Die Sonntage … !
Immer mal wieder fiel, fällt und wird in diesem Tagebuch der Name Peter Hacks fallen. Das hier etwa ist von ihm:
„Wer kann die Pyramiden überstrahlen?
Den Kreml, Sanssouci, Versailles, den Tower?
Von allen Schlössern, Burgen, Kathedralen
Der Erdenwunder schönstes war die Mauer.
Mit ihren schmucken Türmen, festen Toren.
Ich glaub, ich hab mein Herz an sie verloren.”
Als ein Mensch, den die Kommunisten 28 Jahre vermittels dieser Mauer von nahezu allen schönen Dingen des Lebens wegbetoniert haben, könnte ich dem Verfasser für solche Verse gram sein, aber dafür sind sie zu gut. Außerdem hieße das, die Genres zu vermischen und meiner Auffassung von Kunst untreu zu werden. Die Kunst ist ein eigenes Reich, kein weltlicher Herrscher hat dort hineinzuregieren, der Künstler darf tun, was er will, er ist niemandem gegenüber rechtfertigungspflichtig außer den Musen. Wenn Gott mir die Kraft gibt, werde ich noch zu meiner letzten Stunde murmeln: „Terroir schlägt Rebsorte beziehungsweise: Die Form ist wichtiger als der Inhalt.”
Deswegen kann ein stalinistischer, faschistischer, rassistischer, sexistischer, fanatisch religiöser, ja sogar ein grüner Autor ein großer Dichter sein. Und wenn er ein großer Dichter ist, dann ist es völlig egal, als was er sich nebenher politisch empfindet. Oder verortet. Der Dichter soll schreiben, was er will.
In der Odyssee wird Phemios, der Sänger, der den Freiern beim Mahle die Zeit vertrieb, von Odysseus bei seiner Rache als einziger verschont, und zwar auf seine Worte hin:
„Flehend bitte ich dich, erbarme dich meiner, Odysseus,
Später wird dir die Reue kommen, wenn du den Sänger
Tötest, der für die Götter und für die Menschen ich singe.
Selbstunterrichtet bin ich; der Gott aber pflanzte mir Lieder
Allerlei Art in den Sinn; mir scheint, ich könne vor dir hier
Singen wie vor einem Gott; drum schlage mir nicht das Haupt ab.”
Im „West-östlichen Divan” steht geschrieben:
Eins nach dem andern, alle zusammen,
Und wohlbedächtig warf sie in die Flammen,
Das schöngeschriebne Buch es ging zu nichte.
Wer spricht und glaubt wie Misri — er allein
Sei ausgenommen von des Feuers Pein:
Denn Allah gab die Gabe jedem Dichter.
Mißbraucht er sie im Wandel seiner Sünden,
So seh’ er zu mit Gott sich abzufinden.”
Hacks, der gebürtige Niederschlesier, der 1955 München verließ, um sich für immer in Ostberlin anzusiedeln – im Gegensatz zu mir durfte er (weiterhin) reisen und besaß ein schönes Haus am Rande der DDR-Hauptstadt, wobei er sich zumindest das Letztere redlich verdient hatte –, Hacks war ein Kommunist, wahrscheinlich sogar Stalinist (jedenfalls irrlichtert der вождь, und nie mit einem sogenannten negativen Zungenschlag, durch seine Schriften); er glaubte, das Ende der DDR habe mit der Entmachtung Ulbrichts begonnen (tatsächlich war die DDR schon am 17. Juni 1953 am Ende), er mochte die Sowjetunion und verabscheute die USA („Zwischen zwei Weltgewässern liegst du da/Heimstatt des Terrors: Mordamerika”), begrüßte die Ausbürgerung Wolf Biermanns und hielt den schließlichen Zusammenbruch des Arbeiter- und Bauern-Laufställchens von Moskaus Gnaden im Spätherbst 1989 für eine „Konterrevolution” (was im Wortsinne des Um- oder Zurückwälzens ja nicht verkehrt ist). Viele kennen das Diktum von Adorno, man dürfe nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben, und einige die Replik von Johannes Gross, Adorno habe schon vor Auschwitz keine Gedichte schreiben können. Bei Hacks verhielt es sich so, dass er bereits vor dem Mauerfall Gedichte schreiben konnte, aber die schönsten, bittersten und bösesten schrieb er danach.
