Steuerwegelagerei und moralische Erpressung

Der moder­ne Umver­tei­lungs­staat ent­wi­ckelt eine immer stär­ke­re Nei­gung zum orga­ni­sier­ten Betrug am Bür­ger. Sei­ne Haupt­be­tä­ti­gungs­feld ist die Pro­duk­ti­on von schlech­tem Gewis­sen gegen­über stän­dig neu­en Bedürf­ti­gen­kol­lek­ti­ven 

 

Er hat es wie­der getan. Bei sei­ner Rede zum deut­schen Wirt­schafts­buch­preis 2013 erneu­er­te der Phi­lo­soph Peter Slo­ter­di­jk sei­ne Fun­da­men­tal­kri­tik am moder­nen „Verwaltungs‑, Betreu­ungs- und Steu­er­staat“. Slo­ter­di­jk erin­ner­te an den Kathe­der­so­zia­lis­ten Adolph Wag­ner, der 1864 das „Wag­ner­sche Gesetz der stei­gen­den Staats­quo­te“ for­mu­lier­te, und schlug eine neu­es Wag­ner­sches Gesetz vor: jenes „der zuneh­men­den Nei­gung von hoch­ent­wi­ckel­ten Steu­er­staa­ten zum orga­ni­sier­ten Betrug an ihren Bürgern“.

Betrug am Bür­ger heißt Betrug am Steu­er­zah­ler. Die­se Grup­pe ist exakt umris­sen. Im Gegen­satz zum tota­li­tä­ren Staat benö­tigt der demo­kra­ti­sche Umver­tei­lungs­staat Nutz­nie­ßer in einer Grö­ßen­ord­nung, die sei­ne Steu­er­ge­setz­ge­bung lega­li­siert – und ide­al­falls noch die Zustim­mung derer, die zur Kas­se gebe­ten wer­den. In einem frü­he­ren Essay hat­te Slo­ter­di­jk die moder­ne Steu­er­zah­ler­men­ta­li­tät, die Sät­ze bis zu 50 Pro­zent pro­test­los hin­nimmt, einen „Dres­sur­er­folg“ genannt, vom dem ein Finanz­mi­nis­ter oder Schatz­kanz­ler im Zeit­al­ter des Abso­lu­tis­mus nicht zu träu­men gewagt hät­te. War­um ver­hält es sich so? Immer­hin ist die Demo­kra­tie mit der Behaup­tung ange­tre­ten, sie sei in punc­to Gerech­tig­keit jeder Form von Auto­kra­tie über­le­gen. Und war­um ist es vor allem in West­eu­ro­pa so, anders als in den USA, wo die Idee, dass auch der demo­kra­ti­sche Staat alles ande­re als ein guter Freund des Bür­gers sei, son­dern des­sen Wider­part und Plün­de­rer, nie aus­ster­ben wollte?

Der moder­ne Umver­tei­lungs­staat kann nur funk­tio­nie­ren, wenn hin­rei­chend vie­le Men­schen des­sen Seg­nun­gen auf die Dau­er höher schät­zen als ihre per­sön­li­che Frei­heit, und zwar sowohl auf der Neh­mer- als auch auf der Geber­sei­te. Damit die Geber mit­spie­len, muss der Staat deren Schröp­fung als gute Tat, min­des­tens als alter­na­tiv­lo­se Not­wen­dig­keit ver­kau­fen. Der Staat muss von sich behaup­ten, er ver­wen­de das Geld der Bür­ger sinn­vol­ler, als die Bür­ger sel­ber es je könn­ten. Natür­lich glau­ben Mil­lio­nen Bür­ger nicht dar­an, aber das ist dem Staat egal, so lan­ge sie Steu­ern ent­rich­ten („Lass sie sin­gen, wenn sie nur bezah­len“, kom­men­tier­te schon Kar­di­nal Maza­rin die in Paris umge­hen­den Spott­lie­der auf eine neue Steu­er). Des­we­gen ver­folgt die Jus­tiz des moder­nen Umver­tei­lungs­staa­tes Steu­er­hin­ter­zie­her unnach­sich­ti­ger als zum Bei­spiel Körperverletzer.

