-Deutsche veranstaltet keine Aufstände – er ist ja kein Franzose. Er wartet daheim hinter der Gardine und schaut, was passiert. Einem Aufstand schließt er sich erst an, wenn er praktisch offiziell genehmigt ist.
„Die SED war schon am 17. Juni mit ihrem Latein am Ende“, erklärten die Ostberliner Historiker Armin Mitter und Stefan Wolle – sie gehörten zu den ersten, die SED- und Stasi-Akten auswerten konnten – in einem Interview am 17. Juni 1990. Nach der Niederschlagung des Aufstands begann der Aufbau des DDR-Sozialismus durch den Ausbau der Staatssicherheit. Die Stasi versuchte, „nazistische Kräfte“ als Verantwortliche für die Schürung der Unruhen ausfindig zu machen. Tatsächlich hatten die Gewerkschaften die Streiks und Demonstration organisiert. Nach dem 17. Juni wurden sie gleichgeschaltet.
Da die Stasi sich vergeblich um den Nachweis bemüht hatte, es habe sich um einen faschistischen Putsch gehandelt, hat es die SED-Führung später einfach behauptet. Viele prominente Intellektuelle und Schriftsteller der DDR übernahmen, oft wider besseres Wissen, diese offizielle Darstellung, Bertolt Brecht etwa, Stefan Heym, Stephan Hermlin, Robert Havemann, Erich Loest. „Für Faschisten darf es keine Gnade geben“, schrieb Brecht im Neuen Deutschland. Und wenn die Versorgung mit „Faschisten“ zu wünschen übrig lässt, müssen sie eben herbeiphantasiert werden.
Zwei der genannten Autoren, Havemann und Loest, hat schnell die Nemesis ereilt, Havemann wurde von der Stasi jahrelang unter Hausarrest gestellt, Loest ging 1957 wegen „konterrevolutionärer Gruppenbildung“ für sieben Jahre ins Gefängnis.
Was DDR-Intellektuelle 1953 über die angeblichen faschistischen Provokateure vortrugen, die nur ihre Bürgerrechte einforderten, ähnelt im Sprachduktus und Diffamierungsfuror verblüffend dem, was deutsche Öffentlichkeitsarbeiter heute über die Rechtspopulisten sagen. Heute darf ein ehemaliger Stasi-Spitzel wie Anetta Kahane an der Spitze einer Stiftung und im Kuratorium eines sogenannten Instituts, gefördert mit Steuermillionen, der rechten Opposition unterstellen, einen faschistischen Umsturz anzustreben und deren Verbot fordern.
Ich wiederhole: 1953 und 1989 erhoben sich Menschen für ihre Freiheit, für die deutsche Einheit und gegen den Sozialismus. Sozialisten mögen keine Freiheiten für die anderen, sie wollen nicht, dass Bürger auf die Straße gehen für ihre Rechte. Das versuchen sie zu verhindern. Und am meisten stört sie, dass es ein Volk gibt, dass es einen Souverän gibt, der auf seine Rechte pocht. Sie wollen das Volk in „Menschen da draußen im Land“ verwandeln, wie das Verhängnis im Hosenanzug formulierte. Sie wollen, dass möglichst viele disparate Gruppen existieren, die sie gegeneinander ausspielen und so besser beherrschen können. Deswegen ernennen – oder importieren – sie unentwegt immer neue unterdrückte Minderheiten, als deren Anwälte sie sich ausgeben, um die Mehrheitsgesellschaft moralisch unter Druck zu setzen und via Umverteilung zu enteignen. Deswegen redet heute übrigens auch kein Offizieller mehr von Integration. Divide et impera, das heißt: Desintegration ist erwünscht. Ausländer, die sich wirklich integrieren, könnten schon in der nächsten Generation auf die verrückte Idee kommen, Deutsche zu sein und „Wir sind das Volk!“ zu rufen, bloß weil sie mit der Regierung unzufrieden sind. Ich sage das hier explizit, damit die Leser und Lauscher in der Haldenwang-Combo mir nicht unterstellen können, ich besäße ein „völkisches Volksverständnis”.
Die Wiedergeburt der deutschen Nation, die sie für tot, zumindest für historisch überholt hielten, haben die Linken speziell den Ossis nicht verziehen. Deshalb erklären sie die Bundesländer im Osten summarisch zu unaufgeklärten Gebieten, ja zu Schandflecken, in denen dumpfe, vielfaltsfeindliche Hinterwäldler siedeln. In Thüringen, wo seit Dezember 2014 die SED regiert – die Linke ist nicht der Nachfolger der SED, sie ist rechtsidentisch mit der Mauerpartei –, droht heute angeblich die Gefahr von rechts. Thüringens herrschende Neo-SEDler kündigen ein „Landesprogramm gegen Neonazismus und für Demokratie“ an. Genauso klangen ihre politischen Vorgänger anno 1953. Die Warnung vor einem aufkommenden Faschismus ist das konstante Begleitgeräusch der Errichtung eines sozialistischen Staates. Mit einer gewissen polemischen Überspitzung lässt sich sagen: Teile der heutigen Bundesregierung stehen im Nachhinein eher auf der Seite von Ulbrichts SED als auf jener der Volksaufständischen. Die Sicht von Mielke und Krenz auf die Demonstranten von 1953 und 1989 dürfte jedenfalls gewisse Überschneidungen mit jener von Habeck und Trittin aufweisen.
Man kann die Politik der momentanen Koalition, aber auch schon der Merkel-Kabinette und der Regierung Schröder-Fischer – Schröfisch, wie ein Freund die Chimäre taufte – geschichtssymbolisch in zwei Parolen zusammenfassen: Nie wieder 17. Juni! Nie wieder 9. November 1989!
Nie wieder sollen Menschen in Deutschland mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“ gegen eine autoritäre Linksregierung auf die Straße gehen.
Brecht, der Feigling – Feigheit ist das erste aller Menschenrechte, aber hättest du geschwiegen, wärest du ein Dichter geblieben –, Brecht sendete nach der Niederschlagung des Aufstands öffentliche Ergebenheitsadressen an die SED-Oberen. Für sich privat notierte er in seinem später berühmt gewordenen Gedicht „Die Lösung“ die Frage der Epoche:
„Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?“
Als die rotgrüne Koalition Schröder-Fischer an die Macht kam, begann die Suche mit dem Souverän unzufriedener deutscher Regierungen nach einem anderen Volk. Sie sind, wie jeder begreift, der sich auf deutschen Straßen und in deutschen Schulen umsieht, inzwischen weit gekommen. Eine hegelsche List der Vernunft besteht freilich darin, dass viele dieser Anderen heute die Opposition wählen. Und es werden immer mehr.
„Ist morgen der 17. Juni?“, grauste es Erich Mielke, den alten Menschenfreund. Es würde mich nicht im Mindesten stören, wenn diese Sorge auch über der aktuellen Bundesregierung und allen sozialistischen Nachfolgeregierungen schwebte.
***
Das war die Rede, die ich hielt
Bei der Stiftung D. Erasmus.
Es heißt, Frau Göring-Eckardt zart
Erlitt drob einen Spasmus.