Ich denke jetzt weniger an jenes Couplet:
„Gut, das Jahrtausend war nichts, sprechen wir
Von Nummer drei, Genossen, oder vier.”
Oder die Verse:
„Von zwei Millionen blieben
Nur eine Handvoll grad,
Es hat sie aufgerieben
Gorbatschows Verrat.”
Sondern etwa – regelmäßige Besucher des Kleinen Eckladens werden die gemütsverwandtschaftlichen Beziehungen, die ich zu Hacks unterhalte, sofort verstehen –:
„Bestes Herz, auf meinem Weg zum Grabe
Bin ich wirklich froh, daß ich dich habe.
Unter unsern heimatlichen Dächern
Leiden wir die Herrschaft von Verbrechern.
Ja, sogar die mittelhohen Stellen
Sind durchaus besetzt mit Kriminellen.
Kurz, mir ward das Vaterland zur Fremde.
Andrerseits, gern heb ich dir das Hemde,
Wo das angenehme Braun ich ahne
Deiner weiblichen Geschlechtsorgane.
Das ist, wie der Mensch das Leben aushält.
Und bis zu dem Tag, wo sich herausstellt,
Ob ich deinen Sarg begleite oder
Du den meinen, trotzen wir dem Moder.”
Oder:
„Seit der großen Schreckenswende
Sieht des Dichters ernstes Haupt
Sich durch neue Zeitumstände
Aller Hoffnung jäh beraubt.
Und er harrt in Wartestellung
Auf des Horizonts Erhellung.
Und er denkt in seinem Sinn:
Wo nichts drin ist, ist nichts drin.
Zwar beim Nichtbeteiligtbleiben
Am gesitteten Verkehr
Muß er sich die Zeit vertreiben,
Und er tut, wie wenn nichts wär.
Feilt sich wöchentlich die Nägel,
Nicht aus Lust, doch nach der Regel,
Küsst bisweilen Cloes Brust,
Nach der Regel, nicht aus Lust.
Früh beim Kaffee, kaum bekümmert,
Liest er, wie das Kapital
Negerstaaten niedertrümmert,
Mordend ohne Zahl und Wahl,
Greise, Kinder, Frauen, Männer,
Und er nickt befriedigt, wenn er
Feststellt, daß der Zeitungsmann
Keinen deutschen Satz mehr kann.
Auf der höchsten finanziellen
Ebene unangepaßt,
Nähert er sich wohl den Quellen
Der Natur als Feriengast.
Liebt den Sommer, haßt den Winter,
Tieferes steckt nicht dahinter.
Hin und wieder ein Gedicht
Schreibt er noch aus Dichterpflicht.”
Und:
„Nicht bläst der Wind den ungemeinen Ärger
Aus meinem Schädel fort. Das Barometer
Und das Niveau des Denkens fallen seit Jahrzehnten.
Die Pappelblätter sind, schon wenn sie jung sind, gelb.
Erdfarbne Vögel rennen auf den Steinen.
Ein Rehpintscher vertritt das Edle noch.
Wann werde ich es so satt sein,
Daß ich es satt bin, aufzuschreiben, wie
Satt ich es bin?”
Er verstieg sich keineswegs nur ins Elegische. „Tamerlan in Berlin” ist eine prachtvoll gallige Satire auf die Übernahme seiner DDR durch die BRD (wobei das Stück zur heutigen Situation – und erst recht zur morgigen – womöglich noch weit besser passt).
„Timur der Hinker, Fürst der Transoxanen,
Durch Gottes Zorn gesetzt auf seine Bahnen,
Nachdem er Persien an sich gerissen,
Bagdad zerstört, Rußland in Staub geschmissen,
Fiel ihm noch bei, mit seinen Steppensöhnen
In unsrer Hauptstadt seinen Zug zu krönen.
