Ein deutscher Linker

Zum 200. Geburts­tag Richard Wag­ners ein paar Rich­tig­stel­lun­gen über den Jubi­lar

 

I.

Die Stre­cke von Lon­don nach Bay­reuth beträgt etwas über 1000 Kilo­me­ter, doch es soll­te 78 Jah­re dau­ern, bis eine Idee aus der Haupt­stadt des bri­ti­schen Empire in die ober­frän­ki­sche Pro­vinz gelang­te. Der Ver­zug ist inso­fern noch beson­ders erstaun­lich, als besag­te Idee den Weg nach Lon­don einst von Deutsch­land aus genom­men hat­te. Ihre schließ­li­che Rück­kehr in das Richard-Wag­ner-Städt­chen geschah unter dem Gejoh­le und Gebu­he des sich sel­ber für wag­ner­treu hal­ten­den Fest­piel­haus-Publi­kums, wäh­rend der nach eige­nem Dün­ken fort­schritt­li­che Teil des­sel­ben begeis­tert applau­dier­te. Wag­ners Werk wer­de ver­ge­wal­tigt, zeter­ten die Ortho­do­xen; es wer­de end­lich ent­rüm­pelt, froh­lock­ten die Pro­gres­sis­ten. Bei­de Frak­tio­nen saßen spie­gel­ver­kehrt dem­sel­ben Irr­tum auf: Sie glaub­ten, sie hät­ten der Geburt von etwas Neu­em beigewohnt.

Die Rede ist vom Bay­reu­ther „Ring des Nibe­lun­gen“ aus dem Jahr 1976, insze­niert von Patri­ce Ché­reau und längst als soge­nann­ter „Jahr­hun­dert­ring“ kano­ni­siert bzw. beka­kelt. Der Fran­zo­se hat­te die Göt­ter, Rie­sen und Zwer­ge der Text­vor­la­ge in Poli­ti­ker, Kapi­ta­lis­ten und Pro­le­ta­ri­er ver­wan­delt; im Rhein, dar­in die gleich­na­mi­gen Töch­ter sich neckisch tum­meln, wuch­te­te ein Stau­wehr; Nibel­heim, wohin der arge Zwerg Albe­rich das geraub­te Rhein­gold schlepp­te, prä­sen­tier­te sich als ein düs­te­res Indus­trie­ge­biet, geschaf­fen zur Akku­mu­la­ti­on des gestoh­le­nen Gol­des unter der Herr­schaft des nun­meh­ri­gen Kapi­ta­lis­ten Albe­rich; Sieg­fried schuf des Vaters zer­bro­che­nes Schwert nicht mit dem Ham­mer neu, son­dern mit einer gewal­ti­gen Schmie­de­ma­schi­ne und so fort. Kurz, es fand auf der Büh­ne statt, was Geor­ge Bern­hard Shaw 1898 in sei­nem Buch „The per­fect Wag­ne­ri­te“ pos­tu­liert hat­te, näm­lich dass die Tetra­lo­gie „eigent­lich moder­ne Kos­tü­me erfor­dern wür­de, Zylin­der statt Tarn­hel­men, Fabri­ken statt Nibel­hei­men, herr­schaft­li­che Vil­len statt Wal­hall“, denn das alte Nibe­lun­gen-Epos sei dem Kom­po­nis­ten nur „Vor­wand und Namens­ver­zeich­nis“ gewesen.

Der „Ring“ als Dra­ma mit sozia­lis­ti­schem Kern: Kei­ne Kopf der deut­schen Lin­ken hat je eine Shaw ver­gleich­ba­re The­se auf­ge­stellt. Statt­des­sen wur­de Wag­ner pos­tum zum Mann der Rech­ten, der Bour­geois, der Natio­na­lis­ten, schließ­lich der (gar nicht so rech­ten) Natio­nal­so­zia­lis­ten. 1933 wie­sen die ultra­kon­ser­va­ti­ven „Bay­reu­ther Blät­ter“ Shaws Sicht der Din­ge mit dem Bescheid zurück, Wag­ners Werk sym­bo­li­sie­re das Mensch­li­che schlecht­hin und kön­ne „nie­mals aber die kal­te Wirk­lich­keit mit all ihren kom­pli­zier­ten Ein­rich­tun­gen und sozia­len Pro­ble­men“ darstellen.

Hier steht nun kei­nes­wegs das Pos­tu­lat im Raum, dass die Shaw-Chéreausche-„Ring“-Deutung die „rich­ti­ge“ sei – Wag­ners alle­go­ri­sches Opus magnum bie­tet Raum für die viel­fäl­tigs­ten Inter­pre­ta­tio­nen. Es muss aller­dings gefragt wer­den, war­um der Ein­druck ent­ste­hen und jahr­zehn­te­lang auf den Büh­nen vor­herr­schen konn­te, Wag­ner habe dem Publi­kum tat­säch­lich ger­ma­ni­sche Göt­ter, Hel­den und Fabel­we­sen vor­füh­ren wol­len. Zwar ist auch die­se Sicht der Din­ge legi­tim, jeder Teen­ager, der erst­mals in den Wag­ner­schen Kos­mos gerät, nimmt die Figu­ren irgend­wie eins zu eins (und ich wer­de in zehn Jah­ren wie­der damit anfan­gen). Aller­dings hät­te all jenen auf­fal­len müs­sen, die – gleich­gül­tig ob begeis­tert oder indi­gniert – dar­auf bestan­den, Wag­ner trei­be Ger­ma­nen- und Heroen­kult, dass vom ver­meint­lich kul­ti­gen Per­so­nal am Ende nie­mand übrig bleibt.

Für den Schöp­fer von „Lohen­grin“, „Sieg­fried“ und „Par­si­fal“ waren die nor­di­schen Sagen nicht mehr und nicht weni­ger als ein unver­brauch­ter Stoff, den er nach sei­nen Bedürf­nis­sen kne­ten und kom­pi­lie­ren konn­te – er ließ ja kei­ne ein­zi­ge Vor­la­ge unver­än­dert. Im Kai­ser­reich gab es vie­le Unter­su­chun­gen zum sagen­ge­schicht­li­chen Hin­ter­grund sei­ner Opern, und man zoll­te den „echt ger­ma­ni­schen“ Figu­ren samt der sie angeb­lich ver­herr­li­chen­den Musik Begeis­te­rung. Wag­ner sei der „Wie­der­ent­de­cker und kraft­vol­ler Bild­ner uralter tief­sin­ni­ger deut­scher und deutsch gewor­de­ner Sagen­stof­fe“ gewe­sen, schrieb Fer­di­nand Pfohl in sei­ner 1911 erschie­nen Bio­gra­phie, er habe „dem deut­schen Volk geschenkt“, was zuvor nur „einer klei­nen Gemein­de von Gelehr­ten und Lite­ra­tur­pro­fes­so­ren geläu­fig war“. Schon rich­tig, doch woll­ten nur weni­ge sehen (und hören), dass Wag­ner das „Ring“-Personal kei­nes­wegs ver­herr­licht, son­dern zum Unter­gang ver­ur­teilt. Liest man sein rei­ches Werk­be­gleit­schrift­tum, offen­bart sich schnell, wes­sen Ende auf der Büh­ne tat­säch­lich däm­mert und was vier Aben­de lang im Ger­ma­nen­kos­tüm dis­kre­di­tiert, denun­ziert und schließ­lich ver­nich­tet wird: nichts ande­res als die bür­ger­li­che Gesellschaft.

Wo immer sich heu­te in der west­li­chen Welt Men­schen ver­sam­meln, um dem „Ring des Nibe­lun­gen“ bei­zu­woh­nen, soll­ten sie davon aus­ge­hen, dass die­ses Werk gegen das Gesell­schafts­sys­tem geschrie­ben wur­de, in wel­chem sie leben. „Mei­ne gan­ze Poli­tik ist nichts wei­ter als der blu­tigs­te Haß uns­rer gan­zen Civi­li­sa­ti­on, Ver­ach­tung alles des­sen, was ihr ent­sprießt, und Sehn­sucht nach der Natur“, notier­te der geschei­ter­te Umstürz­ler im Dezem­ber 1851, „nur die furcht­bars­te und zer­stö­rends­te Revo­lu­ti­on kann aus unsern civi­li­sir­ten Bes­ti­en wie­der ‚Men­schen’ machen“.

