Zum 200. Geburtstag Richard Wagners ein paar Richtigstellungen über den Jubilar
I.
Die Strecke von London nach Bayreuth beträgt etwas über 1000 Kilometer, doch es sollte 78 Jahre dauern, bis eine Idee aus der Hauptstadt des britischen Empire in die oberfränkische Provinz gelangte. Der Verzug ist insofern noch besonders erstaunlich, als besagte Idee den Weg nach London einst von Deutschland aus genommen hatte. Ihre schließliche Rückkehr in das Richard-Wagner-Städtchen geschah unter dem Gejohle und Gebuhe des sich selber für wagnertreu haltenden Festpielhaus-Publikums, während der nach eigenem Dünken fortschrittliche Teil desselben begeistert applaudierte. Wagners Werk werde vergewaltigt, zeterten die Orthodoxen; es werde endlich entrümpelt, frohlockten die Progressisten. Beide Fraktionen saßen spiegelverkehrt demselben Irrtum auf: Sie glaubten, sie hätten der Geburt von etwas Neuem beigewohnt.
Die Rede ist vom Bayreuther „Ring des Nibelungen“ aus dem Jahr 1976, inszeniert von Patrice Chéreau und längst als sogenannter „Jahrhundertring“ kanonisiert bzw. bekakelt. Der Franzose hatte die Götter, Riesen und Zwerge der Textvorlage in Politiker, Kapitalisten und Proletarier verwandelt; im Rhein, darin die gleichnamigen Töchter sich neckisch tummeln, wuchtete ein Stauwehr; Nibelheim, wohin der arge Zwerg Alberich das geraubte Rheingold schleppte, präsentierte sich als ein düsteres Industriegebiet, geschaffen zur Akkumulation des gestohlenen Goldes unter der Herrschaft des nunmehrigen Kapitalisten Alberich; Siegfried schuf des Vaters zerbrochenes Schwert nicht mit dem Hammer neu, sondern mit einer gewaltigen Schmiedemaschine und so fort. Kurz, es fand auf der Bühne statt, was George Bernhard Shaw 1898 in seinem Buch „The perfect Wagnerite“ postuliert hatte, nämlich dass die Tetralogie „eigentlich moderne Kostüme erfordern würde, Zylinder statt Tarnhelmen, Fabriken statt Nibelheimen, herrschaftliche Villen statt Walhall“, denn das alte Nibelungen-Epos sei dem Komponisten nur „Vorwand und Namensverzeichnis“ gewesen.
Der „Ring“ als Drama mit sozialistischem Kern: Keine Kopf der deutschen Linken hat je eine Shaw vergleichbare These aufgestellt. Stattdessen wurde Wagner postum zum Mann der Rechten, der Bourgeois, der Nationalisten, schließlich der (gar nicht so rechten) Nationalsozialisten. 1933 wiesen die ultrakonservativen „Bayreuther Blätter“ Shaws Sicht der Dinge mit dem Bescheid zurück, Wagners Werk symbolisiere das Menschliche schlechthin und könne „niemals aber die kalte Wirklichkeit mit all ihren komplizierten Einrichtungen und sozialen Problemen“ darstellen.
Hier steht nun keineswegs das Postulat im Raum, dass die Shaw-Chéreausche-„Ring“-Deutung die „richtige“ sei – Wagners allegorisches Opus magnum bietet Raum für die vielfältigsten Interpretationen. Es muss allerdings gefragt werden, warum der Eindruck entstehen und jahrzehntelang auf den Bühnen vorherrschen konnte, Wagner habe dem Publikum tatsächlich germanische Götter, Helden und Fabelwesen vorführen wollen. Zwar ist auch diese Sicht der Dinge legitim, jeder Teenager, der erstmals in den Wagnerschen Kosmos gerät, nimmt die Figuren irgendwie eins zu eins (und ich werde in zehn Jahren wieder damit anfangen). Allerdings hätte all jenen auffallen müssen, die – gleichgültig ob begeistert oder indigniert – darauf bestanden, Wagner treibe Germanen- und Heroenkult, dass vom vermeintlich kultigen Personal am Ende niemand übrig bleibt.
Für den Schöpfer von „Lohengrin“, „Siegfried“ und „Parsifal“ waren die nordischen Sagen nicht mehr und nicht weniger als ein unverbrauchter Stoff, den er nach seinen Bedürfnissen kneten und kompilieren konnte – er ließ ja keine einzige Vorlage unverändert. Im Kaiserreich gab es viele Untersuchungen zum sagengeschichtlichen Hintergrund seiner Opern, und man zollte den „echt germanischen“ Figuren samt der sie angeblich verherrlichenden Musik Begeisterung. Wagner sei der „Wiederentdecker und kraftvoller Bildner uralter tiefsinniger deutscher und deutsch gewordener Sagenstoffe“ gewesen, schrieb Ferdinand Pfohl in seiner 1911 erschienen Biographie, er habe „dem deutschen Volk geschenkt“, was zuvor nur „einer kleinen Gemeinde von Gelehrten und Literaturprofessoren geläufig war“. Schon richtig, doch wollten nur wenige sehen (und hören), dass Wagner das „Ring“-Personal keineswegs verherrlicht, sondern zum Untergang verurteilt. Liest man sein reiches Werkbegleitschrifttum, offenbart sich schnell, wessen Ende auf der Bühne tatsächlich dämmert und was vier Abende lang im Germanenkostüm diskreditiert, denunziert und schließlich vernichtet wird: nichts anderes als die bürgerliche Gesellschaft.
Wo immer sich heute in der westlichen Welt Menschen versammeln, um dem „Ring des Nibelungen“ beizuwohnen, sollten sie davon ausgehen, dass dieses Werk gegen das Gesellschaftssystem geschrieben wurde, in welchem sie leben. „Meine ganze Politik ist nichts weiter als der blutigste Haß unsrer ganzen Civilisation, Verachtung alles dessen, was ihr entsprießt, und Sehnsucht nach der Natur“, notierte der gescheiterte Umstürzler im Dezember 1851, „nur die furchtbarste und zerstörendste Revolution kann aus unsern civilisirten Bestien wieder ‚Menschen’ machen“.
In seiner Rede vor dem Vaterlandsverein anno 1848 („Wie verhalten sich die republikanischen Bestrebungen dem Königthume gegenüber?“) hatte der damals 35jährige königliche Hofkapellmeister gefordert, der König möge sich als „allechtester Republikaner“ präsentieren, und darüber hinaus folgendes: Schaffung eines Parlaments, soziale Reformen, die genossenschaftliche Organisation des Volkes, die Abschaffung des Adels und aller Titel, sowie – jetzt kommt’s – des Geldes. Der „Ring“, dessen Textbuch Wagner Anfang 1853 beendete, ist eine sechzehnstündige Moritat über den Fluch des Goldes (= des Geldes) mit dem schlussendlichen Untergang der vom Geld geschaffenen Verhältnisse. Säße Wagner heute in einer Talk-show, man würde ihn als „kapitalismuskritischen Künstler“ vorstellen.
Andere Komponisten schrieben Musik, um ihr Publikum zu unterhalten oder zu enthusiasmieren, Wagner schrieb Musik, weil er eine andere Gesellschaft wollte. Politisch interpretierbare Kompositionen gab es zu allen Zeiten, aber Wagner ist der einzige Weltverbesserer, „der sich zu seinen Vorstellungen die Begleitmusik selbst schreiben konnte“ (Jens Malte Fischer).