Des Hinkers Heer kam rasch wie ein Gedanke
Hereingebrochen über Spree und Panke.
Ein ausgestopfter Ziegenbock, den Horden
Vorangetragen, ruft zu tausend Morden,
Und gräßlich düngen des Tyrannen Diener
Die Linden mit dem Blute der Berliner.
Drei Tage litt das Volk Gewalt und Schatzung.
Doch noch viel schwerer drückte die Besatzung.
Drum hört, was vom Besatzer uns für Leid
Geschah in unserer Usbekenzeit.
In Schinkels Wache tränkt er seine Gäule.
Ein Pferdejunge pißt an eine Säule.
Im Stülerbau verehrt er seine Götzen,
Gemacht von Filz, sie stinken wie die Plötzen.
Er badet nie, der fromme Steppenreiter.
Die Sacklaus ist sein ständiger Begleiter.
Vor der polierten Gneisschale aus Rauen
Sollte man ihm beim Hütchenspiel mißtrauen.
Wallstraße. Aufgeschnürt an einem Drahte
Die Köpfe unsrer greisen Magistrate.
Bei Aufbau sitzt ein leitender Usbeke
Und druckt nun sein usbekisches Gequäke,
Bei Aufbau! Dort, wo meine eignen Dramen
Erschienen, ehe die Usbeken kamen.
Friedhof Chausseestraße. Ein Fettschwanzschaf
Rupft sich ein Kraut von Hegels Epitaph.
Im Schauspielhaus versammeln sich die Großen,
Um auf den lahmen Emir anzustoßen.
Sie trinken grünen Ziegeltee mit Butter
Und Stutenbier und andres Hundefutter.
Nur in der Volksbühne, wo man zu Hauf
Polo mit Schädeln spielt, fällt gar nichts auf.
Die Sonne fliegt. Natürlich wird die Nacht
In dem Poetenviertel zugbracht.
Ihr blonden Frauen vom Torpedokäfer:
Der Sex mit Turktataren ist kein safer.
Von Fackeln zuckt ein Abglanz ums Gemäuer.
Am Straßenrand, auf einem offnen Feuer,
Wird mit Hallo von Tamerlans Soldaten
Der linke Dichter Papenfuß gebraten.
Drin inderweil, den Glatzkopf auf die Theke
Gesunken, schläft ein furzender Usbeke.”
Sie haben es längst bemerkt, geneigte Leserin, der Mann kann bzw. konnte was (er ist ja leider schon vor zwanzig Jahren zu seinen Generalsekretären einbestellt worden). Hacks exzellierte in sämtlichen lyrischen Formen.
„Meine junge Frau Gemahlin,
Fast ein Kind noch, Messalina
Führt vor meinem Throne Klage
Daß Sie zögern, sie zu ficken.
So der Kaiser Claudius
Zu dem Bühnenkünstler Mnester.
Majestät, erwidert jener,
Wäre das nicht unanständig?
– Unanständig! Sah nicht Rom,
Wie mein Vorgänger, der Gott
Gajus Caesar, ohne Hemmung
Sie umarmte im Theater,
Wie er, die zehn Finger Ihnen
In den Hintern eingegraben,
Ihnen tief dabei die Zunge
Saugend umgewälzt im Munde?
Unter unverhüllter Sonne
Tat ers und vor allem Volke.
Der Caligula, sagt Mnester,
Das war wenigstens ein Mann.
Ah, Sie ekelt leicht. Der Kaiser
Winkt. Auftritt ein Centurione.
Mit der Geißel kerbt er blutig
Claudius‘ Wunsch in Mnesters Rücken.
– Auf mein Weib zurückzukommen,
Finden Sie sie noch zu weiblich?
– Majestät, ich liebe sie,
Wie als wenn ein Mann sie wäre.”