In sei­ner Rede vor dem Vater­lands­ver­ein anno 1848 („Wie ver­hal­ten sich die repu­bli­ka­ni­schen Bestre­bun­gen dem König­t­hu­me gegen­über?“) hat­te der damals 35jährige könig­li­che Hof­ka­pell­meis­ter gefor­dert, der König möge sich als „all­ech­tes­ter Repu­bli­ka­ner“ prä­sen­tie­ren, und dar­über hin­aus fol­gen­des: Schaf­fung eines Par­la­ments, sozia­le Refor­men, die genos­sen­schaft­li­che Orga­ni­sa­ti­on des Vol­kes, die Abschaf­fung des Adels und aller Titel, sowie – jetzt kommt’s – des Gel­des. Der „Ring“, des­sen Text­buch Wag­ner Anfang 1853 been­de­te, ist eine sech­zehn­stün­di­ge Mori­tat über den Fluch des Gol­des (= des Gel­des) mit dem schluss­end­li­chen Unter­gang der vom Geld geschaf­fe­nen Ver­hält­nis­se. Säße Wag­ner heu­te in einer Talk-show, man wür­de ihn als „kapi­ta­lis­mus­kri­ti­schen Künst­ler“ vorstellen.

Ande­re Kom­po­nis­ten schrie­ben Musik, um ihr Publi­kum zu unter­hal­ten oder zu enthu­si­as­mie­ren, Wag­ner schrieb Musik, weil er eine ande­re Gesell­schaft woll­te. Poli­tisch inter­pre­tier­ba­re Kom­po­si­tio­nen gab es zu allen Zei­ten, aber Wag­ner ist der ein­zi­ge Welt­ver­bes­se­rer, „der sich zu sei­nen Vor­stel­lun­gen die Begleit­mu­sik selbst schrei­ben konn­te“ (Jens Mal­te Fischer).

Aller­dings nahm der Lauf der Welt eine ganz ande­re Rich­tung, als es sich der Dresd­ner Hof­ka­pell­meis­ter, der 1848 zu Dres­den auf die Bar­ri­ka­den stieg, vor­ge­stellt hat­te. Der Auf­stand schei­ter­te, vie­le sei­ner Mit­kämp­fer lan­de­ten im Gefäng­nis, er sel­ber muss­te als steck­brief­lich gesuch­ter Auf­rüh­rer ins Schwei­zer Exil flüchten.

Seit­her leb­te Wag­ner, wie man heu­te for­mu­lie­ren wür­de, im fal­schen Film. Sei­ne Vor­stel­lung von einer Kunst­re­vo­lu­ti­on war von der statt­ge­hab­ten wirk­li­chen Revo­lu­ti­on aus­ge­gan­gen. In der Schrift „Die Kunst und die Revo­lu­ti­on“ beklag­te er die ego­is­ti­sche Zer­split­te­rung der Küns­te als Spie­gel­bild der Gesell­schaft und pos­tu­lier­te, die „gro­ße Mensch­heits­re­vo­lu­ti­on“ wer­de die Ein­heit der Küns­te, das Gesamt­kunst­werk her­stel­len, wie sie auch die in Stän­de und Klas­sen zer­split­ter­te Mensch­heit in brü­der­li­cher Lie­be wie­der ver­ei­nen wer­de. Nie soll­te er die­ses Publi­kum vor­fin­den; statt­des­sen saßen und sit­zen die Ange­hö­ri­gen der von ihm ver­ach­te­ten bür­ger­li­chen Gesell­schaft in sei­nen Opern.

„Wag­ner hat, sein hal­bes Leben lang, an die Revo­lu­ti­on geglaubt, wie nur irgend­ein Fran­zo­se an sie geglaubt hat“, schrieb einer, der es wis­sen muss­te: Fried­rich Nietz­sche. Und was tat er in der ande­ren Hälf­te sei­nes Lebens? Hat er sich nicht dem Kai­ser­reich ange­dient? Ist er der nicht „neu­deutsch-preu­ßi­sche Reichs­mu­si­kant“ gewor­den, wie Karl Marx spot­te­te, der in sei­nem Bay­reu­ther „Nar­ren­fest“ dem so gut­be­tuch­ten wie daseins­ge­lang­weil­ten kon­ser­va­ti­ven Publi­kum aller­neu­es­ten Event-Kit­zel bot? Hat er nicht den Sieg über Frank­reich mit einem Kai­ser­marsch gefei­ert? War er nicht ein Anti­se­mit, Natio­na­list und irgend­wie „geis­ti­ger Weg­be­rei­ter“ sei­nes aller­größ­ten Fans aus Brau­nau am Inn?

Um das Phä­no­men Wag­ner halb­wegs zu ver­ste­hen, muss man sich drei Tat­sa­chen vor Augen hal­ten. Zunächst ein­mal war der klein­wüch­si­ge, quir­li­ge, unent­wegt reden­de Sach­se ein Schöp­fer und Voll­brin­ger him­mel­weit ober­halb nor­ma­len Men­schen­ma­ßes, „Der letz­te der Tita­nen“, wie eine neue­re Bio­gra­phie beti­telt ist. Sodann war er der größ­te Ego­zen­tri­ker der Kunst­ge­schich­te. Und schließ­lich hat er nie auf­ge­hört, in revo­lu­tio­nä­ren Kate­go­rien zu denken.

Alles was Wag­ner pos­tu­lier­te, stand in direk­ter Bezie­hung zu sei­nem gewal­ti­gen Ego, das sich selbst immer eine Son­der­rol­le zuschrieb – man darf bei­spiels­wei­se über die lebens­lan­ge Geld­geil­heit des lebens­lan­gen Geld­schmä­hers getrost den Kopf schüt­teln. Wag­ner war königs­treu, wenn damit Tant­je­men ver­bun­den waren, ob nun in Sach­sen oder in Bay­ern, er war kai­ser­treu, solan­ge die Hoff­nung bestand, Wil­helm I. wer­de in Bay­reuth auf­kreu­zen (was der Kai­ser 1876 tat), aber er ver­ach­te­te Preu­ßen, was wie­der­um damit zu tun gehabt haben dürf­te, dass Bis­marck weder sei­ne Opern hören noch Bay­reuth Geld geben woll­te. Er froh­lock­te über Frank­reichs Nie­der­la­ge 1871, und zwar nicht zuletzt weil Paris ein Ort des Miss­erfolgs und der Demü­ti­gung für ihn war, dort hat­te er als jun­ger Musi­ker zwei Jah­re lang ver­geb­lich anti­cham­briert und gebet­telt und oben­drein mit der fran­zö­si­schen „Tannhäuser“-Premiere 1861 das grö­ße Fias­co sei­ner Kar­rie­re erlebt. Hät­te Paris vol­ler Wag­ne­ria­ner gesteckt, Wag­ners patrio­ti­sche Gefüh­le hät­ten sich wohl in Gren­zen gehal­ten. Die­ser Tita­noid war imstan­de, Regie­rungs­chefs, Groß­städ­te, ja gan­ze Län­der ein­zig danach zu beur­tei­len, wie sie sei­ne Wer­ke auf­nah­men. Und man muss ja immer­hin die unge­heu­er­li­che Tat­sa­che kon­ze­die­ren, dass die­ses Werk womög­lich gan­ze Län­der, Städ­te und natür­lich alle sei­ner­zeit bedeu­ten­den Regie­rungs­chefs über­dau­ern wird.

Auch der Theo­re­ti­ker Wag­ner hält unbe­irrt an der weit­mög­lichs­ten Perpek­ti­ve, am Blick aufs Groß­egan­ze fest. Er stellt die Dia­gno­se eines all­um­fas­sen­den gesell­schaft­li­chen und kul­tu­rel­len Ver­falls, er ver­ach­tet die Poli­tik und bleibt getrie­ben vom Wunsch nach Umstür­zung aller Ver­hält­nis­se. Gegen Ende sei­nes Lebens hat Wag­ner die Idee der Revo­lu­ti­on noch über­bo­ten durch sei­ne Visi­on einer „Rege­ne­ra­ti­on“ des Men­schen­ge­schlechts, in wel­cher sich die Abschaf­fung des Staa­tes, rigi­der Pazi­fis­mus, die Über­win­dung des Ego­is­mus, eine grund­le­gen­de Refor­ma­ti­on des Chris­ten­tums inklu­si­ve der Über­nah­me bud­dhis­ti­scher Ele­men­te, Vege­ta­ris­mus, Alko­hol­abs­ti­nenz, Natur­ver­bun­den­heit mit dem Gemein­schafts­er­leb­nis sei­ner Kunst wun­der­lich ver­men­gen. Dass die rege­ne­rier­te Mensch­heit Schluss gemacht haben wür­de mit dem Kapi­ta­lis­mus, dem Fluch des Gol­des, dem Typus Albe­rich, ver­steht sich.

 

II.