Allerdings nahm der Lauf der Welt eine ganz andere Richtung, als es sich der Dresdner Hofkapellmeister, der 1848 zu Dresden auf die Barrikaden stieg, vorgestellt hatte. Der Aufstand scheiterte, viele seiner Mitkämpfer landeten im Gefängnis, er selber musste als steckbrieflich gesuchter Aufrührer ins Schweizer Exil flüchten.
Seither lebte Wagner, wie man heute formulieren würde, im falschen Film. Seine Vorstellung von einer Kunstrevolution war von der stattgehabten wirklichen Revolution ausgegangen. In der Schrift „Die Kunst und die Revolution“ beklagte er die egoistische Zersplitterung der Künste als Spiegelbild der Gesellschaft und postulierte, die „große Menschheitsrevolution“ werde die Einheit der Künste, das Gesamtkunstwerk herstellen, wie sie auch die in Stände und Klassen zersplitterte Menschheit in brüderlicher Liebe wieder vereinen werde. Nie sollte er dieses Publikum vorfinden; stattdessen saßen und sitzen die Angehörigen der von ihm verachteten bürgerlichen Gesellschaft in seinen Opern.
„Wagner hat, sein halbes Leben lang, an die Revolution geglaubt, wie nur irgendein Franzose an sie geglaubt hat“, schrieb einer, der es wissen musste: Friedrich Nietzsche. Und was tat er in der anderen Hälfte seines Lebens? Hat er sich nicht dem Kaiserreich angedient? Ist er der nicht „neudeutsch-preußische Reichsmusikant“ geworden, wie Karl Marx spottete, der in seinem Bayreuther „Narrenfest“ dem so gutbetuchten wie daseinsgelangweilten konservativen Publikum allerneuesten Event-Kitzel bot? Hat er nicht den Sieg über Frankreich mit einem Kaisermarsch gefeiert? War er nicht ein Antisemit, Nationalist und irgendwie „geistiger Wegbereiter“ seines allergrößten Fans aus Braunau am Inn?
Um das Phänomen Wagner halbwegs zu verstehen, muss man sich drei Tatsachen vor Augen halten. Zunächst einmal war der kleinwüchsige, quirlige, unentwegt redende Sachse ein Schöpfer und Vollbringer himmelweit oberhalb normalen Menschenmaßes, „Der letzte der Titanen“, wie eine neuere Biographie betitelt ist. Sodann war er der größte Egozentriker der Kunstgeschichte. Und schließlich hat er nie aufgehört, in revolutionären Kategorien zu denken.
Alles was Wagner postulierte, stand in direkter Beziehung zu seinem gewaltigen Ego, das sich selbst immer eine Sonderrolle zuschrieb – man darf beispielsweise über die lebenslange Geldgeilheit des lebenslangen Geldschmähers getrost den Kopf schütteln. Wagner war königstreu, wenn damit Tantjemen verbunden waren, ob nun in Sachsen oder in Bayern, er war kaisertreu, solange die Hoffnung bestand, Wilhelm I. werde in Bayreuth aufkreuzen (was der Kaiser 1876 tat), aber er verachtete Preußen, was wiederum damit zu tun gehabt haben dürfte, dass Bismarck weder seine Opern hören noch Bayreuth Geld geben wollte. Er frohlockte über Frankreichs Niederlage 1871, und zwar nicht zuletzt weil Paris ein Ort des Misserfolgs und der Demütigung für ihn war, dort hatte er als junger Musiker zwei Jahre lang vergeblich antichambriert und gebettelt und obendrein mit der französischen „Tannhäuser“-Premiere 1861 das größe Fiasco seiner Karriere erlebt. Hätte Paris voller Wagnerianer gesteckt, Wagners patriotische Gefühle hätten sich wohl in Grenzen gehalten. Dieser Titanoid war imstande, Regierungschefs, Großstädte, ja ganze Länder einzig danach zu beurteilen, wie sie seine Werke aufnahmen. Und man muss ja immerhin die ungeheuerliche Tatsache konzedieren, dass dieses Werk womöglich ganze Länder, Städte und natürlich alle seinerzeit bedeutenden Regierungschefs überdauern wird.
Auch der Theoretiker Wagner hält unbeirrt an der weitmöglichsten Perpektive, am Blick aufs Großeganze fest. Er stellt die Diagnose eines allumfassenden gesellschaftlichen und kulturellen Verfalls, er verachtet die Politik und bleibt getrieben vom Wunsch nach Umstürzung aller Verhältnisse. Gegen Ende seines Lebens hat Wagner die Idee der Revolution noch überboten durch seine Vision einer „Regeneration“ des Menschengeschlechts, in welcher sich die Abschaffung des Staates, rigider Pazifismus, die Überwindung des Egoismus, eine grundlegende Reformation des Christentums inklusive der Übernahme buddhistischer Elemente, Vegetarismus, Alkoholabstinenz, Naturverbundenheit mit dem Gemeinschaftserlebnis seiner Kunst wunderlich vermengen. Dass die regenerierte Menschheit Schluss gemacht haben würde mit dem Kapitalismus, dem Fluch des Goldes, dem Typus Alberich, versteht sich.
II.
In Richard Wagners Vierteiler über die Ursachen und das (vorläufige) Scheitern der Revolution droht der alten Welt des Göttervaters Wotan von zwei Seiten das Ende: vom anarchistischen Alleszermalmer Siegfried und vom kapitalistischen Ausbeuter Alberich. Auf wessen Seite Wagners Sympathie liegt, ist klar. Siegfried verkörpere „den Menschen in der natürlichsten, heitersten Fülle seiner sinnlich belebten Kundgebung“, führt sein Erfinder in der Selbsterklärungs-Schrift „Eine Mitteilung an meine Freunde“ aus, „kein historisches Gewand engte ihn mehr ein; kein außer ihm entstandenes Verhältniß hemmte ihn irgendwie in seiner Bewegung“. Der furchtlose und von keiner Ideologie verdorbene Recke ist der schlechthin freie Mensch. „Siegfried-Bakunin“, wie George Bernhard Shaw ihn halbironisch titulierte, zerschlägt die alte Gesellschaft und macht klar Schiff für die neue, die er selber nicht erleben wird. Wie diese neue Welt aussehen soll, davon gibt dann „Parsifal“ mehr Ahnung als Auskunft.
An den inhaftierten 1848er Mitstreiter August Röckel geht im Januar 1854 folgende Erklärung Wagners: „Siegfried (ist) der von uns gewünschte Mensch der Zukunft, der aber nicht durch uns gemacht werden kann, und der sich selbst schaffen muß durch unsere Vernichtung.“ – „Wir müssen sterben lernen, und zwar sterben im vollständigsten Sinn des Worts (…) Dies ist alles, was wir aus der Geschichte der Menschheit zu lernen haben: das Notwendige zu wollen und selbst zu vollbringen.“
An Franz Liszt schreibt er im Oktober 1954: „Beachten wir die Welt nicht anders als durch Verachtung; nur diese gebührt ihr: aber keine Hoffnung (…) Sie ist schlecht, schlecht, grundschlecht … Sie gehört Alberich: niemand anders!!! Fort mit ihr!“ Fast ein Vierteljahrhundert später, im Mai 1877, notiert Cosima im Tagebuch, der Gemahl habe London als den erfüllten Traum Alberichs bezeichnet. Der Rheingold-Räuber ist die schwarze Gegengestalt zum lichten Siegfried, der Inbegriff von Ausbeutung, Gier, Lieblosigkeit, Naturzerstörung; sein Sohn Hagen wird den hehren Helden hinterrücks ermorden. – War Alberich Jude?