Im Gegen­satz zum nor­ma­len Trans­fer auf dem frei­en Markt muss der Bür­ger den  Staat auch dann bezah­len, wenn er mit dem von ihm gelie­fer­ten Pro­dukt unzu­frie­den ist. Die­se Unzu­frie­den­heit kann er, sofern er nicht aus­wan­dert, auf zwei­er­lei Wei­se arti­ku­lie­ren: alle vier Jah­re bei der Wahl oder durch öffent­li­chen Pro­test. Was die par­la­men­ta­ri­sche Situa­ti­on angeht, sit­zen im neu­en Bun­des­tag neben der immer sozi­al­de­mo­kra­ti­scher auf­tre­ten­den CDU drei mehr oder weni­ger sozia­lis­ti­sche Par­tei­en. Die ent­schei­den­den Pro­ble­me – die soge­nann­te sozia­le Gerech­tig­keit, die Euro­pa­po­li­tik, die Ener­gie­wen­de, die Zuwan­de­rungs­po­li­tik und die soge­nann­te Anti­dis­kri­mi­nie­rung – wol­len alle vier durch Umver­tei­lung lösen; Dis­sens besteht nur über Steu­er­ober­gren­zen und die Hier­ar­chie der Ali­men­tie­rungs­adres­sa­ten. Zwei Par­tei­en, die im bür­ger­li­chen Sin­ne Ein­wän­de dage­gen erhe­ben könn­ten, haben es nicht in den Bun­des­tag geschafft. Dar­aus könn­te man fol­gern, die Wäh­ler hät­ten für den Umver­tei­lungs­staat gestimmt. Wahr­schein­li­cher dürf­te sein, dass man das Votum für die CDU nach wie vor als ein bür­ger­li­ches State­ment klas­si­fi­zie­ren soll­te, wobei die­sem State­ment kei­ne wähl­ba­re Poli­tik ent­spricht. Das heißt: Die deut­sche Wäh­ler­schaft ist ziem­lich klar zwei­ge­teilt in bür­ger­lich und links, wäh­rend das Par­tei­en­sys­tem nach links kippt.

Was nun die mög­li­che öffent­li­che Arti­ku­la­ti­on von Pro­test angeht, tritt dage­gen ein Haupt­wirt­schafts­zweig des demo­kra­ti­schen Umver­tei­lungs­staa­tes in Akti­on: die Pro­duk­ti­on von schlech­tem Gewis­sen und von Furcht. Kurz: die mora­li­sche Erpres­sung zwecks Fes­ti­gung der Steu­er­mo­ral. Das schlech­te Gewis­sen gilt den Armen und Bedürf­ti­gen, deren Kreis per­ma­nent erwei­tert wird – nach Mus­li­men und Süd­eu­ro­pä­ern ist nun mit den Afri­ka­nern das ulti­ma­ti­ve Betreu­ungs­kol­lek­tiv an der Rei­he. Furcht ver­brei­ten der Kli­ma­wan­del, die Atom­ener­gie, Neo­na­zis, Islam­kri­ti­ker, Euro­skep­ti­ker und so fort. Wenn das Spiel funk­tio­niert, kann der Umver­tei­lungs­staat zugleich als Betreu­er, als Welt­wei­ser und als Ret­ter in Erschei­nung tre­ten und unge­rührt sein Hono­rar abbu­chen. Wer ihn ablehnt, ist eine mora­lisch anrü­chi­ge Person.

An die­ser Stel­le ist ein Rück­blick fäl­lig. 1992, zwei Jah­re nach dem Kol­laps des  Real­so­zia­lis­mus, publi­zier­te der US-ame­ri­ka­ni­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Fran­cis Fuku­ya­ma sei­ne The­se vom „Ende der Geschich­te“ im Sys­tem der libe­ra­len Demo­kra­tie. Tota­li­tä­re Sys­te­me sei­en zum Schei­tern ver­ur­teilt, schrieb er, weil sie dem Grund­ge­dan­ken des Libe­ra­lis­mus wider­sprä­chen. Zu des­sen wich­tigs­ten Prin­zi­pi­en zähl­te er die Abwehr­rech­te des Bür­gers gegen den Staat und die freie Markt­wirt­schaft. 1999 sekun­dier­te ihm der israe­li­sche His­to­ri­ker Mar­tin van Cre­veld inso­fern, als er in sei­nem Buch „Auf­stieg und Unter­gang des Staa­tes“ nach dem Gip­fel­punkt des real- und natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Tota­li­ta­ris­mus einen suk­zes­si­ve abster­ben­den Staat pro­phe­zei­te. Vor allem der Bedeu­tungs­ver­lust des Mili­tärs und die Wel­le der Pri­va­ti­sie­rung staat­li­cher Betrie­be in allen west­li­chen Län­dern in den frü­hen 1980er Jah­ren gal­ten ihm als Signa­tu­ren die­ses Pro­zes­ses. Was bei­de Den­ker nicht auf der Rech­nung hat­ten, war die Mög­lich­keit, dass auf demo­kra­ti­schem Wege zustan­de­ge­kom­me­ne Regie­run­gen ohne eine tat­säch­li­che Mehr­heit in der Bevöl­ke­rung die Staats­quo­te per­ma­nent erhö­hen könn­ten, indem sie immer neue Betreu­ungs­grup­pen erschlie­ßen. Anders gesagt: das erneu­te Erstar­ken des vor­mund­schaft­li­chen Staa­tes in Gestalt des Umver­tei­lungs­staa­tes. Und kei­ner von bei­den ahn­te, dass in jenem Euro­pa, das soeben vom kom­mu­nis­ti­schen Zen­tra­lis­mus befreit wor­den war, ein neu­er, smar­te­rer Zen­tra­lis­mus sein Haupt recken und nun­mehr sogar den gesam­ten Kon­ti­nent zu regle­men­tie­ren trach­ten würde.