In Richard Wag­ners Vier­tei­ler über die Ursa­chen und das (vor­läu­fi­ge) Schei­tern der Revo­lu­ti­on droht der alten Welt des Göt­ter­va­ters Wotan von zwei Sei­ten das Ende: vom anar­chis­ti­schen Alles­zer­mal­mer Sieg­fried und vom kapi­ta­lis­ti­schen Aus­beu­ter Albe­rich. Auf wes­sen Sei­te Wag­ners Sym­pa­thie liegt, ist klar. Sieg­fried ver­kör­pe­re „den Men­schen in der natür­lichs­ten, hei­ters­ten Fül­le sei­ner sinn­lich beleb­ten Kund­ge­bung“, führt sein Erfin­der in der Selbst­er­klä­rungs-Schrift „Eine Mit­tei­lung an mei­ne Freun­de“ aus, „kein his­to­ri­sches Gewand eng­te ihn mehr ein; kein außer ihm ent­stan­de­nes Ver­hält­niß hemm­te ihn irgend­wie in sei­ner Bewe­gung“. Der furcht­lo­se und von kei­ner Ideo­lo­gie ver­dor­be­ne Recke ist der schlecht­hin freie Mensch. „Sieg­fried-Baku­nin“, wie Geor­ge Bern­hard Shaw ihn hal­bi­ro­nisch titu­lier­te, zer­schlägt die alte Gesell­schaft und macht klar Schiff für die neue, die er sel­ber nicht erle­ben wird. Wie die­se neue Welt aus­se­hen soll, davon gibt dann „Par­si­fal“ mehr Ahnung als Auskunft.

An den inhaf­tier­ten 1848er Mit­strei­ter August Röckel geht im Janu­ar 1854 fol­gen­de Erklä­rung Wag­ners: „Sieg­fried (ist) der von uns gewünsch­te Mensch der Zukunft, der aber nicht durch uns gemacht wer­den kann, und der sich selbst schaf­fen muß durch unse­re Ver­nich­tung.“ – „Wir müs­sen ster­ben ler­nen, und zwar ster­ben im voll­stän­digs­ten Sinn des Worts (…) Dies ist alles, was wir aus der Geschich­te der Mensch­heit zu ler­nen haben: das Not­wen­di­ge zu wol­len und selbst zu vollbringen.“

An Franz Liszt schreibt er im Okto­ber 1954: „Beach­ten wir die Welt nicht anders als durch Ver­ach­tung; nur die­se gebührt ihr: aber kei­ne Hoff­nung (…) Sie ist schlecht, schlecht, grund­schlecht … Sie gehört Albe­rich: nie­mand anders!!! Fort mit ihr!“ Fast ein Vier­tel­jahr­hun­dert spä­ter, im Mai 1877, notiert Cosi­ma im Tage­buch, der Gemahl habe Lon­don als den erfüll­ten Traum Albe­richs bezeich­net. Der Rhein­gold-Räu­ber ist die schwar­ze Gegen­ge­stalt zum lich­ten Sieg­fried, der Inbe­griff von Aus­beu­tung, Gier, Lieb­lo­sig­keit, Natur­zer­stö­rung; sein Sohn Hagen wird den heh­ren Hel­den hin­ter­rücks ermor­den. – War Albe­rich Jude?

Man wird bei den Figu­ren aus Wag­ners Büh­nen­per­so­nal, die inzwi­schen unter Juden(karikatur)verdacht gestellt wur­den, zwei­er­lei festel­len: Alle­samt ver­lie­ren sie kein Jota von ihrer dra­ma­ti­schen Per­sön­lich­keit und arche­ty­pi­schen Eigen­art, wenn sie nur sozu­sa­gen sie sel­ber sind. Und alle waren zuerst als nicht­jü­di­sche Gestal­ten vor­ge­formt, bevor ver­meint­lich jüdi­sche Cha­rak­te­ris­ti­ka in sie ein­flos­sen. Der gars­ti­ge Zwerg Mime etwa ist ein uraltes Sagen­we­sen, das im „Ring“ ersteht und, ob nun als Juden­ka­ri­ka­tur oder nicht, der­sel­be ver­schla­ge­ne – aber auch ernied­rig­te, gede­mü­tig­te, im „Rhein­gold“ vom eige­nen Bru­der ver­sklav­te, nur sei­ne Ruhe haben wol­len­de und beim heu­ti­gen Publi­kum recht belieb­te – Zwerg bleibt. Die Figur des „Mer­kers“ Six­tus Beck­mes­ser in den „Meis­ter­sin­gern“ wie­der­um hat­te Wag­ner kon­zi­piert, bevor er den jüdi­schen Musik­kri­ti­ker Edu­ard Hans­lick ken­nen und ver­ach­ten lern­te. Und im „Ring“ gehen die ver­meint­li­chen Juden­ka­ri­ka­tu­ren mit den Ari­ern in trau­ter Ein­tracht unter.

Die Behaup­tung, auch aus Wag­ners Werk spre­che Anti­se­mi­tis­mus, folgt dem Mus­ter, wonach ein Juden­feind im Leben eben im Werk des­glei­chen einer sein müs­se (wobei der Kom­po­nist pri­vat erheb­li­che Aus­nah­men mach­te). Mehr als Indi­zi­en, dass frü­he­re Gene­ra­tio­nen eini­ge Wag­ner-Gestal­ten womög­lich als Juden­ka­ri­ka­tu­ren ver­stan­den haben könn­ten, ver­moch­ten die Unter­stel­ler bis heu­te nicht herbeizuschaffen.

Gleich­wohl hat sich Wag­ners Juden­a­ver­si­on – um nicht vor­schnell den Begriff „Anti­se­mi­tis­mus“ zu ver­wen­den, der erst 1860 von dem jüdi­schen Phi­lo­lo­gen Moritz Stein­schnei­der geprägt wur­de – in den Aus­sa­gen beson­ders expo­nier­ter Zeit­geist­be­wirt­schaf­ter inzwi­schen bis zur Holo­caust-Vor­läu­fer­schaft gestei­gert. Aller­dings folg­te sie zunächst ein­mal dezi­diert lin­ken Mus­tern. In sei­nem Pam­phlet „Das Juden­tum in der Musik“ argu­men­tier­te Wag­ner nicht anders als vie­le Jung­he­ge­lia­ner, Bru­no Bau­er etwa, wel­cher schrieb, die Juden könn­ten sich nur poli­tisch eman­zi­pie­ren, wenn sie sich vom Juden­tum eman­zi­pier­ten. Bei Karl Marx lesen wir: „Die Eman­zi­pa­ti­on vom Scha­cher und vom Geld, also vom prak­ti­schen, rea­len Juden­tum, wäre die Selbst­eman­zi­pa­ti­on unse­rer Zeit. (…) Wir erken­nen also im Juden­tum ein all­ge­mei­nes gegen­wär­ti­ges anti­so­zia­les Ele­ment. (…) Die Juden­eman­zi­pa­ti­on in ihrer letz­ten Bedeu­tung ist die Eman­zi­pa­ti­on der Mensch­heit vom Juden­tum. (…) Die gesell­schaft­li­cheEman­zi­pa­ti­on des Juden ist die Eman­zi­pa­ti­on der Gesell­schaft vom Juden­tum“ (alle Her­vor­he­bun­gen von Marx – M.K.).

Bei Wag­ner fin­den wir den­sel­ben Gedan­ken­gang, nur gewis­ser­ma­ßen büh­nen­taug­lich for­mu­liert: „Gemein­schaft­lich mit uns Mensch zu wer­den, heißt für den Juden aber zu aller­nächst so viel als: auf­hö­ren, Jude zu sein. (…) Nehmt rück­sichts­los an die­sem durch Selbst­ver­nich­tung wie­der­ge­bä­ren­den Erlö­sungs­wer­ke teil, so sind wir einig und unun­ter­schie­den. Aber bedenkt, daß nur Eines eure Erlö­sung von dem auf Euch las­ten­den Flu­che sein kann: Die Erlö­sung Ahas­vers, – der Unter­gang!“

Die thea­tra­li­schen Ter­mi­ni „Ver­nich­tung“ und „Unter­gang“ ver­wen­de­te Wag­ner, wie vor­her gezeigt, kei­nes­wegs exklu­siv in Bezug das Juden­tum; der­glei­chen ver­ba­les Gedröh­ne ent­sprach sei­nem Natu­rell. Merk­wür­di­ger­wei­se haben die Anti­se­mi­tis­mus­de­tek­to­ren immer nur bei die­sen Schluss­sät­zen aus­ge­schla­gen, die ja nun ein­deu­tig nicht von der phy­si­schen Ver­nich­tung, son­dern der Eman­zi­pa­ti­on der Juden han­deln, wäh­rend sie die tat­säch­lich bös­ar­ti­gen Pas­sa­gen der Kra­wall­schrift igno­rier­ten. Etwa wenn der Autor eine instinkt­mä­ßi­ge Abnei­gung der Deut­schen gegen­über den Juden unter­stellt und den Juden kol­lek­tiv die Fähig­keit abspricht, authen­ti­sche Musik zu kom­po­nie­ren. Kon­kret meint er damit Felix Men­dels­sohn und, ohne ihn nament­lich zu nen­nen, Gia­co­mo Mey­er­beer, dem einen die Bega­bung, dem ande­ren den Erfolg nei­dend. Doch auch nach­dem er bei­de weit über­flü­gelt hat­te, ließ sei­ne Juden­ver­ach­tung nicht nach.