Man wird bei den Figuren aus Wagners Bühnenpersonal, die inzwischen unter Juden(karikatur)verdacht gestellt wurden, zweierlei festellen: Allesamt verlieren sie kein Jota von ihrer dramatischen Persönlichkeit und archetypischen Eigenart, wenn sie nur sozusagen sie selber sind. Und alle waren zuerst als nichtjüdische Gestalten vorgeformt, bevor vermeintlich jüdische Charakteristika in sie einflossen. Der garstige Zwerg Mime etwa ist ein uraltes Sagenwesen, das im „Ring“ ersteht und, ob nun als Judenkarikatur oder nicht, derselbe verschlagene – aber auch erniedrigte, gedemütigte, im „Rheingold“ vom eigenen Bruder versklavte, nur seine Ruhe haben wollende und beim heutigen Publikum recht beliebte – Zwerg bleibt. Die Figur des „Merkers“ Sixtus Beckmesser in den „Meistersingern“ wiederum hatte Wagner konzipiert, bevor er den jüdischen Musikkritiker Eduard Hanslick kennen und verachten lernte. Und im „Ring“ gehen die vermeintlichen Judenkarikaturen mit den Ariern in trauter Eintracht unter.
Die Behauptung, auch aus Wagners Werk spreche Antisemitismus, folgt dem Muster, wonach ein Judenfeind im Leben eben im Werk desgleichen einer sein müsse (wobei der Komponist privat erhebliche Ausnahmen machte). Mehr als Indizien, dass frühere Generationen einige Wagner-Gestalten womöglich als Judenkarikaturen verstanden haben könnten, vermochten die Untersteller bis heute nicht herbeizuschaffen.
Gleichwohl hat sich Wagners Judenaversion – um nicht vorschnell den Begriff „Antisemitismus“ zu verwenden, der erst 1860 von dem jüdischen Philologen Moritz Steinschneider geprägt wurde – in den Aussagen besonders exponierter Zeitgeistbewirtschafter inzwischen bis zur Holocaust-Vorläuferschaft gesteigert. Allerdings folgte sie zunächst einmal dezidiert linken Mustern. In seinem Pamphlet „Das Judentum in der Musik“ argumentierte Wagner nicht anders als viele Junghegelianer, Bruno Bauer etwa, welcher schrieb, die Juden könnten sich nur politisch emanzipieren, wenn sie sich vom Judentum emanzipierten. Bei Karl Marx lesen wir: „Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld, also vom praktischen, realen Judentum, wäre die Selbstemanzipation unserer Zeit. (…) Wir erkennen also im Judentum ein allgemeines gegenwärtiges antisoziales Element. (…) Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum. (…) Die gesellschaftlicheEmanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum“ (alle Hervorhebungen von Marx – M.K.).
Bei Wagner finden wir denselben Gedankengang, nur gewissermaßen bühnentauglich formuliert: „Gemeinschaftlich mit uns Mensch zu werden, heißt für den Juden aber zu allernächst so viel als: aufhören, Jude zu sein. (…) Nehmt rücksichtslos an diesem durch Selbstvernichtung wiedergebärenden Erlösungswerke teil, so sind wir einig und ununterschieden. Aber bedenkt, daß nur Eines eure Erlösung von dem auf Euch lastenden Fluche sein kann: Die Erlösung Ahasvers, – der Untergang!“
Die theatralischen Termini „Vernichtung“ und „Untergang“ verwendete Wagner, wie vorher gezeigt, keineswegs exklusiv in Bezug das Judentum; dergleichen verbales Gedröhne entsprach seinem Naturell. Merkwürdigerweise haben die Antisemitismusdetektoren immer nur bei diesen Schlusssätzen ausgeschlagen, die ja nun eindeutig nicht von der physischen Vernichtung, sondern der Emanzipation der Juden handeln, während sie die tatsächlich bösartigen Passagen der Krawallschrift ignorierten. Etwa wenn der Autor eine instinktmäßige Abneigung der Deutschen gegenüber den Juden unterstellt und den Juden kollektiv die Fähigkeit abspricht, authentische Musik zu komponieren. Konkret meint er damit Felix Mendelssohn und, ohne ihn namentlich zu nennen, Giacomo Meyerbeer, dem einen die Begabung, dem anderen den Erfolg neidend. Doch auch nachdem er beide weit überflügelt hatte, ließ seine Judenverachtung nicht nach.
Ein Grund bestand darin, dass Wagner sich von der jüdischen Presse und Kritik teils boykottiert, teils verfolgt fühlte (die Frage ist freilich, was er nach seiner Judenbroschüre anderes erwartet hatte). Ein weiterer bestand im wachsenden Einfluss von Juden im deutschen Kulturbetrieb, dessen Verflachung und Verfall er diesem „gänzlich fremde(n) Element“ zuschrieb. „In der Natur ist es so beschaffen, daß überall wo es etwas zu schmarotzen gibt, der Parasit sich einstellt: ein sterbender Leib wird sofort von den Würmern gefunden, die ihn vollends zersetzen und sich assimilieren. Nichts anderes bedeutet im heutigen europäischen Culturleben das Aufkommen der Juden“, unterrichtete er seinen königlichen Mäzen Ludwig II., dem solche Rodomontaden übrigens unangenehm waren.
Interessant sind denn aber Wagners Orakelworte, die Cosmia am 17. Dezember 1881 im Tagebuch festhielt: „Eines ist sicher, die Racen haben ausgespielt, nun kann nur noch, wie ich es gewagt habe auszusdrücken, das Blut Christi wirken.“ Beim späten Wagner verbindet sich der notorisch weltkritisch-weltumstürzlerische Impuls zunehmend mit religiösen Erlösungsvorstellungen. Mit der realen Kirche haben sie nichts zu tun. Was inmitten der Aufgeregtheiten über des Meisters Antijudaismus meistens untergeht, ist sein ebenso deziderter Antikatholizismus mit dem Jesuiten als Hassfigur. Es sei ein „Skandal“, dass der Katholizismus noch immer bestünde, hält Cosima am 10. November 1878 fest, einen Tag später erklärt ihr Gemahl die katholische Kirche zur „Pest der Welt“. Gleichzeitig nimmt sein „Parsifal“ eindeutige Anleihen beim katholischen Ritus. Das heißt soviel wie: Wenn schon eine Kirche, dann stifte ich sie.