„Ehret, rat ich, die Frau, doch entzieht ihr die Fernsprecherlaubnis.
Wie von jeder, von der macht sie, des Redens Gebrauch.
Und die Geduld mißkennend des allzu willfährigen Trichters,
Schwatzt sie, durch niemandes Weh, niemandes Blässe belehrt.”
Eines der schönsten deutschen Liebesgedichte ist das Folgende.
„Sie sind die Art von Wiesen nicht, die locken
Wie Himmels-Aun, die Wiesen in der Mark.
Das Gras ist schütter und die Krume trocken,
Nicht jedes wächst hier, und was wächst, ist karg.
Blaßgelbe Blumen stehn an seltnen Stellen.
Der wiederkehrt, kennt sie als Immortellen.
Sie war ein Kind des Havellands, Adele,
Mit Weiheraugen und mit Heidehaar.
Ich schwör, sie hatte Sand in ihrer Seele,
Bis sie ein wenig ausgeschüttelt war.
Ich nahm sie auf mich, fast wie eine Bürde,
Ich wußte nicht, daß ich sie lieben würde.
Sie sind die Art von Wiesen nicht, die locken
Wie Himmels-Aun, die Wiesen in der Mark.
Doch mischt sich Abend in die Wollgrasflocken
Mit seiner Feuchte, strömt ihr Duft sehr stark.
Das von der Mark und von den Märkerinnen.
Man muß die Reize ihnen abgewinnen.”
Was ein Kerl ist, der kann natürlich auch anders.
„Ungeschlafen, vollgesoffen,
Ward ich unlängst angetroffen,
Mit verquollnen Lidern auch,
Auf den Wangen Bissemale
Und mit einem Damenshawle
Im Oktobermorgenrauch.
Froh bemerk ich, daß ich schlinger.
Weibsgeruch an Kinn und Finger
Zeugt vom Hergang dieser Nacht.
Ob ich gänzlich nun verwahrlos,
Zittrig, leberleidend, haarlos?
Seis! das Beste ist vollbracht.”
Ich könnte jetzt noch ein paar Sonette beibringen, aber das sollte zur Initiation fürs Erste genügen.
Bei Brecht ist es klar: Man kann nur die Gedichte lesen. Bei Hacks lohnt sich auch und erst recht die Prosa. Er war eine kentaurische Gestalt aus Linkem (politisch) und Reaktionär (ästhetisch). Er verehrte die Klassiker: „Shakespeare ist, was wir alle wollen und nicht können.” – „Von Sophokles zu Sartre; der Titel ist in dem gleichen Maße sinnreich wie: Vom Montblanc zum Maulwurfshügel” – „Die Kunstrichtung der Klassik bestand aus einem einzigen Autor, Goethe.”
Sein Essay „Über das Revidieren von Klassikern” hebt folgendermaßen an: „Es gibt ja Witze, die ganze Abhandlungen ersetzen. Einer von ihnen ist der: Ein Hase saust in tödlicher Angst über die Felder, ein zweiter Hase schließt sich ihm an. Nach ein paar hundert Meilen fragt er: Übrigens, wovor fliehen wir eigentlich? – Sie haben, entgegnet der erste Hase, ein Gesetz erlassen, demzufolge allen Hasen das fünfte Bein abgesägt wird. – Wenn das so ist, sagt der zweite Hase, aber wir haben doch beide nur vier Beine. – Du kennst sie nicht, sagt der erste; erst sägen sie, dann zählen sie.”
Die Conclusio sei komplett zitiert (wäre ich ein Steinmetz, ich grübe sie in Granit):
„Klassiker sind Menschen, die, vom Glück der Geburt und der geschichtlichen Lage gesegnet, mehr zu Wege brachten als die Menschen neben ihnen. Sie hatten es durch ihre Vorgezogenheit nicht leichter als wir, sicher schwerer. Aber wir rühmen sie nicht um ihrer Tugend willen, sondern um ihres Glücks.