Ein Grund bestand dar­in, dass Wag­ner sich von der jüdi­schen Pres­se und Kri­tik teils boy­kot­tiert, teils ver­folgt fühl­te (die Fra­ge ist frei­lich, was er nach sei­ner Juden­bro­schü­re ande­res erwar­tet hat­te). Ein wei­te­rer bestand im wach­sen­den Ein­fluss von Juden im deut­schen Kul­tur­be­trieb, des­sen Ver­fla­chung und Ver­fall er die­sem „gänz­lich fremde(n) Ele­ment“ zuschrieb. „In der Natur ist es so beschaf­fen, daß über­all wo es etwas zu schma­rot­zen gibt, der Para­sit sich ein­stellt: ein ster­ben­der Leib wird sofort von den Wür­mern gefun­den, die ihn voll­ends zer­set­zen und sich assi­mi­lie­ren. Nichts ande­res bedeu­tet im heu­ti­gen euro­päi­schen Cul­tur­le­ben das Auf­kom­men der Juden“, unter­rich­te­te er sei­nen könig­li­chen Mäzen Lud­wig II., dem sol­che Rodo­mon­ta­den übri­gens unan­ge­nehm waren.

Inter­es­sant sind denn aber Wag­ners Ora­kel­wor­te, die Cos­mia am 17. Dezem­ber 1881 im Tage­buch fest­hielt: „Eines ist sicher, die Racen haben aus­ge­spielt, nun kann nur noch, wie ich es gewagt habe aus­zu­s­drü­cken, das Blut Chris­ti wir­ken.“ Beim spä­ten Wag­ner ver­bin­det sich der noto­risch welt­kri­tisch-welt­um­stürz­le­ri­sche Impuls zuneh­mend mit reli­giö­sen Erlö­sungs­vor­stel­lun­gen. Mit der rea­len Kir­che haben sie nichts zu tun. Was inmit­ten der Auf­ge­regt­hei­ten über des Meis­ters Anti­ju­da­is­mus meis­tens unter­geht, ist sein eben­so dezi­der­ter Anti­ka­tho­li­zis­mus mit dem Jesui­ten als Hass­fi­gur. Es sei ein „Skan­dal“, dass der Katho­li­zis­mus noch immer bestün­de, hält Cosi­ma am 10. Novem­ber 1878 fest, einen Tag spä­ter erklärt ihr Gemahl die katho­li­sche Kir­che zur „Pest der Welt“. Gleich­zei­tig nimmt sein „Par­si­fal“ ein­deu­ti­ge Anlei­hen beim katho­li­schen Ritus. Das heißt soviel wie: Wenn schon eine Kir­che, dann stif­te ich sie.

So wie Wag­ner stets ein anti­kle­ri­ka­ler Lin­ker geblie­ben ist, rich­tet sich auch sei­ne Judäo­pho­bie zeit­le­bens gegen „den“ Juden als Reprä­sen­tan­ten der kapi­ta­lis­ti­schen Geld­wirt­schaft. „Der Jude scheint den Völ­kern des neue­ren Euro­pas über­all zei­gen zu sol­len, wo es einen Vort­heil gab, wel­chen jene unge­kannt und unaus­ge­nutzt lie­ßen“, schreibt er 1865 in sei­nem Essay „Was ist deutsch?“. Im Juden­tum-Auf­satz heißt es: „Der Jude ist nach dem gegen­wär­ti­gen Stan­de der Din­ge die­ser Welt wirk­lich bereits mehr als eman­zi­piert: er herrscht, und er wird so lan­ge herr­schen, als das Geld die Macht bleibt, vor der all unser Tun und Trei­ben sei­ne Kraft verliert.“

Fas­sen wir zusam­men: Wag­ner woll­te nicht die Juden als Indi­vi­du­en abschaf­fen, son­dern das Juden­tum als sol­ches, in dem er ein über vie­le Jahr­hun­der­te erprob­tes Instru­ment der Exklu­si­on und des Ego­is­mus sah. Ihn stieß am Juden­tum ab, dass in sei­nem Zen­trum nicht das uni­ver­sel­le Mit­leid, son­dern das Wohl einer Grup­pe stand. Er wünsch­te, die Juden mögen chris­tus­gläu­bi­ge, selbst­lo­se, anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Wag­ne­ria­ner wer­den. Da sie aber nicht sei­nem Wil­len folg­ten, hät­te zumin­dest dem alten Wag­ner womög­lich – womög­lich! – der Plan gefal­len, sie nach Mada­gas­kar oder sonst­wo­hin aus­zu­sie­deln. Schwer vor­stell­bar indes, dass die­ser Kunst-Anar­chist, Pazi­fist und Macht­po­li­tik­ver­äch­ter, dem Jesus und Bud­dha unend­lich höher stan­den als Fried­rich der Gro­ße und Napo­le­on, am Drit­ten Reich Gefal­len gefun­den hätte.

Als klas­si­scher Lin­ker steht Wag­ner auch vor uns, wenn man den mar­xis­ti­schen Bibel­satz beim Wor­te nimmt, dass sich der Grad der gesell­schaft­li­chen Eman­zi­pa­ti­on am Grad der Eman­zi­pa­ti­on der Frau offen­ba­re. Sei­ne gro­ßen Frau­en­fi­gu­ren sind radi­ka­le Kon­ven­ti­ons­bre­che­rin­nen. Die Isol­de der Über­lie­fe­rung, eine eher pas­si­ve Gestalt, „eman­zi­piert“ Wag­ner zur selbst­be­stimmt han­deln­den Lie­ben­den, so wie er Brünn­hil­de (zur Auf­leh­nung gegen Göt­ter­va­ter Wotan) und Sieg­lin­de (zum Bruch ihrer Zwangs­ehe) eman­zi­piert. Am Ende der „Göt­ter­däm­me­rung“ ist es Brünn­hil­de, das „wis­send“ gewor­de­ne Weib, die den Nekro­log auf die unter­ge­hen­de alte Welt hält.

Die freie, befrei­en­de, ja erlö­sen­de Lie­be zu prei­sen, wird Wag­ners nicht müde. Das gilt für Sieg­mund-Sieg­lin­de, Sieg­fried-Brünn­hil­de, Tris­tan-Isol­de, doch auch Sen­ta im „Flie­gen­den Hol­län­der“ und Eli­sa­beth im „Tann­häu­ser“ zer­bre­chen aus Lie­be ihre sozia­len Käfi­ge und ret­ten die Titel­hel­den vor ewi­ger Ver­damm­nis. Die mys­te­riö­se Kundry im „Par­si­fal“ wird wie­der­um vom Fluch erlöst, den Män­nern in immer neu­en Wie­der­ge­bur­ten als Ehe­weib, Magd, Hure oder Botin die­nen zu müs­sen (ein paar Hoch­be­gab­te mei­nen auch, sie wer­de als Jüdin ver­nich­tet). Statt Sitt­sam­keit eig­net all die­sen Frau­en­zim­mern, mit der schö­nen For­mu­lie­rung Tho­mas Manns, „ein Zug von Edel­hys­te­rie“. Man wür­de Wag­ner nicht son­der­lich fehl­in­ter­pre­tie­ren, wenn man ihn als Pro­to-Femi­nis­ten und im Jahr­hun­dert fehl­ge­gan­ge­nen 68er bezeichnete.

Der scharf­sich­ti­ge Nietz­sche wit­ter­te übri­gens schon, wor­auf das alles ein­mal hin­aus­lau­fen wer­de: „Haben Sie bemerkt, dass die Wag­ne­ri­schen Hel­din­nen kei­ne Kin­der bekom­men? Sie können’s nicht… Sieg­fried ‚eman­ci­pirt das Weib’ – doch ohne Hoff­nung auf Nachkommenschaft.“

 

III.

Einem bekann­ten Dik­tum Tho­mas Manns zufol­ge steckt „viel Hit­ler in Wag­ner“. Der Dich­ter mein­te dies vor­wie­gend im habi­tu­el­len Sin­ne: die Selbst­in­sze­nie­rung, die maß­lo­se Unbe­schei­den­heit, das „Bramar­ba­sie­ren, Allein-reden-Wol­len, über alles Mit­re­den-Wol­len“. Was bei­der Welt­bild angeht, lagen dazwi­schen Kon­ti­nen­te. In der Gestalt des „jüdi­schen“ Kapi­ta­lis­ten besa­ßen Wag­ner und Hit­ler zwar ein gemein­sa­mes Feind­bild, für die „rech­te“, anti­bol­sche­wis­ti­sche Ver­si­on des Anti­se­mi­tis­mus taug­te der Kom­po­nist indes ganz und gar nicht – ein „Kul­tur­bol­sche­wist“ war er schließ­lich sel­ber. Der „Tris­tan“ bedeu­te­te für die Ton­kunst einen ähn­li­chen Ein­schnitt wie die Abhand­lung „Zur Elek­tro­dy­na­mik beweg­ter Kör­per“ aus der Hand eines gewis­sen Albert Ein­stein für die Phy­sik. Wag­ners Musik war sozu­sa­gen der Tank, der für die Infan­te­rie der musi­ka­li­schen Moder­ne den Weg freiwalzte.