So wie Wagner stets ein antiklerikaler Linker geblieben ist, richtet sich auch seine Judäophobie zeitlebens gegen „den“ Juden als Repräsentanten der kapitalistischen Geldwirtschaft. „Der Jude scheint den Völkern des neueren Europas überall zeigen zu sollen, wo es einen Vortheil gab, welchen jene ungekannt und unausgenutzt ließen“, schreibt er 1865 in seinem Essay „Was ist deutsch?“. Im Judentum-Aufsatz heißt es: „Der Jude ist nach dem gegenwärtigen Stande der Dinge dieser Welt wirklich bereits mehr als emanzipiert: er herrscht, und er wird so lange herrschen, als das Geld die Macht bleibt, vor der all unser Tun und Treiben seine Kraft verliert.“
Fassen wir zusammen: Wagner wollte nicht die Juden als Individuen abschaffen, sondern das Judentum als solches, in dem er ein über viele Jahrhunderte erprobtes Instrument der Exklusion und des Egoismus sah. Ihn stieß am Judentum ab, dass in seinem Zentrum nicht das universelle Mitleid, sondern das Wohl einer Gruppe stand. Er wünschte, die Juden mögen christusgläubige, selbstlose, antikapitalistische Wagnerianer werden. Da sie aber nicht seinem Willen folgten, hätte zumindest dem alten Wagner womöglich – womöglich! – der Plan gefallen, sie nach Madagaskar oder sonstwohin auszusiedeln. Schwer vorstellbar indes, dass dieser Kunst-Anarchist, Pazifist und Machtpolitikverächter, dem Jesus und Buddha unendlich höher standen als Friedrich der Große und Napoleon, am Dritten Reich Gefallen gefunden hätte.
Als klassischer Linker steht Wagner auch vor uns, wenn man den marxistischen Bibelsatz beim Worte nimmt, dass sich der Grad der gesellschaftlichen Emanzipation am Grad der Emanzipation der Frau offenbare. Seine großen Frauenfiguren sind radikale Konventionsbrecherinnen. Die Isolde der Überlieferung, eine eher passive Gestalt, „emanzipiert“ Wagner zur selbstbestimmt handelnden Liebenden, so wie er Brünnhilde (zur Auflehnung gegen Göttervater Wotan) und Sieglinde (zum Bruch ihrer Zwangsehe) emanzipiert. Am Ende der „Götterdämmerung“ ist es Brünnhilde, das „wissend“ gewordene Weib, die den Nekrolog auf die untergehende alte Welt hält.
Die freie, befreiende, ja erlösende Liebe zu preisen, wird Wagners nicht müde. Das gilt für Siegmund-Sieglinde, Siegfried-Brünnhilde, Tristan-Isolde, doch auch Senta im „Fliegenden Holländer“ und Elisabeth im „Tannhäuser“ zerbrechen aus Liebe ihre sozialen Käfige und retten die Titelhelden vor ewiger Verdammnis. Die mysteriöse Kundry im „Parsifal“ wird wiederum vom Fluch erlöst, den Männern in immer neuen Wiedergeburten als Eheweib, Magd, Hure oder Botin dienen zu müssen (ein paar Hochbegabte meinen auch, sie werde als Jüdin vernichtet). Statt Sittsamkeit eignet all diesen Frauenzimmern, mit der schönen Formulierung Thomas Manns, „ein Zug von Edelhysterie“. Man würde Wagner nicht sonderlich fehlinterpretieren, wenn man ihn als Proto-Feministen und im Jahrhundert fehlgegangenen 68er bezeichnete.
Der scharfsichtige Nietzsche witterte übrigens schon, worauf das alles einmal hinauslaufen werde: „Haben Sie bemerkt, dass die Wagnerischen Heldinnen keine Kinder bekommen? Sie können’s nicht… Siegfried ‚emancipirt das Weib’ – doch ohne Hoffnung auf Nachkommenschaft.“
III.
Einem bekannten Diktum Thomas Manns zufolge steckt „viel Hitler in Wagner“. Der Dichter meinte dies vorwiegend im habituellen Sinne: die Selbstinszenierung, die maßlose Unbescheidenheit, das „Bramarbasieren, Allein-reden-Wollen, über alles Mitreden-Wollen“. Was beider Weltbild angeht, lagen dazwischen Kontinente. In der Gestalt des „jüdischen“ Kapitalisten besaßen Wagner und Hitler zwar ein gemeinsames Feindbild, für die „rechte“, antibolschewistische Version des Antisemitismus taugte der Komponist indes ganz und gar nicht – ein „Kulturbolschewist“ war er schließlich selber. Der „Tristan“ bedeutete für die Tonkunst einen ähnlichen Einschnitt wie die Abhandlung „Zur Elektrodynamik bewegter Körper“ aus der Hand eines gewissen Albert Einstein für die Physik. Wagners Musik war sozusagen der Tank, der für die Infanterie der musikalischen Moderne den Weg freiwalzte.
Vergleichbar avantgardistisch war sein Personal. Auf Wagners Bühne agieren lauter ambivalente Charaktere, psychisch hochproblematisch, bindungslos, nach Erlösung schmachtend, auf beängstigende Weise opferbereit, reif für jede Art Psychologen. Die meisten seiner Helden stammen aus zerrütteten Familienverhältnissen und sind Halb- oder Vollwaisen. Im Ersten Aufzug der „Walküre“ vollzieht sich der Inzest eines Geschwister-Paares, dessen Gelingen jeder fühlende Hörer die Daumen drückt und aus dem der Beinahe-Welterlöser Siegfried hervorgeht (man bedenke, die Uraufführung war 1870). Wagners Frauengestalten sind Emanzen, Blaustrümpfe, Mannweiber, gänzlich ungeeignet, um deutschen Müttern oder gar potentiellen Mutterkreuzträgerinnen ein Beispiel zu geben. Der Gralskönig Amfortas ist ein um Erbarmen flehender Herrscher, der an einer peinlichen Wunde leidet. Sein Gegenspieler Klingsor: ein Selbstkastrierer. Tristan: ein todessehnsüchtiger Defätist. Wotan: ein erotischer Windbeutel und moralisch fragwürdiger Geschäftemacher, der seine Verträge nicht hält, seine Immobilie nicht bezahlen kann und Beihilfe zur Tötung seines Sohnes leistet. Und so fort. –
Die populärhistorische Suggestion, Wagners Musik sei gleichsam die Tonspur gewesen, mit welcher der Film namens Drittes Reich unterlegt wurde, hat mit der Wirklichkeit wenig zu tun und galt nur für ein paar veritable Zirkusnummern des Gesamtwerkes. So erklang die „Rienzi“-Ouvertüre, heute übrigens Erkennungsmelodie von „Spiegel TV“, zur Eröffnung der Reichsparteitage, der Trauermarsch aus der „Götterdämmerung“ bei Toten-Ehrungen, Siegfrieds Schmiedelieder bei „Führers Geburtstag“ – doch Bruckner und Beethoven wurden bei offiziellen Anlässen häufiger gespielt.
Seit der Machtübernahme der Nazis ging die Gesamtzahl der Vorstellungen von Wagnerwerken stetig zurück. Damit setze sich ein Trend fort, der bereits in der Weimarer Republik begonnen hatte. In der Saison 1932/33 befanden sich unter den sechs meistaufgeführten Opern vier von Wagner, in der Spielzeit 1938/39 tauchte unter den „Top Ten“ gar keine mehr auf. Bis zum Kriegsausbruch hielt sich Hitlers Lieblingskomponist nach der Gesamtzahl der Aufführungen noch auf Platz eins, danach wurde er von Verdi, Puccini und sogar Lortzing überholt.