Wir nann­ten die ste­te Erwei­te­rung des Bedürf­ti­gen­krei­ses und die mora­li­sche Erpres­sung der Steu­er­bür­ger als Basi­s­tä­tig­kei­ten des Umver­tei­lungs­staa­tes. Dass die Armut trotz aller staat­li­chen Bekämp­fungs­maß­nah­men nicht ver­schwin­det, mag an der Unvoll­kom­men­heit der Welt lie­gen, an der immer groß­zü­gi­ge­ren Defi­ni­ti­on von Arm­sein, an der Markt­wirt­schaft – oder am Des­in­ter­es­se der Armuts­be­kämp­fer am tat­säch­li­chen Ver­schwin­den ihrer Kli­en­tel. Schließ­lich ver­schafft die Anpran­ge­rung der „sozia­len Unge­rech­tig­keit“ dem Sozi­al­staats-Poli­ti­ker mehr Pres­ti­ge (und gere­gel­te­re Ein­künf­te), als es ihre Abschaf­fung je könn­te. Längst lebt ein gan­zer Sozi­al­in­dus­trie­zweig steu­er­fi­nan­ziert von der Bewirt­schaf­tung der Armut.

Deutsch­land sei ein rei­ches Land und kön­ne abge­ben, argu­men­tie­ren die Umver­tei­ler gern. Aber 1945 war Deutsch­land eine Wüs­te. Die­ses Land ver­fügt weder über Boden­schät­ze, noch besaß es nen­nens­wer­te Kolo­nien. War­um ist es trotz­dem halb­wegs reich? Durch den Fleiß sei­ner Bür­ger. Flei­ßi­ge Bür­ger sind die ers­te Vor­aus­set­zung für jeden demo­kra­ti­schen Umver­tei­lungs- und Betreu­ungs­staat, dass sie ent­mün­digt wer­den, ist die zwei­te. Das betrifft kei­nes­wegs nur die Ein­trei­bung von Steu­ern, son­dern längst auch Belan­ge der pri­va­ten Lebens­füh­rung, vom fal­schen Dusch­kopf bis zur fal­schen Mei­nung über irgend­ein staat­lich zu betreu­en­des Bedürftigenkollektiv.

Kein deut­scher Staat war jemals so ver­schul­det wie der momen­ta­ne, ja nie­mals in der gesam­ten Welt­ge­schich­te gab es ver­gleich­bar ver­schul­de­te Gebil­de wie die moder­nen Umver­tei­lungs­staa­ten der west­li­chen Welt. Für die­se Schul­den haf­tet nicht die deut­sche Indus­trie oder der Bun­des­tag, sie gehen pro Kopf auf jeden Bür­ger. Er muss Ban­ken ret­ten, für poli­ti­sche Flau­sen in Gestalt von Mil­li­ar­den­um­schich­tungs­pro­gram­men zur Finan­zie­rung frem­der Volks­wirt­schaf­ten haf­ten, Armuts­flücht­lin­ge ali­men­tie­ren, Wind­rä­der bezah­len und natür­lich den gewal­ti­gen Appa­rat des Umver­tei­lungs­staa­tes finan­zie­ren. Dafür wird sei­ne Zukunft immer düs­te­rer. Das deut­sche Ren­ten­sys­tem etwa funk­tio­niert wie ein Ket­ten­brief. Jeder, der heu­te 30, 40 Jah­re zählt, weiß genau, dass sei­ne staat­li­che Alters­vor­sor­ge so sinn­voll ist wie der Erwerb einer grie­chi­schen Staats­an­lei­he. Ein pri­va­ter Anbie­ter, der so wirt­schaf­te­te wie die­ser Staat, hät­te längst den Staats(!)anwalt am Hals.

Der demo­kra­ti­sche Umver­tei­lungs­staat ist ein ten­den­zi­ell sui­zid­ä­res Unter­neh­men. Abson­der­lich dar­an ist, dass die Umver­tei­ler wegen eines kurz­fris­ti­gen Image­ge­winns lang­fris­tig am eige­nen Ast sägen, doch wie unter ande­rem der Real­so­zia­lis­mus gezeigt hat, ist der­glei­chen eine Opti­on der Welt­ge­schich­te. Am Ende ist der Bür­ger geplün­dert, der Staat bank­rott, die Indus­trie und die Rei­chen sind zu gro­ßen Tei­len abge­wan­dert, und das Heer der mut­wil­lig pro­du­zier­ten oder impor­tier­ten Bedürf­ti­gen ist nicht klei­ner gewor­den. Dann wer­den die Umver­tei­ler wie 1989 die Hän­de fal­ten und seuf­zen: Unse­re Idee war zu gut für die­se Welt. Aber im Unter­schied zu 1989 wird sie nie­mand auffangen.

 

 

Erschie­nen (leicht gekürzt) in: Focus 42/2013 

 

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