Ver­gleich­bar avant­gar­dis­tisch war sein Per­so­nal. Auf Wag­ners Büh­ne agie­ren lau­ter ambi­va­len­te Cha­rak­te­re, psy­chisch hoch­pro­ble­ma­tisch, bin­dungs­los, nach Erlö­sung schmach­tend, auf beängs­ti­gen­de Wei­se opfer­be­reit, reif für jede Art Psy­cho­lo­gen. Die meis­ten sei­ner Hel­den stam­men aus zer­rüt­te­ten Fami­li­en­ver­hält­nis­sen und sind Halb- oder Voll­wai­sen. Im Ers­ten Auf­zug der „Wal­kü­re“ voll­zieht sich der Inzest eines Geschwis­ter-Paa­res, des­sen Gelin­gen jeder füh­len­de Hörer die Dau­men drückt und aus dem der Bei­na­he-Welterlö­ser Sieg­fried her­vor­geht (man beden­ke, die Urauf­füh­rung war 1870). Wag­ners Frau­en­ge­stal­ten sind Eman­zen, Blau­strümp­fe, Mann­wei­ber, gänz­lich unge­eig­net, um deut­schen Müt­tern oder gar poten­ti­el­len Mut­ter­kreuz­trä­ge­rin­nen ein Bei­spiel zu geben. Der Gral­skö­nig Amfor­tas ist ein um Erbar­men fle­hen­der Herr­scher, der an einer pein­li­chen Wun­de lei­det. Sein Gegen­spie­ler Klings­or: ein Selbst­kas­trie­rer. Tris­tan: ein todes­sehn­süch­ti­ger Defä­tist. Wotan: ein ero­ti­scher Wind­beu­tel und mora­lisch frag­wür­di­ger Geschäf­te­ma­cher, der sei­ne Ver­trä­ge nicht hält, sei­ne Immo­bi­lie nicht bezah­len kann und Bei­hil­fe zur Tötung sei­nes Soh­nes leis­tet. Und so fort. –

Die popu­lär­his­to­ri­sche Sug­ges­ti­on, Wag­ners Musik sei gleich­sam die Ton­spur gewe­sen, mit wel­cher der Film namens Drit­tes Reich unter­legt wur­de, hat mit der Wirk­lich­keit wenig zu tun und galt nur für ein paar veri­ta­ble Zir­kus­num­mern des Gesamt­wer­kes. So erklang die „Rienzi“-Ouvertüre, heu­te übri­gens Erken­nungs­me­lo­die von „Spie­gel TV“, zur Eröff­nung der Reichs­par­tei­ta­ge, der Trau­er­marsch aus der „Göt­ter­däm­me­rung“ bei Toten-Ehrun­gen, Sieg­frieds Schmie­de­lie­der bei „Füh­rers Geburts­tag“ – doch Bruck­ner und Beet­ho­ven wur­den bei offi­zi­el­len Anläs­sen häu­fi­ger gespielt.

Seit der Macht­über­nah­me der Nazis ging die Gesamt­zahl der Vor­stel­lun­gen von Wag­ner­wer­ken ste­tig zurück. Damit set­ze sich ein Trend fort, der bereits in der Wei­ma­rer Repu­blik begon­nen hat­te. In der Sai­son 1932/33 befan­den sich unter den sechs meist­auf­ge­führ­ten Opern vier von Wag­ner, in der Spiel­zeit 1938/39 tauch­te unter den „Top Ten“ gar kei­ne mehr auf. Bis zum Kriegs­aus­bruch hielt sich Hit­lers Lieb­lings­kom­po­nist nach der Gesamt­zahl der Auf­füh­run­gen noch auf Platz eins, danach wur­de er von Ver­di, Puc­ci­ni und sogar Lortzing überholt.

Dafür gibt es zunächst eine ganz prak­ti­sche Erklä­rung: Wag­ners Rie­sen­wer­ke benö­tig­ten mehr Mit­wir­ken­de als die ande­rer Kom­po­nis­ten, und der Krieg riss immer grö­ße­re Lücken auf den Büh­nen und in den Orches­ter­grä­ben. Aber ande­re Grün­de über­wo­gen. Hat­te es im Bay­reuth-Fest­spiel­füh­rer 1938 noch gehei­ßen, der „Ring“ sei „die ers­te und bis jetzt gewal­tigs­te künst­le­ri­sche Gestal­tung des Ras­se­ge­dan­kens“, dürf­te spä­tes­tens die Sta­lin­gra­der Lek­ti­on den NS-Kul­tur­vög­ten in Erin­ne­rung geru­fen haben, dass die Tetra­lo­gie, wenn man sie denn unbe­dingt ras­sisch inter­pre­tie­ren woll­te, ja vom Unter­gang der Sieg­fried-Sip­pe han­del­te. „Tris­tan und Isol­de“ wie­der­um stand ziem­lich quer zum NS-Frau­en­bild, außer­dem ent­sprach das sich über den gesam­ten Drit­ten Auf­zug hin­zie­hen­de Ster­ben des Hel­den wohl eher dem Tat­be­stand der Wehr­kraft­zer­set­zung. Das­sel­be galt in noch stär­ke­rem Maße für den Pazi­fis­mus und die Apo­theo­se des Mit­leids im „Par­si­fal“. Aus­ge­rech­net die­ses Werk, das nach Ansicht eini­ger Bor­der­li­ner der Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung die geis­ti­ge Brü­cke von Wag­ner zum Holo­caust geschla­gen haben soll – man deu­tet in die­sen Krei­sen die mys­te­riö­se Schluss­for­mel „Erlö­sung dem Erlö­ser“ qua­si als „End­lö­sung dem Erlö­ser“ – ver­schwand bei Kriegs­aus­bruch von allen Spielplänen.

Tat­säch­lich wäre Wag­ners Kar­rie­re im Drit­ten Reich ohne die Pas­si­on Hit­lers für sei­ne Musik eher unauf­fäl­lig ver­lau­fen. Unter NS-Funk­tio­nä­ren genoss der Kunst­re­vo­lu­tio­när höchst sel­ten jene Popu­la­ri­tät, die heu­te dem Regime al fres­co unter­stellt wird. Der Pres­se- und Kul­tur­wart Curt von Wes­tern­ha­gen schrieb 1935 in einem Brief, die Sym­pa­thie des Füh­rers dür­fe „kei­nes­wegs dar­über hin­weg­täu­schen, daß wei­te Krei­se unse­rer Bewe­gung der Gesamt­per­sön­lich­keit Wag­ners fremd oder ableh­nend gegen­über­ste­hen“. Die NS-Ideo­lo­gen Hans Gün­ther und Alfred Baeum­ler waren Wag­ner-Geg­ner, und Alfred Rosen­berg, der einen mys­ti­schen Wotan-Kult eta­blie­ren woll­te, hät­te sich und dem Reich den pro­ble­ma­ti­schen „Ring“-Obergott gern vom Hals geschafft.

Joseph Goeb­bels behaup­te­te zwar, Wag­ner zu mögen, aber weder in sei­nen Reden noch sei­nen Tage­bü­chern fin­det sich eine mehr als ober­fläch­li­che Bezug­nah­me auf des­sen Werk und Ansich­ten. Der Bei­trag des Reichs­pro­pa­gan­da­mins­ters zur Wag­ner-Exege­se beschränk­te sich dar­auf, den „Wach auf!“-Chor im Drit­ten Akt der „Meis­ter­sin­ger“, mit dem sich die Volks­men­ge an Hans Sachs wen­det, in einen „Wacht auf“-Chor zu ver­wan­deln, wel­cher, so Goeb­bels, „von sehn­suchts­er­füll­ten, gläu­bi­gen deut­schen Men­schen als greif­ba­res Sym­bol des Wie­der­erwa­chens des deut­schen Vol­kes aus der tie­fen poli­ti­schen und see­li­schen Nar­ko­se“ emp­fun­den wor­den sei.

„Die ein­fa­che Wahr­heit lau­te­te, dass vie­le Nazis an hoher wie nied­ri­ger Stel­le Wag­ner zum Heu­len lang­wei­lig fan­den“, resü­miert Jona­than Carr in sei­nem gran­dio­sen Buch „Der Wag­ner-Clan“. Am Beginn der „Meis­ter­sin­ger“- Gala­vor­stel­lung zum NSDAP-Par­tei­tag 1933 war so wenig Publi­kum anwe­send, dass ein erbos­ter Füh­rer Greif­trupps in die Bor­del­le und Bier­gär­ten aus­sand­te, um die Par­tei­ge­nos­sen der Hoch­kul­tur zuzu­füh­ren. Im Jahr dar­auf hat­ten sei­ne Pala­di­ne zwar für ein von Anfang an gefüll­tes Haus gesorgt, aber vie­le Anwe­sen­de schlie­fen oder klatsch­ten an den fal­schen Stel­len. Wie Hit­lers Sekre­tä­rin Trau­del Jun­ge berich­te­te, wur­de wäh­rend einer „Tristan“-Aufführung ein Ange­hö­ri­ger von Hit­lers Entou­ra­ge, der ein­ge­schla­fen war und über die Brüs­tung zu kip­pen droh­te, gera­de recht­zei­tig von sei­nem Sitz­nach­barn fest­ge­hal­ten, der Sekun­den zuvor eben­falls noch im Bubu-Land geweilt hatte.