Dafür gibt es zunächst eine ganz praktische Erklärung: Wagners Riesenwerke benötigten mehr Mitwirkende als die anderer Komponisten, und der Krieg riss immer größere Lücken auf den Bühnen und in den Orchestergräben. Aber andere Gründe überwogen. Hatte es im Bayreuth-Festspielführer 1938 noch geheißen, der „Ring“ sei „die erste und bis jetzt gewaltigste künstlerische Gestaltung des Rassegedankens“, dürfte spätestens die Stalingrader Lektion den NS-Kulturvögten in Erinnerung gerufen haben, dass die Tetralogie, wenn man sie denn unbedingt rassisch interpretieren wollte, ja vom Untergang der Siegfried-Sippe handelte. „Tristan und Isolde“ wiederum stand ziemlich quer zum NS-Frauenbild, außerdem entsprach das sich über den gesamten Dritten Aufzug hinziehende Sterben des Helden wohl eher dem Tatbestand der Wehrkraftzersetzung. Dasselbe galt in noch stärkerem Maße für den Pazifismus und die Apotheose des Mitleids im „Parsifal“. Ausgerechnet dieses Werk, das nach Ansicht einiger Borderliner der Vergangenheitsbewältigung die geistige Brücke von Wagner zum Holocaust geschlagen haben soll – man deutet in diesen Kreisen die mysteriöse Schlussformel „Erlösung dem Erlöser“ quasi als „Endlösung dem Erlöser“ – verschwand bei Kriegsausbruch von allen Spielplänen.
Tatsächlich wäre Wagners Karriere im Dritten Reich ohne die Passion Hitlers für seine Musik eher unauffällig verlaufen. Unter NS-Funktionären genoss der Kunstrevolutionär höchst selten jene Popularität, die heute dem Regime al fresco unterstellt wird. Der Presse- und Kulturwart Curt von Westernhagen schrieb 1935 in einem Brief, die Sympathie des Führers dürfe „keineswegs darüber hinwegtäuschen, daß weite Kreise unserer Bewegung der Gesamtpersönlichkeit Wagners fremd oder ablehnend gegenüberstehen“. Die NS-Ideologen Hans Günther und Alfred Baeumler waren Wagner-Gegner, und Alfred Rosenberg, der einen mystischen Wotan-Kult etablieren wollte, hätte sich und dem Reich den problematischen „Ring“-Obergott gern vom Hals geschafft.
Joseph Goebbels behauptete zwar, Wagner zu mögen, aber weder in seinen Reden noch seinen Tagebüchern findet sich eine mehr als oberflächliche Bezugnahme auf dessen Werk und Ansichten. Der Beitrag des Reichspropagandaminsters zur Wagner-Exegese beschränkte sich darauf, den „Wach auf!“-Chor im Dritten Akt der „Meistersinger“, mit dem sich die Volksmenge an Hans Sachs wendet, in einen „Wacht auf“-Chor zu verwandeln, welcher, so Goebbels, „von sehnsuchtserfüllten, gläubigen deutschen Menschen als greifbares Symbol des Wiedererwachens des deutschen Volkes aus der tiefen politischen und seelischen Narkose“ empfunden worden sei.
„Die einfache Wahrheit lautete, dass viele Nazis an hoher wie niedriger Stelle Wagner zum Heulen langweilig fanden“, resümiert Jonathan Carr in seinem grandiosen Buch „Der Wagner-Clan“. Am Beginn der „Meistersinger“- Galavorstellung zum NSDAP-Parteitag 1933 war so wenig Publikum anwesend, dass ein erboster Führer Greiftrupps in die Bordelle und Biergärten aussandte, um die Parteigenossen der Hochkultur zuzuführen. Im Jahr darauf hatten seine Paladine zwar für ein von Anfang an gefülltes Haus gesorgt, aber viele Anwesende schliefen oder klatschten an den falschen Stellen. Wie Hitlers Sekretärin Traudel Junge berichtete, wurde während einer „Tristan“-Aufführung ein Angehöriger von Hitlers Entourage, der eingeschlafen war und über die Brüstung zu kippen drohte, gerade rechtzeitig von seinem Sitznachbarn festgehalten, der Sekunden zuvor ebenfalls noch im Bubu-Land geweilt hatte.
Wie sollte es auch anders gewesen sein? Man stelle sich vor, der Chef eines großen Unternehmens würde heute seine Untergebenen bei Strafe des Sympathie-Entzugs verdonnern, mit ihm sämtliche Wagner-Opern zu hören. Warum sollte es also den Allerwelts-Nazis anders gehen als beispielsweise dem Bayreuth-Besucher Paul de Lagarde? Nachdem der Kulturphilosoph 1881 die Festspiele erlebt hatte, klagte er, es sei „zum Sterben langweilig“ gewesen, und er werde sich „einer derartigen Qual“ kein zweites Mal aussetzen. Gleichwohl feierten ihn die „Bayreuther Blätter“ als Vor- und Mitkämpfer gegen das Judentum. Die Bayreuther Ideologie band mindestens ebenso wie die Werke des Gründers.
Außerdem: Wenn in Wagners Opern wirklich so etwas wie die geistige Vorläuferschaft des Nazitums verborgen gewesen wäre, hätte dann sein Oberfan nicht bei jeder Gelegenheit darauf insistiert? Man findet bei Hitler aber weder eine nationalsozialistischen Deutung der Musikdramen noch irgendeine Bezugnahme auf Wagners theoretische Schriften. In „Mein Kampf“ erwähnt er sein Idol nur einmal namentlich, außerdem „Lohengrin“ als erste von ihm erlebte Oper und „Parsifal“ als auratisches Phänomen. Nicht einmal gegen das Judentum hat Hitler den verehrten Meister als Eideshelfer angerufen.
Als einzige Ausnahme existiert ein Kurzmonolog zum „Parsifal“ in den von Historikern als höchst fragwürdige Quelle eingestuften „Gesprächen mit Hitler“ des NS-Renegaten Hermann Rauschning. In Wagners letzter Oper werde „der unwissende, aber reine Mensch in die Versuchung gestellt, sich in dem Zaubergarten Klingsors der Lust und dem Rausch der verdorbenen Zivilisation hinzugeben oder sich zur Auslese von Rittern zu gesellen, die das Geheimnis des Lebens hüten, das reine Blut“, spricht es dort angeblich aus dem Führermund. „Merken Sie, daß das Mitleid, durch das man wissend wird, nur dem innerlich Verdorbenen, dem Zwiespältigen gilt. Und daß dieses Mitleid nur eine Handlung kennt, den Kranken sterben zu lassen. Das ewige Leben, das der Gral verleiht, gilt nur den wirklich Reinen, Adligen.“
Es ist gut möglich, dass Hitler den „Parsifal“ so verstanden hat – was aber nur bedeuten würde, dass auch der Führer das hinbekommen hätte, was einem heute als „Regietheater“ auf den Wecker geht. Doch seinen Wagner kannt er zu gut, um nicht zu wissen, mit welch unsicherem Kantonisten er es zu tun hatte. Die wirkliche Gleichschaltung Wagners war wohl erst für die Zeit nach dem Endsieg geplant.
So kam es, dass bei Hitlers regelmäßigen Bayreuth-Besuchen die Ideologie hinter die Kunst zurückzutreten hatte. Bezeichnenderweise erschien er stets in Zivil auf dem Grünen Hügel und verbat sich politische Kundgebungen im Zuschauersaal. Eine propagandistische Einwirkung auf irgendeine Inszenierung ist weder in Bayreuth noch in Berlin nachweisbar, und Hitlers Lieblingskapellmeister Wilhelm Furtwängler dirigierte alles andere als einen breiten, pathetischen Wagner. Erst ganz am Ende, im Bunker unter der Reichskanzlei, dürfte sich in Hitlers Kopf die Realität mit Wagners Kunstwelt überlagert haben, näherhin mit dem Finale der „Götterdämmerung“, und es ist von einer tiefen Symbolik, dass er einige Originalpartituren mit in die Hölle nahm. Jedenfalls sind die in seinem Privatbesitz befindlichen Autographen von fünf Wagner-Opern – „Die Feen“, „Das Liebesverbot“, „Rienzi“, „Rheingold“ und „Walküre“ – bis heute verschollen.
