Hinter Putin steht Russland, und dieses Russland steht politisch eher „rechts” von ihm. Wir sollten weder den Mann noch seine Politik verteufeln
Wer dieser Tage westliche Medien liest, kommt schnell zu dem Eindruck, dass Wladimir Putin der diensttuende Feind der Menschheit ist. Bereits vor der russischen Annexion der Krim ergoss sich westliche Kritik über den russischen Präsidenten wegen eines Gesetzes, das Minderjährige vor der Zurschaustellung von Homosexualität schützen soll.
Eine Menschengruppe scheint sich indes mehrheitlich der Entrüstung zu verschließen: die Russen. Egal, in welchem Teil der Welt sie siedeln. Meine russischen Verwandten und Bekannten leben nahezu ausschließlich im Westen, die Hälfte steht eher kritisch zu Putin, aber niemand, nicht einmal die Ukrainer unter ihnen, stößt sich an der Krim-Besetzung. Wer die Kommentare in den russischsprachigen Online-Foren verfolgt, erhält ein ähnliches Bild. Dort wird gefragt, ob etwa ein Plebiszit stattgefunden habe, als Chruschtschow die russische Krim der Ukraine zuschlug, und diskutiert, ob es überhaupt eine ukrainische Nation gibt. Während der Olympischen Spiele haben sich unter anderen deutsche Medien bemüht, russische Schwule aufzutreiben, die sich diskriminiert fühlen. Das Ergebnis war mau. Die Adressaten des westlichen Empörungs- und Moralexports verweigern die Annahme.
Und Russland ist nicht China, dort wird niemand allein wegen seiner Ansichten eingesperrt. Dieses Volk ist zwar demoskopisch wenig durchröntgt, aber es gibt drei Größen, die Umfragen zufolge unbestritten mehrheitsfähig sind: Religion, Familie (in Rede steht die sogenannte traditionelle) und Liebe zu Russland. Mit irritierender Beharrlichkeit drängt sich die Akzeptanz oder gar Verehrung eines gewissen Stalin dazu; 44 Prozent der Russen schätzen seine Rolle in der Geschichte als positiv ein. Die politische Opposition gegen Putins Einheitspartei kommt stärker von Kommunisten und Nationalisten als von den Liberalen.
Russland ist eine rustikale, teils archaische Gesellschaft, die nach der kommunistischen Apathie den Egoismus entdeckt hat. Das Konzept der Gewaltenteilung ist dem durchschnittlichen Russen so fremd wie das des Gutmenschen. Wenn Putin sich zuweilen imperialer Rhetorik bedient, ist das auch ein Zeichen dafür, dass die Menschen es hören wollen. Ein deutscher Politologe, der mit Bundestagsabgeordneten Russland besuchte, wurde von seinen Gesprächspartnern beiseitegenommen und gefragt, was denn mit den deutschen Politikern los sei, dass sie ihre nationalen Interessen für identisch mit denjenigen der EU erklärten, die Deutschen seien doch früher noch normal gewesen. Die Djewuschkas von Pussy Riot, die mit Kirchenschändung oder öffentlichem Gruppensex gegen Putin „protestieren“, gelten als dekadente Verrückte.
Diejenigen, die meinen, man müsste jetzt nur die pro-westliche Opposition unterstützen und alles würde gut, sollten an den „Arabischen Frühling“ denken. Der Schriftsteller Viktor Jerofejew hat vor einer neuen Revolution in Russland gewarnt, weil „dieses Mal keine kommunistische, sondern eine nationalistische Utopie über uns gespült“ würde. Russland wird so schnell kein EU-kompatibles Land, so verrückt die Russen nach westlichen Konsumgütern sein mögen (das sind die Muslime auch – und hier endet der Vergleich bereits).
Putin indes ist keineswegs der schlimme Autokrat, der sein Volk knebelt und Russland wieder zur Weltmacht führen will, sondern, auf die gesamte Geschichte gesehen, der moderateste russische Herrscher überhaupt. Die UdSSR-Nachfolgerin GUS ist unter ihm quasi verschwunden. Den Afghanistan-Krieg des Westens, der nicht legitimer ist als die Krim-Annexion, hat er unterstützt. Noch nie herrschte ein so businessfreundlicher, öffentlich kritisierbarer, westlich orientierter Regent über das russische Reich. Es könnte alles viel schlimmer sein. Wir sollten aufhören, dem Rest der Welt unsere Kriterien aufzunötigen.
Erschienen in: Focus vom 31. März 2014