Wie soll­te es auch anders gewe­sen sein? Man stel­le sich vor, der Chef eines gro­ßen Unter­neh­mens wür­de heu­te sei­ne Unter­ge­be­nen bei Stra­fe des Sym­pa­thie-Ent­zugs ver­don­nern, mit ihm sämt­li­che Wag­ner-Opern zu hören. War­um soll­te es also den Aller­welts-Nazis anders gehen als bei­spiels­wei­se dem Bay­reuth-Besu­cher Paul de Lag­ar­de? Nach­dem der Kul­tur­phi­lo­soph 1881 die Fest­spie­le erlebt hat­te, klag­te er, es sei „zum Ster­ben lang­wei­lig“ gewe­sen, und er wer­de sich „einer der­ar­ti­gen Qual“ kein zwei­tes Mal aus­set­zen. Gleich­wohl fei­er­ten ihn die „Bay­reu­ther Blät­ter“ als Vor- und Mit­kämp­fer gegen das Juden­tum. Die Bay­reu­ther Ideo­lo­gie band min­des­tens eben­so wie die Wer­ke des Gründers.

Außer­dem: Wenn in Wag­ners Opern wirk­lich so etwas wie die geis­ti­ge Vor­läu­fer­schaft des Nazi­tums ver­bor­gen gewe­sen wäre, hät­te dann sein Ober­fan nicht bei jeder Gele­gen­heit dar­auf insis­tiert? Man fin­det bei Hit­ler aber weder eine natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deu­tung der Musik­dra­men noch irgend­ei­ne Bezug­nah­me auf Wag­ners theo­re­ti­sche Schrif­ten. In „Mein Kampf“ erwähnt er sein Idol nur ein­mal nament­lich, außer­dem „Lohen­grin“ als ers­te von ihm erleb­te Oper und „Par­si­fal“ als aura­ti­sches Phä­no­men. Nicht ein­mal gegen das Juden­tum hat Hit­ler den ver­ehr­ten Meis­ter als Eides­hel­fer angerufen.

Als ein­zi­ge Aus­nah­me exis­tiert ein Kurz­mo­no­log zum „Par­si­fal“ in den von His­to­ri­kern als höchst frag­wür­di­ge Quel­le ein­ge­stuf­ten „Gesprä­chen mit Hit­ler“ des NS-Rene­ga­ten Her­mann Rausch­ning. In Wag­ners letz­ter Oper wer­de „der unwis­sen­de, aber rei­ne Mensch in die Ver­su­chung gestellt, sich in dem Zau­ber­gar­ten Klings­ors der Lust und dem Rausch der ver­dor­be­nen Zivi­li­sa­ti­on hin­zu­ge­ben oder sich zur Aus­le­se von Rit­tern zu gesel­len, die das Geheim­nis des Lebens hüten, das rei­ne Blut“, spricht es dort angeb­lich aus dem Füh­rer­mund. „Mer­ken Sie, daß das Mit­leid, durch das man wis­send wird, nur dem inner­lich Ver­dor­be­nen, dem Zwie­späl­ti­gen gilt. Und daß die­ses Mit­leid nur eine Hand­lung kennt, den Kran­ken ster­ben zu las­sen. Das ewi­ge Leben, das der Gral ver­leiht, gilt nur den wirk­lich Rei­nen, Adligen.“

Es ist gut mög­lich, dass Hit­ler den „Par­si­fal“ so ver­stan­den hat – was aber nur bedeu­ten wür­de, dass auch der Füh­rer das hin­be­kom­men hät­te, was einem heu­te als „Regie­thea­ter“ auf den Wecker geht. Doch sei­nen Wag­ner kannt er zu gut, um nicht zu wis­sen, mit welch unsi­che­rem Kan­to­nis­ten er es zu tun hat­te. Die wirk­li­che Gleich­schal­tung Wag­ners war wohl erst für die Zeit nach dem End­sieg geplant.

So kam es, dass bei Hit­lers regel­mä­ßi­gen Bay­reuth-Besu­chen die Ideo­lo­gie hin­ter die Kunst zurück­zu­tre­ten hat­te. Bezeich­nen­der­wei­se erschien er stets in Zivil auf dem Grü­nen Hügel und ver­bat sich poli­ti­sche Kund­ge­bun­gen im Zuschau­er­saal. Eine pro­pa­gan­dis­ti­sche Ein­wir­kung auf irgend­ei­ne Insze­nie­rung ist weder in Bay­reuth noch in Ber­lin nach­weis­bar, und Hit­lers Lieb­lings­ka­pell­meis­ter Wil­helm Furtwäng­ler diri­gier­te alles ande­re als einen brei­ten, pathe­ti­schen Wag­ner. Erst ganz am Ende, im Bun­ker unter der Reichs­kanz­lei, dürf­te sich in Hit­lers Kopf die Rea­li­tät mit Wag­ners Kunst­welt über­la­gert haben, näher­hin mit dem Fina­le der „Göt­ter­däm­me­rung“, und es ist von einer tie­fen Sym­bo­lik, dass er eini­ge Ori­gi­nal­par­ti­tu­ren mit in die Höl­le nahm. Jeden­falls sind die in sei­nem Pri­vat­be­sitz befind­li­chen Auto­gra­phen von fünf Wag­ner-Opern – „Die Feen“, „Das Lie­bes­ver­bot“, „Rien­zi“, „Rhein­gold“ und „Wal­kü­re“ – bis heu­te verschollen.

 

IV.

Im Jahr 1928 ver­öf­fent­lich­te der Musik­kri­ti­ker Bern­hard Die­bold eine Bro­schü­re, die den Titel von Nietz­sches Streit­schrift „Der Fall Wag­ner“ über­nahm und mit dem Zusatz „Eine Revi­si­on“ ver­sah. „Unglaub­li­ches ist gesche­hen!“, notier­te Die­bold. „Das poli­tisch rechts ste­hen­de Bil­dungs­pu­bli­kum hat seit dem Krie­ge Richard Wag­ner zu sei­nem spe­zi­el­len Kunst- und Kul­tur­gott erho­ben. In Erman­ge­lung eige­ner schöp­fe­ri­scher Kul­tur­geis­ter erwähl­ten die Man­nen von rechts den Revo­lu­tio­när, den Flücht­ling und jahr­zehn­te­lang Ver­bann­ten von 1848/49 zum Erfül­ler ihrer natio­na­lis­ti­schen Bedürf­nis­se.“ Dage­gen habe die Lin­ke eine „fata­le Gedan­ken­lo­sig­keit bewie­sen“, indem sie „auf den unge­heue­ren Kul­tur-Kre­dit die­ses welt­be­rühm­ten Namens“ und „den mäch­ti­gen Pro­pa­gan­da­wert des größ­ten Kunst-Revo­lu­tio­närs“ ver­zich­te­te, der zugleich ein „Mär­ty­rer des libe­ra­len Gedan­kens“ gewe­sen sei. Des­sen Nürn­berg-Oper, die fünf Jah­re spä­ter als musi­ka­li­scher Höhe­punkt des ers­ten NSDAP-Par­tei­ta­ges im Drit­ten Reich her­hal­ten muss­te, nann­te Die­bold das „sin­gen­de Lust- und Fest­spiel der Demokratie“.

Die­bolds Ruf blieb nicht nur bei sei­nen Zeit­ge­nos­sen ohne Wider­hall – nach dem Zwei­ten Welt­krieg nah­men die Schwie­rig­kei­ten der Fort­schritts­par­tei­ler mit ihrem 80-Pro­zent-Gesin­nungs­ge­nos­sen erst rich­tig kru­de For­men an. Poli­tisch eher links ste­hen­de Autoren, Jour­na­lis­ten und Regis­seu­re füh­ren seit­her die Nazi­fi­zie­rung Wag­ners unter umge­kehr­tem Vor­zei­chen mit wach­sen­dem Ingrimm zu Ende. Beson­ders fri­vol dar­an ist, dass die­se staat­lich sub­ven­tio­nier­ten Kulis­sen­um­stürz­ler, die zeit­le­bens nie etwas ris­kiert haben, dem ori­gi­nä­ren Revo­lu­tio­när und Exi­lan­ten vor­wer­fen, er habe sich mit sei­nem Werk dem deut­schen Macht­staat ange­dient. Der deut­sche Gute umtanzt heu­te die Totem­pfäh­le der Vor­fah­ren­schmä­hung mit der­sel­ben Inbrunst wie zuvor der gute Deut­sche jene der Ahnen­g­lo­ri­fi­zie­rung; neu­er­dings wedelt auch Hügel­che­fin Katha­ri­na Wag­ner beflis­sen mit dem Urgroßvaterskalp.