IV.
Im Jahr 1928 veröffentlichte der Musikkritiker Bernhard Diebold eine Broschüre, die den Titel von Nietzsches Streitschrift „Der Fall Wagner“ übernahm und mit dem Zusatz „Eine Revision“ versah. „Unglaubliches ist geschehen!“, notierte Diebold. „Das politisch rechts stehende Bildungspublikum hat seit dem Kriege Richard Wagner zu seinem speziellen Kunst- und Kulturgott erhoben. In Ermangelung eigener schöpferischer Kulturgeister erwählten die Mannen von rechts den Revolutionär, den Flüchtling und jahrzehntelang Verbannten von 1848/49 zum Erfüller ihrer nationalistischen Bedürfnisse.“ Dagegen habe die Linke eine „fatale Gedankenlosigkeit bewiesen“, indem sie „auf den ungeheueren Kultur-Kredit dieses weltberühmten Namens“ und „den mächtigen Propagandawert des größten Kunst-Revolutionärs“ verzichtete, der zugleich ein „Märtyrer des liberalen Gedankens“ gewesen sei. Dessen Nürnberg-Oper, die fünf Jahre später als musikalischer Höhepunkt des ersten NSDAP-Parteitages im Dritten Reich herhalten musste, nannte Diebold das „singende Lust- und Festspiel der Demokratie“.
Diebolds Ruf blieb nicht nur bei seinen Zeitgenossen ohne Widerhall – nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen die Schwierigkeiten der Fortschrittsparteiler mit ihrem 80-Prozent-Gesinnungsgenossen erst richtig krude Formen an. Politisch eher links stehende Autoren, Journalisten und Regisseure führen seither die Nazifizierung Wagners unter umgekehrtem Vorzeichen mit wachsendem Ingrimm zu Ende. Besonders frivol daran ist, dass diese staatlich subventionierten Kulissenumstürzler, die zeitlebens nie etwas riskiert haben, dem originären Revolutionär und Exilanten vorwerfen, er habe sich mit seinem Werk dem deutschen Machtstaat angedient. Der deutsche Gute umtanzt heute die Totempfähle der Vorfahrenschmähung mit derselben Inbrunst wie zuvor der gute Deutsche jene der Ahnenglorifizierung; neuerdings wedelt auch Hügelchefin Katharina Wagner beflissen mit dem Urgroßvaterskalp.
Aber wie konnte ein sozialistischer Revolutionär und komponierender Anarchist überhaupt in das Lager der Kulturkonservativen und Deutschnationalen geraten? Zunächst einmal wurde Wagner nach seinem Tode zügig entpolitisiert und kunstreligiös verklärt. Da nicht Siegfried die Gesellschaft umgestürzt, sondern Bismarck das Deutsche Kaiserreich errichtet hatte (und auch der zunehmend zivilisierter agierende Alberich keinerlei Anstalten machte, die Bühne zu räumen), sank der politische Kurswert Wagners mit einer gewissen Zwangsläufigkeit – während der künstlerische gewaltig stieg. Um dieses unbestritten glanzvolle Werk der politischen Lage anzupassen, verlegte sich die wachsende Schar der Anhänger um den harten Bayreuther Exegeten-Kern darauf, den linken Revolutionär einfach zu vergessen. Dass diese Titanenschöpfungen von einem Deutschen stammte, passte wiederum sehr gut zur Aufbruchstimmung und Größenrhetorik des Kaiserreichs.
Schon bei den ersten Festspielen 1876 gab ein pikierter Nietzsche nach dem „Rheingold“ die Karten für die übrigen Vorstellungen zurück, weil das Publikum, in dem er sich fand, exakt jene Gesellschaft war, die Wagner ursprünglich hatte stürzen wollen. Überdies vermisste er den Kosmopolitismus, der dem Wagnerschen Werk von Anbeginn eingeschrieben war und sich beispielsweise in der Wagner-Schwärmerei eines Charles Baudelaire offerierte. „Man hatte Wagner ins Deutsche übersetzt!“, zürnte der Philosoph. „Die deutsche Kunst! Der deutsche Meister! Das deutsche Bier!“
Bemerkenswerter- und auch kurioserweise waren es drei Ausländer, die den Komponisten postum aufs deutschnational-protovölkische Gleis schoben. Ehefrau Cosima, die Tochter Franz Liszts, war französisch-ungarischen Geblüts und kam in der Lombardei zur Welt; Cosimas Schwiegersohn, der Privatgelehrte und Schriftsteller Houston Stewart Chamberlain, war Engländer, ebenso wie Schwiegertochter Winifred Wagner, geborene Marjorie Williams, die nach dem Tode ihres Gatten Siegfried Wagner von 1930 bis 1944 die Bayreuher Festspiele leitete. „Die gesellschaftliche Oberschicht, die sich zu Nietzsches Ekel und teilweise Wagners Verachtung für den ‚Ring’ versammelte, war ein Milieu, in dem sich Cosima ganz zu Hause fühlte“, erläutert Familien-Biograph Jonathan Carr; Cosima und Chamberlain, beide „im Wagner-Land als selbstgewähltem Exil“ lebend, „vertrugen sich augenblicklich prächtig“.
Cosima verfügte übrigens auch den bis heute unveränderten Bayreuther Aufführungs-Kanon, womit die Festspiele im Laufe der Zeit zwangsläufig etwas Starres und Rituelles bekamen. Der Meister selbst hatte keine konkreten Weisungen zum Bayreuther Menü hinterlassen, aber immerhin geäußert, im Rahmen der Festspiele regelmäßig eine Preisauschreibung für ein neues Werk veranstalten zu wollen. Als Witwe und Oberpriesterin in Personalunion hatte Cosima daran wenig Interesse.