Sie nahmen in hohem Grade vorweg, was der Mensch sein kann. Sie haben die Götter arbeitslos gemacht. Sie sind heilig: in ihnen ehren wir den Menschen.
Die Genies sind der Beweis der Hoffnung.
Der fromme Schauder, mit dem ein Höhlenbewohner sich vor seinem Fetisch niederwarf, war nicht so unterentwickelt wie die Frechheit, mit der heutige Theater sich mit dem Shakespeare auf du und du stellen. Der Troglodyte ahnte doch noch, was ihm abging.
Ich schwärme nicht, ich bin bei bester Vernunft. Ich will die Klassiker ungetadelt, nicht unangewendet. Ich will sie beweihräuchert und verstanden. Ich glaube an sie; denn ich habe die Erfahrung gemacht, daß sie mich niemals im Stich lassen.
Und man sollte sie nicht auf einen Sockel stellen? – Gewiß nicht. Sie stehen da längst.
Wer das nicht sehen kann, weiß seinen Platz nicht.”
Hacks gehört zu den Autoren, die in einem so blendenden Stil schreiben, dass ich ihnen jeglichen Un- und Mindersinn inhaltlicher Art nachsehe. Solchen hat er beispielsweise über Kleist geschrieben, in seinem anno 2000 veröffentlichten Großessay „Zur Romantik”, in dem er den Nachweis zu erbringen meint, dass die deutschen Romantiker – Hacks war geschmackssicher genug, Eichendorff und Uhland nicht dazuzuzählen – vom englischen Geheimdienst bezahlt wurden, um mit ihren Schriften eine nationalistische, antibonapartistische Stimmung zu erzeugen und vor allem Preußen in ein Bündnis gegen Frankreich zu locken.
Sein Urteil über die Romantiker um Schlegel, Tieck und E.T.A. Hoffmann – die Maler bekommen auch ihr Fett – ist vernichtend: „Keiner von ihnen vermochte zu schreiben.” Überdies: „Ein romantischer Autor ist ein Autor, der die englische Literatur gelesen hat, Opium verzehrt, sexuell von patriotischen Groupies betreut wird und Karl Justus Gruner zum Führungoffizier hat.” Gruner war königlich-preußischer Geheimer Staatsrat und erster Polizeipräsident von Berlin; als eigentliche Hauptfigur der Fronde und Mittelsmann zum Foreign Office hat Hacks den Freiherrn vom und zum Stein ausfindig gemacht.
An dieser These wird schon etwas dran sein; die Franzosen, notiert Hacks, versuchten umgekehrt ja dasselbe, das sei üblich, links die Illuminaten, rechts die Rosenkreuzer – Hacks war auch der festen Überzeugung, dass eine große Zahl bekannter Persönlichkeiten zu seiner Zeit für östliche oder westliche Geheimdienste arbeitete –, und so teilt er die Sphären in die pro-napoleonische Klassik und die anti-napoleonische Romantik, jeweils mit staatlich-substaatlicher Förderung, und sei es nur ein Ritterkreuz der französischen Ehrenlegion. „Romantisch, sagten wir, ist die Stimmung einer antibonapartistischen Fronde. Romantisch, sagten wir, ist darüber hinaus die Stimmung aller Fronden” (es spricht ein Etatist und Apolliniker). Dass die Romantiker reine Auftragsarbeiter waren, wird gleichwohl niemand glauben; problematisch wird es indes, wenn Hacks den Kleist dort mit hineinverrührt („Kleist dichtete für den englischen Geheimdienst”) – Kleist konnte nicht schreiben? du lieber Himmel, dann konnte es wohl niemand –, wenn er Kleistens Selbstmord bzw. seine Eskortierung der kranken Freundin über Acheron, Lethe und Styx in amokläuferischer Profanität vornehmlich daraus erklären will, dass er sich finanziell erledigt sah, weil die erhofften Honorare für Propagandadienste nicht geflossen waren.