Aber wie konn­te ein sozia­lis­ti­scher Revo­lu­tio­när und kom­po­nie­ren­der Anar­chist über­haupt in das Lager der Kul­tur­kon­ser­va­ti­ven und Deutsch­na­tio­na­len gera­ten? Zunächst ein­mal wur­de Wag­ner nach sei­nem Tode zügig ent­po­li­ti­siert und kunst­re­li­gi­ös ver­klärt. Da nicht Sieg­fried die Gesell­schaft umge­stürzt, son­dern Bis­marck das Deut­sche Kai­ser­reich errich­tet hat­te (und auch der zuneh­mend zivi­li­sier­ter agie­ren­de Albe­rich kei­ner­lei Anstal­ten mach­te, die Büh­ne zu räu­men), sank der poli­ti­sche Kurs­wert Wag­ners mit einer gewis­sen Zwangs­läu­fig­keit – wäh­rend der künst­le­ri­sche gewal­tig stieg. Um die­ses unbe­strit­ten glanz­vol­le Werk der poli­ti­schen Lage anzu­pas­sen, ver­leg­te sich die wach­sen­de Schar der Anhän­ger um den har­ten Bay­reu­ther Exege­ten-Kern dar­auf, den lin­ken Revo­lu­tio­när ein­fach zu ver­ges­sen. Dass die­se Tita­nen­schöp­fun­gen von einem Deut­schen stamm­te, pass­te wie­der­um sehr gut zur Auf­bruch­stim­mung und Grö­ßen­rhe­to­rik des Kaiserreichs.

Schon bei den ers­ten Fest­spie­len 1876 gab ein pikier­ter Nietz­sche nach dem „Rhein­gold“ die Kar­ten für die übri­gen Vor­stel­lun­gen zurück, weil das Publi­kum, in dem er sich fand, exakt jene Gesell­schaft war, die Wag­ner ursprüng­lich hat­te stür­zen wol­len. Über­dies ver­miss­te er den Kos­mo­po­li­tis­mus, der dem Wag­ner­schen Werk von Anbe­ginn ein­ge­schrie­ben war und sich bei­spiels­wei­se in der Wag­ner-Schwär­me­rei eines Charles Bau­de­lai­re offe­rier­te. „Man hat­te Wag­ner ins Deut­sche über­setzt!“, zürn­te der Phi­lo­soph. „Die deut­sche Kunst! Der deut­sche Meis­ter! Das deut­sche Bier!“

Bemer­kens­wer­ter- und auch kurio­ser­wei­se waren es drei Aus­län­der, die den Kom­po­nis­ten pos­tum aufs deutsch­na­tio­nal-pro­to­völ­ki­sche Gleis scho­ben. Ehe­frau Cosi­ma, die Toch­ter Franz Liszts, war fran­zö­sisch-unga­ri­schen Geblüts und kam in der Lom­bar­dei zur Welt; Cosi­mas Schwie­ger­sohn, der Pri­vat­ge­lehr­te und Schrift­stel­ler Hous­ton Ste­wart Cham­ber­lain, war Eng­län­der, eben­so wie Schwie­ger­toch­ter Winif­red Wag­ner, gebo­re­ne Mar­jo­rie Wil­liams, die nach dem Tode ihres Gat­ten Sieg­fried Wag­ner von 1930 bis 1944 die Bay­reu­her Fest­spie­le lei­te­te. „Die gesell­schaft­li­che Ober­schicht, die sich zu Nietz­sches Ekel und teil­wei­se Wag­ners Ver­ach­tung für den ‚Ring’ ver­sam­mel­te, war ein Milieu, in dem sich Cosi­ma ganz zu Hau­se fühl­te“, erläu­tert Fami­li­en-Bio­graph Jona­than Carr; Cosi­ma und Cham­ber­lain, bei­de „im Wag­ner-Land als selbst­ge­wähl­tem Exil“ lebend, „ver­tru­gen sich augen­blick­lich prächtig“.

Cosi­ma ver­füg­te übri­gens auch den bis heu­te unver­än­der­ten Bay­reu­ther Auf­füh­rungs-Kanon, womit die Fest­spie­le im Lau­fe der Zeit zwangs­läu­fig etwas Star­res und Ritu­el­les beka­men. Der Meis­ter selbst hat­te kei­ne kon­kre­ten Wei­sun­gen zum Bay­reu­ther Menü hin­ter­las­sen, aber immer­hin geäu­ßert, im Rah­men der Fest­spie­le regel­mä­ßig eine Preisau­schrei­bung für ein neu­es Werk ver­an­stal­ten zu wol­len. Als Wit­we und Ober­pries­te­rin in Per­so­nal­uni­on hat­te Cosi­ma dar­an wenig Interesse.

Ihr Schwie­ger­sohn Cham­ber­lain wie­der­um fun­gier­te als Spin-Dok­tor, der den poli­ti­schen Revo­lu­tio­när in einen aus­schließ­lich künst­le­ri­schen umwan­del­te. Cham­ber­lains Wag­ner-Bio­gra­phie von 1895 ist, bei aller Ten­den­ziö­si­tät, mit Sou­ve­rä­ni­tät und erheb­li­chem Kön­nen geschrie­ben. „Eigent­lich soll­te man Kunst­wer­ke nur sehen und hören – sie erle­ben – nicht sie bespre­chen“, schreibt er, „hier­in wird mir jeder ech­te Künst­ler bei­pflich­ten. Kunst­wer­ke des Genies sind nur mit Offen­ba­run­gen zu ver­glei­chen; ihr Geheim­nis kön­nen wir nie ergrün­den, und es erfor­dert unend­lich viel Takt, das­je­ni­ge her­aus­zu­fin­den, wor­über mit Nut­zen gespro­chen wer­den kann. Ein Schritt zu nahe an das Kunst­werk her­an – und schon strei­fen wir den zar­tes­ten Reif ab; bald bleibt ein blo­ßes ana­to­mi­sches Gerüst in unse­ren Hän­den.“ Wag­ners theo­re­ti­sche Schrif­ten cha­rak­te­ri­siert er so: „Der Künst­ler fin­det sie zu phi­lo­so­phisch, der Phi­lo­soph zu künst­le­risch; der His­to­ri­ker begreift nicht, dass die Ein­sich­ten eines gro­ßen Dich­ters ‚ver­dich­te­te Tat­sa­chen’ sind, er ver­ach­tet sie als Träu­me­rei­en; der ästhe­tisch gebil­de­te Träu­mer weicht erschro­cken zurück vor dem ener­gi­schen Wol­len des Revo­lu­tio­närs, der mit Hil­fe der Kunst die gan­ze Welt umzu­ge­stal­ten hofft. Kurz, die­se Schrif­ten ver­die­nen in etwa die Bezeich­nung Nietz­sches: ‚für alle und keinen’.“

Der größ­te Ver­eh­rer Cham­ber­lains war Kai­ser Wil­helm II., der den Ver­fas­ser der „Grund­la­gen des 19. Jahr­hun­derts“ mit gro­ßem Pomp emp­fing und des­sen Buch sta­pel­wei­se ver­schenk­te. Winif­red ihrer­seits nahm etwas spä­ter regel­mä­ßig Hand­küs­se des Bay­reuth-Pil­ge­rers Adolf Hit­ler ent­ge­gen, wobei sie sich etwas weni­ger züch­ti­ge wünsch­te. Dar­aus, dass sie den Füh­rer nicht nur ver­ehrt, son­dern geliebt hat­te, mach­te die alte Dame auch nach 1945 als wohl ein­zi­ger Mensch inner­halb des geschla­ge­nen Rei­ches kei­ner­lei Hehl. Zu Winif­reds Ehren muss gesagt wer­den, dass sie vie­len vom Regime ver­folg­ten Künst­lern gehol­fen hat. Zu Ehren des Haus­or­gans „Bay­reu­ther Blät­ter“ wie­der­um sei fest­ge­hal­ten, dass das Peri­odi­kum, bei aller natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Indienst­nah­me, dem Meis­ter in einem Punkt getreu­lich folg­te: Man blieb stets pazi­fis­tisch. Nach dem Tod des Chef­re­dak­teurs Hans von Wolz­o­gen 1938 mach­ten die Nazis den Laden dicht. Ein biss­chen Blech­blä­ser-Zin­no­ber aus­ge­nom­men, konn­ten sie Wag­ner bei dem, was jetzt folg­te, nicht mehr gebrauchen. –

Gegen­wär­tig ist unser Attac-Kom­po­nist, der sein Kreuz, leb­te er heu­te, wahr­schein­lich bei den Grü­nen oder der Links­par­tei machen wür­de, auf den Büh­nen und in den Medi­en einer zuneh­men­den Anbräu­nung aus­ge­setzt. Im Grun­de ist das egal; dies Werk ist so bedeu­tend, dass es auch dann nicht an Strahl­kraft ver­lö­re, wenn sein Schöp­fer Kom­man­dant von Dach­au gewe­sen wäre. Aber als Kurio­sum darf doch fest­ge­hal­ten wer­den, dass in Sachen Wag­ner-Inter­pre­ta­ti­on bis heu­te der Füh­rer das letz­te Wort zu haben scheint.