Ihr Schwiegersohn Chamberlain wiederum fungierte als Spin-Doktor, der den politischen Revolutionär in einen ausschließlich künstlerischen umwandelte. Chamberlains Wagner-Biographie von 1895 ist, bei aller Tendenziösität, mit Souveränität und erheblichem Können geschrieben. „Eigentlich sollte man Kunstwerke nur sehen und hören – sie erleben – nicht sie besprechen“, schreibt er, „hierin wird mir jeder echte Künstler beipflichten. Kunstwerke des Genies sind nur mit Offenbarungen zu vergleichen; ihr Geheimnis können wir nie ergründen, und es erfordert unendlich viel Takt, dasjenige herauszufinden, worüber mit Nutzen gesprochen werden kann. Ein Schritt zu nahe an das Kunstwerk heran – und schon streifen wir den zartesten Reif ab; bald bleibt ein bloßes anatomisches Gerüst in unseren Händen.“ Wagners theoretische Schriften charakterisiert er so: „Der Künstler findet sie zu philosophisch, der Philosoph zu künstlerisch; der Historiker begreift nicht, dass die Einsichten eines großen Dichters ‚verdichtete Tatsachen’ sind, er verachtet sie als Träumereien; der ästhetisch gebildete Träumer weicht erschrocken zurück vor dem energischen Wollen des Revolutionärs, der mit Hilfe der Kunst die ganze Welt umzugestalten hofft. Kurz, diese Schriften verdienen in etwa die Bezeichnung Nietzsches: ‚für alle und keinen’.“
Der größte Verehrer Chamberlains war Kaiser Wilhelm II., der den Verfasser der „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ mit großem Pomp empfing und dessen Buch stapelweise verschenkte. Winifred ihrerseits nahm etwas später regelmäßig Handküsse des Bayreuth-Pilgerers Adolf Hitler entgegen, wobei sie sich etwas weniger züchtige wünschte. Daraus, dass sie den Führer nicht nur verehrt, sondern geliebt hatte, machte die alte Dame auch nach 1945 als wohl einziger Mensch innerhalb des geschlagenen Reiches keinerlei Hehl. Zu Winifreds Ehren muss gesagt werden, dass sie vielen vom Regime verfolgten Künstlern geholfen hat. Zu Ehren des Hausorgans „Bayreuther Blätter“ wiederum sei festgehalten, dass das Periodikum, bei aller nationalsozialistischen Indienstnahme, dem Meister in einem Punkt getreulich folgte: Man blieb stets pazifistisch. Nach dem Tod des Chefredakteurs Hans von Wolzogen 1938 machten die Nazis den Laden dicht. Ein bisschen Blechbläser-Zinnober ausgenommen, konnten sie Wagner bei dem, was jetzt folgte, nicht mehr gebrauchen. –
Gegenwärtig ist unser Attac-Komponist, der sein Kreuz, lebte er heute, wahrscheinlich bei den Grünen oder der Linkspartei machen würde, auf den Bühnen und in den Medien einer zunehmenden Anbräunung ausgesetzt. Im Grunde ist das egal; dies Werk ist so bedeutend, dass es auch dann nicht an Strahlkraft verlöre, wenn sein Schöpfer Kommandant von Dachau gewesen wäre. Aber als Kuriosum darf doch festgehalten werden, dass in Sachen Wagner-Interpretation bis heute der Führer das letzte Wort zu haben scheint.
Der Komponist werfe einen Schatten, „in dem sich Musik und Holocaust verbinden“, metaphert der „Spiegel“ in seiner Titelgeschichte zum 200. Jubiläum und geht damit viel weiter, als unser seliger Adolf es je gewagt hätte. Die Wagnerfamilie sei „für Deutschland das, was die Atriden für die griechische Mythologie sind“, setzt das Magazin seine schiefen Gedanken in entlarvend schiefen Bildern fort; einer habe „schwer gesündigt, und dann liegt ein Fluch über allen Generationen“. Der mykenische König Atreus schlachtete die Kinder seines Bruders und setzte ihm das Fleisch als Mahl vor. Was mag der Schöpfer des „Tristan“ und Verfasser einer schäbigen Judenbroschüre Vergleichbares getan haben?
Musikern teilt sich dieser Fluch gemeinhin nicht mit. Die größten Komponisten nach Wagner – Bruckner, Mahler, Strauss, Puccini – hätten sich für ihn duelliert. Alban Berg beschied einem auf den Bayreuther Meister schimpfenden jüdischen Intellektuellen kühl: „Sie können so reden, Sie sind ja kein Musiker!“ „Ich hasse Wagner, aber auf den Knien“, brachte Leonard Bernstein die für den Kritiker angemessene Position auf den Punkt.
Für andere verbindet sich mit Wagners Werk eine Erinnerung daran, dass es einmal Zeiten gab, da sich die Assoziation „typisch deutsch“ mit der Auflösung aller Welträtsel in Musik und Dichtung verband, mit träumerischem Tiefsinn und mondbeschienener Realitätsflucht, mit der blauen Blume der Romantik, mit Feenreichen und Gegenwirklichkeiten, mit der Suche nach dem Ewigen und Überwirklichen, der Verachtung des schnöde-Materiellen und dem Streben nach höchster Erkenntnis, mit Kunst als Daseins-Letztbegründung und Gottesdienst. „Als deutsch im höchsten Sinne des Wortes“, schrieb Thomas Mann über Wagners Opern, dürfe man „ihre gewaltige Sinnigkeit, ihren mythischen Hang und metaphysischen Drang, vor allem schon ihr tief ernstes Selbstgefühl als Kunst ansprechen“, den „hohen und feierlichen Begriff der Kunst“, von dem sie erfüllt sei. „Bei alledem aber ist sie von einer Weltgerechtigkeit, Weltgenießbarkeit, wie sie keiner deutschen Kunst dieses Ranges je mitgegeben wurde.“
Aber man vergesse nie: Wagner war ein Modernisierer durch und durch. „Kinder, schafft Neues“, lautete seine Maxime. Erst das Bayreuth nach seinem Tod wurde zum Ort der Erstarrung und des Opportunismus. Bislang haben sich die Festspiele noch mit jedem politischen System arrangiert. Das Angepasststein an den Zeitgeist ist bis heute der Markenkern Bayreuths. Von den standardisierten Provokationen und gutgeölten gegen-den-Strich-Bürstereien der „noch immer ganz ernsthaft so genannten Opernregisseure“ (Eckhard Henscheid) über den Vergangenheitsbewältigungs-Exhibitionismus bis zum „public viewing”: Die Festspielverantwortlichen haben gelernt, was man dem Feuilleton und den Chattering Classes vorsetzen muss – wobei vermutlich sämtliche in diesem Jahr auf den Grünen Hügel gänsemarschierenden Prominenten zusammen von Wagner nicht so viel verstehen wie der zumindest in diesem Punkte überaus kundige Führer. Da die Hakenkreuzfahnen draußen nicht mehr wehen dürfen, hat man sie auf die Bühne geholt, neben allerlei anderem Tinneff; die sogenannte „Entrümpelung“ der Klassiker ist ohne Gerümpel offenbar nicht zu haben. Die Werke werden zu Bayreuth heute betont unelitär, unschön, unpathetisch und zwanghaft politisiert dargeboten, fern aller Mysterien und auch noch im Klamauk unter der großen historischen Schuld ächzend. Urenkelin Katharina hat die Festpiele zu einer Veranstaltung gemacht, wo der Geist, der deutsche allzumal, höchstens noch spuken darf. Ein Vers von Kurt Tucholsky auf Friedrich den Großen, leicht abgewandelt, fügt sich hier gut: „Dreh still dich im Grabe,/ verbirg dein Gesicht,/ sie haben dein Festspielhaus,/ deinen Geist haben sie nicht.“
In allen Opern Wagners gerät der Outlaw in Konflikt mit den starren Regeln der Gesellschaft – eine genuin linke Perspektive. Wie seine Opern-Helden ist Wagner niemals in der realen Gesellschaft angekommen, auch wenn er es fertigbrachte, seiner Kunst einen eigenen Tempel zu errichten, in welchem 130 Jahre nach seinem Tod noch regelmäßig die Opferfeuer entzündet werden. Sein Wunsch nach dem Umsturz aller Verhältnisse und seine Weltabkanzelei haben sich im Alter sogar noch verstärkt, nun wollte er nicht mehr nur eine andere Gesellschaft, sondern die Menschheit als ganze einer „Regeneration“ unterziehen. Diese Regeneration müsse aus dem „tiefen Boden einer wahrhaften Religion“ wachsen, postulierte er – in Kurzform: Christus plus Buddha minus Kirche. Die Künste wiederum könnten zu ihrer wahren Blüte erst in einer regenerierten Gesellschaft gelangen; diese sei jedoch ohne die Mitwirkung der Kunst unerreichbar. Die Richtung dorthin weist der „Parsifal“.