Dass sich Hacks als Linker auf der Seite der Französischen Revolution und ihres kaiserlichen nolens-volens-Exporteurs sowie gegen Heilige Allianz und Reaction positioniert, ist nicht verwunderlich; als Goethe-Verehrer wiederum kann er auch den Imperator und das Naturereignis Napoleon würdigen. Gleichwohl und völlig unabhängig von seiner Zentralthese, die so wundervoll gegen alle offiziellen Striche geht, ist dieser Text unendlich vergnüglich; meinethalben soll er als der glanzvollste um eine Eselei gesponnene Essay der neueren deutschen Literatur gelten.
Nur ein Beispiel. „Die Typologie der romantischen Gattin lässt sich kurz und erschöpfend so darstellen: Die romantische Gattin las die Werke ihres Gatten und wechselte ihn häufig”, heißt es im Kapitel „Troßweiber”. Als deren Vorzüglichste werden vorgestellt die Damen Johanna Motherby und Pauline Wiesel. Letzgenannte „war, im Gegensatz zu allen anderen Romantikerinnen, eine Schönheit”.
Über ihren Mann lesen wir: „Wiesels Gatte und Zuhälter war der Rentier und preußische Kriegsrat Christian Wilhelm Andreas Wiesel, der an der Ausleihung seiner Gemahlin an Herren offenbar mehr als nur pekuniäres Vergnügen gewann. Er ist ein rätselvoller Erdengast, der ihr bald abhanden kam und sich davonmachte. Der häufigste Satz in ihren Briefen lautet: ‚Lebt Wiesel noch?’ Sie warf ihm vor, mit ihren ‚Interessen’ durchgegangen zu sein. ‚Interessen’ heißt Zinsen. Es gelang Pauline, ihre frühen Beischläfer noch im hohen Alter auszunehmen; Wieseln allein war sie nicht gewachsen. Ich bin es auch nicht. Er war mit Adam Müller befreundet, mehr hat keiner über ihn herausgefunden.”
Motherbys Gatte war ein Arzt, der in Königsberg die Pockenimpfung leitete, kein praktizierender Romantiker. „Auf eine Weise waren beide, Wiesel und Motherby, einverstandene Hahnreihe. Der Unterschied zwischen ihnen bestand darin. Motherby war das Geschlechtsleben seiner kräftezehrenden Eheliebsten völlig gleichgültig, je weniger er davon hörte, desto lieber war es ihm, während Wiesel Paulines Fehltritte in die Wege leitete und Unterhaltungswert in ihnen fand.”
„Paulines Leben im Abriß. 1793 bis 1803 sind ihre Männer Diplomaten oder Militärs von der antifranzösischen Allianz, Preußen, Österreicher, Russen. Von 1804 bis 1806 gehört sie Louis Ferdinand. Von dessen Tod und Preußens Niederlage bei Jena an ist ihr Geld zu Ende, und sie blüht nicht mehr lang. 1807 und 1808 geht sie durch die Hände der Besatzungstruppe. Ab 1808 versucht sie sich in Paris, wo sie durchreisenden alten Berliner Freunden auflauert oder ein paar Zuschüsse von ihrer Mutter erbettelt. Sie war zu robust, um ganz unglücklich zu sein, aber ihre ewige Sehnsucht galt Wieseln und ihren von ihm unterschlagen Interessen. 1811 legt sie ein italienisches Jahr als Reisebegleiterin ein. Ab 1816 gibt sie sich mit ein paar bescheidenen französischen Ehen zufrieden.”
Das ist köstlich, und damit will ich’s bewenden lassen; dieser Text verdient eine gesonderte Betrachtung.
Für das Schlusswort wähle ich vier Zitate aus Hacksens Aufsatz über den Bildhauer Fritz Cremer von 1973:
„Ich rede hier überhaupt, was ich will.”
„Kunst muss national sein.”
„Das höchste und schwerste Ziel der Kunst (ist es), auf bejahende, ungebrochene, nicht an einem Feind sich stützende Art den Inhalt eines erstrebenswerten und hochherzigen Lebens herzuzeigen.”
„Alle Kunst ist schamhaft.”