Die Spätschriften Wagners, aus welchen sich seine Regerenationslehre in vagen Umrissen destillieren lässt, lesen sich wie ein Querschnitt durch antikapitalistische, grüne, pazifistische und esoterische Befreiungslehren, für den heutigen Linken freilich verdorben durch die Zutat zeitgemäßer Rassenideologie, die heute unter Rassismus firmierte (und dies wohl auch ist). Die „Entartung des menschlichen Geschlechts“ sei „durch den Abfall von seiner natürlichen Nahrung bewirkt worden“, heißt es in „Religion und Kunst“. Ausgehend von der „Erkenntnis der Einheit alles Lebenden“ und der „brahmanische Lehre von der Sündhaftigkeit der Tötung des Lebendigen und der Verspeisung der Leichen ermordeter Tiere“ hält Wagner den Vegetarismus für den „Kernpunkt der Regenerationsfrage“.
Der Zivilisation sei freilich der „Tier- und Menschenmord geläufig geworden“. Bereits im Alten Testament werde beides gerechtfertigt; überhaupt enthalte der rein jüdische Teil der heiligen Schrift wenig von der Sanftmut und dem Mitleid, welche das Neue Testament auszeichne. Weshalb der „Verderb der christlichen Religion von der Herbeiziehung des Judentums zur Ausbildung ihrer Dogmen herzuleiten“ sei; „wo wir christliche Heere, selbst unter dem Zeichen des Kreuzes, zu Raub und Blutvergießen ausziehen sahen, war nicht der Alldulder anzurufen, sondern Moses, Joshua, Gideon“. Die Nationen stünden einander immer waffenstarrender gegenüber, während die Universitätshistoriker den „Eroberern ihr Lied singen, von den Leiden der Menschheit aber nichts wissen wollen“. Nur „die Erkenntnis der Notwendigkeit und Möglichkeit einer wahrhaften Regeneration des der Kriegs-Zivilisation verfallenen Menschengeschlechts“ könne die Gattung ihrem edelsten Ziele näherbringen: dem „Weltfrieden“.
Die Überzeugung, dass sich die Menschheit falsch ernähre, gewann Wagner schon früh; 1850 schreibt er in einem Brief: „Mangel an gesunder Nahrung auf der einen Seite, Übermaß üppigen Genusses auf der anderen Seite, vor allem aber eine gänzlich naturwidrige Lebensweise im allgemeinen haben uns in einen Zustand der Entartung gebracht, der nur durch eine gänzliche Erneuerung unseres entstellten Organismus gehoben werden kann.“ An Liszt schreibt er, beinahe schon nach Wilhelm Reich klingend: „Wahrlich, all’ unsere Politik, Diplomatie, Ehrsucht, Ohnmacht und Wissenschaft und – leider auch – unsere ganze moderne Kunst, wahrlich, diese ganzen Schmarotzergewächse unseres heutigen Lebens haben keinen anderen Grund und Boden, aus dem sie wachsen, als – unsere ruinierten Unterleibe! Ach, wollte und könnte mich jeder verstehen, dem ich dies – fast lächerlich klingende – und doch so entsetzlich wahre Wort zurufe!“
Wer sich falsch ernährt, wirtschaftet auch falsch und treibt eine verderbliche Politik. Der „Raubmensch“, heißt es in „Religion und Kunst“, „bildet Staaten und richtet Zivilisationen ein, um seinen Raub in Ruhe zu genießen“, was sich dadurch nicht geändert habe, dass längst aus dem „reißenden“ ein „rechnendes Raubtier“ geworden sei. Für die Omnipräsenz der Berechnung macht er wieder zuerst das Judentum verantwortlich: In der „Kunst des Geldmachens aus Nichts“ seien die Juden „Virtuosen“, die Deutschen dagegen „Stümper“; unsere Zivilisation sei überhaupt keineswegs eine christliche, sondern im Gegenteil „ein Triumph der Feinde des christlichen Glaubens“, „ein barbarisch-judaistisches Gemisch“ in maximaler Heilandsferne. „Der verhängnisvolle Ring des Nibelungen als Börsen-Portefeuille dürfte das schauerliche Bild des gespenstischen Weltbeherrschers zur Vollendung bringen“, orakelt Wagner in der Spätschrift „Erkenne dich selbst“. Die Herrschaft des Geldes, des „bleichen Metalls, dem wir in knechtischer Leibeigenschaft untertänig sind“, überhaupt Eigentum als solches sowie dessen Vererbbarkeit gelten ihm als weitere Ursachen allgemeiner Entartung. Mit dem „Begriffe des Eigentums“, notiert er, sei „dem Leib der Menschheit ein Pfahl eingetrieben worden, an welchem sie in schmerzlicher Leidenskrankheit dahinsiechen muss.“
Dagegen liege „selbst dem Grollen des Arbeiters, der alles Nützliche schafft, um davon selber den verhältnismäßig geringsten Nutzen zu ziehen“, die Erkenntnis „der tiefen Unsittlichkeit unserer Zivilisation zum Grunde“. Dem „heutigen Sozialismus“ empfiehlt Wagner, er möge mit den „Verbindungen der Vegetarianer, der Thierschützer und der Mäßigkeitspfleger in eine wahrhaftige und innige Vereinigung“ treten. Dass bei ihm Schopenhauer immer subkutan mitspricht, demonstriert der Gedanke, die „in der Klage geeinigte Seele der Menschheit“ werde „durch diese Klage sich ihres hohen Amtes der Erlösung der ganzen mit-leidenden Natur bewußt“ und sei so imstande, den „rastlosen Willen“, der die Menschen zu blinder Zerstörung und sinnlosem Leiden treibe, von sich selbst zu befreien.
Im Gegensatz zu anderen Verkündern des „Neuen Menschen“ machte sich Wagner allerdings keine Illusion darüber, wie prekär die Lage der Gattung auch nach einer „Regeneration“ bleiben werde. Möge diese „sich noch so friedsam gestalten, stets und immer wird uns in der umgebenden Natur, in der Gewaltsamkeit der Urelemente, in den unabänderlich unter und neben uns sich geltend machenden niederen Willens-Manifestationen in Meer und Wüste, ja in dem Insekte, dem Wurme, den wir unachtsam zertreten, die ungeheure Tragik dieses Welten-Daseins zur Empfindung kommen, und täglich werden wir den Blick auf den Erlöser am Kreuz als letzte erhabene Zuflucht zu richten haben.“ –
Richard Wagner starb am 13. Februar 1883 in Venedig, an seinem Schreibtisch über einem Manuskript sitzend, dem der Titel „Über das Weibliche im Menschen“ vorangestellt war. Der letzte Satz, den er zu Papier brachte, lautete „Gleichwohl geht der Prozeß der Emanzipation des Weibes nur unter ekstatischen Zuckungen vor sich.“ Am Abend zuvor hatte er vor dem Schlafengehen auf dem Klavier die Klage der Rheintöchter gespielt: „Traulich und treu/ ist’s nur in der Tiefe:/ falsch und feig/ ist was dort oben sich freut!“ und mit den Worten kommentiert: „Ich bin ihnen gut, diesen untergeordneten Wesen der Tiefe, diesen sehnsüchtigen.“
Erschienen in: „eigentümlich frei” Mai 2013, Juni 2013, Juli 2013