Der Kom­po­nist wer­fe einen Schat­ten, „in dem sich Musik und Holo­caust ver­bin­den“, meta­phert der „Spie­gel“ in sei­ner Titel­ge­schich­te zum 200. Jubi­lä­um und geht damit viel wei­ter, als unser seli­ger Adolf es je gewagt hät­te. Die Wag­ner­fa­mi­lie sei „für Deutsch­land das, was die Atri­den für die grie­chi­sche Mytho­lo­gie sind“, setzt das Maga­zin sei­ne schie­fen Gedan­ken in ent­lar­vend schie­fen Bil­dern fort; einer habe „schwer gesün­digt, und dann liegt ein Fluch über allen Gene­ra­tio­nen“. Der myke­ni­sche König Atreus schlach­te­te die Kin­der sei­nes Bru­ders und setz­te ihm das Fleisch als Mahl vor. Was mag der Schöp­fer des „Tris­tan“ und Ver­fas­ser einer schä­bi­gen Juden­bro­schü­re Ver­gleich­ba­res getan haben?

Musi­kern teilt sich die­ser Fluch gemein­hin nicht mit. Die größ­ten Kom­po­nis­ten nach Wag­ner – Bruck­ner, Mahler, Strauss, Puc­ci­ni – hät­ten sich für ihn duel­liert. Alban Berg beschied einem auf den Bay­reu­ther Meis­ter schimp­fen­den jüdi­schen Intel­lek­tu­el­len kühl: „Sie kön­nen so reden, Sie sind ja kein Musi­ker!“ „Ich has­se Wag­ner, aber auf den Knien“, brach­te Leo­nard Bern­stein die für den Kri­ti­ker ange­mes­se­ne Posi­ti­on auf den Punkt.

Für ande­re ver­bin­det sich mit Wag­ners Werk eine Erin­ne­rung dar­an, dass es ein­mal Zei­ten gab, da sich die Asso­zia­ti­on „typisch deutsch“ mit der Auf­lö­sung aller Welt­rät­sel in Musik und Dich­tung ver­band, mit träu­me­ri­schem Tief­sinn und mond­be­schie­ne­ner Rea­li­täts­flucht, mit der blau­en Blu­me der Roman­tik, mit Feen­rei­chen und Gegen­wirk­lich­kei­ten, mit der Suche nach dem Ewi­gen und Über­wirk­li­chen, der Ver­ach­tung des schnö­de-Mate­ri­el­len und dem Stre­ben nach höchs­ter Erkennt­nis, mit Kunst als Daseins-Letzt­be­grün­dung und Got­tes­dienst. „Als deutsch im höchs­ten Sin­ne des Wor­tes“, schrieb Tho­mas Mann über Wag­ners Opern, dür­fe man „ihre gewal­ti­ge Sin­nig­keit, ihren mythi­schen Hang und meta­phy­si­schen Drang, vor allem schon ihr tief erns­tes Selbst­ge­fühl als Kunst anspre­chen“, den „hohen und fei­er­li­chen Begriff der Kunst“, von dem sie erfüllt sei. „Bei alle­dem aber ist sie von einer Welt­ge­rech­tig­keit, Welt­ge­nieß­bar­keit, wie sie kei­ner deut­schen Kunst die­ses Ran­ges je mit­ge­ge­ben wurde.“

Aber man ver­ges­se nie: Wag­ner war ein Moder­ni­sie­rer durch und durch. „Kin­der, schafft Neu­es“, lau­te­te sei­ne Maxi­me. Erst das Bay­reuth nach sei­nem Tod wur­de zum Ort der Erstar­rung und des Oppor­tu­nis­mus. Bis­lang haben sich die Fest­spie­le noch mit jedem poli­ti­schen Sys­tem arran­giert. Das Ange­passt­stein an den Zeit­geist ist bis heu­te der Mar­ken­kern Bay­reuths. Von den stan­dar­di­sier­ten Pro­vo­ka­tio­nen und gut­ge­öl­ten gegen-den-Strich-Bürs­te­rei­en der „noch immer ganz ernst­haft so genann­ten Opern­re­gis­seu­re“ (Eck­hard Hen­scheid) über den Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gungs-Exhi­bi­tio­nis­mus bis zum „public vie­w­ing”: Die Fest­spiel­ver­ant­wort­li­chen haben gelernt, was man dem Feuil­le­ton und den Chat­te­ring Clas­ses vor­set­zen muss – wobei ver­mut­lich sämt­li­che in die­sem Jahr auf den Grü­nen Hügel gän­se­mar­schie­ren­den Pro­mi­nen­ten zusam­men von Wag­ner nicht so viel ver­ste­hen wie der zumin­dest in die­sem Punk­te über­aus kun­di­ge Füh­rer. Da die Haken­kreuz­fah­nen drau­ßen nicht mehr wehen dür­fen, hat man sie auf die Büh­ne geholt, neben aller­lei ande­rem Tin­n­eff; die soge­nann­te „Ent­rüm­pe­lung“ der Klas­si­ker ist ohne Gerüm­pel offen­bar nicht zu haben. Die Wer­ke wer­den zu Bay­reuth heu­te betont uneli­tär, unschön, unpa­the­tisch und zwang­haft poli­ti­siert dar­ge­bo­ten, fern aller Mys­te­ri­en und auch noch im Kla­mauk unter der gro­ßen his­to­ri­schen Schuld äch­zend. Uren­ke­lin Katha­ri­na hat die Fest­pie­le zu einer Ver­an­stal­tung gemacht, wo der Geist, der deut­sche all­zu­mal, höchs­tens noch spu­ken darf. Ein Vers von Kurt Tuchol­sky auf Fried­rich den Gro­ßen, leicht abge­wan­delt, fügt sich hier gut: „Dreh still dich im Grabe,/ ver­birg dein Gesicht,/ sie haben dein Festspielhaus,/ dei­nen Geist haben sie nicht.“

In allen Opern Wag­ners gerät der Out­law in Kon­flikt mit den star­ren Regeln der Gesell­schaft – eine genu­in lin­ke Per­spek­ti­ve. Wie sei­ne Opern-Hel­den ist Wag­ner nie­mals in der rea­len Gesell­schaft ange­kom­men, auch wenn er es fer­tig­brach­te, sei­ner Kunst einen eige­nen Tem­pel zu errich­ten, in wel­chem 130 Jah­re nach sei­nem Tod noch regel­mä­ßig die Opfer­feu­er ent­zün­det wer­den. Sein Wunsch nach dem Umsturz aller Ver­hält­nis­se und sei­ne Welt­ab­kan­zelei haben sich im Alter sogar noch ver­stärkt, nun woll­te er nicht mehr nur eine ande­re Gesell­schaft, son­dern die Mensch­heit als gan­ze einer „Rege­ne­ra­ti­on“ unter­zie­hen. Die­se Rege­ne­ra­ti­on müs­se aus dem „tie­fen Boden einer wahr­haf­ten Reli­gi­on“ wach­sen, pos­tu­lier­te er – in Kurz­form: Chris­tus plus Bud­dha minus Kir­che. Die Küns­te wie­der­um könn­ten zu ihrer wah­ren Blü­te erst in einer rege­ne­rier­ten Gesell­schaft gelan­gen; die­se sei jedoch ohne die Mit­wir­kung der Kunst uner­reich­bar. Die Rich­tung dort­hin weist der „Par­si­fal“.

Die Spät­schrif­ten Wag­ners, aus wel­chen sich sei­ne Rege­re­na­ti­ons­leh­re in vagen Umris­sen destil­lie­ren lässt, lesen sich wie ein Quer­schnitt durch anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche, grü­ne, pazi­fis­ti­sche und eso­te­ri­sche Befrei­ungs­leh­ren, für den heu­ti­gen Lin­ken frei­lich ver­dor­ben durch die Zutat zeit­ge­mä­ßer Ras­sen­ideo­lo­gie, die heu­te unter Ras­sis­mus fir­mier­te (und dies wohl auch ist). Die „Ent­ar­tung des mensch­li­chen Geschlechts“ sei „durch den Abfall von sei­ner natür­li­chen Nah­rung bewirkt wor­den“, heißt es in „Reli­gi­on und Kunst“. Aus­ge­hend von der „Erkennt­nis der Ein­heit alles Leben­den“ und der „brah­ma­ni­sche Leh­re von der Sünd­haf­tig­keit der Tötung des Leben­di­gen und der Ver­spei­sung der Lei­chen ermor­de­ter Tie­re“ hält Wag­ner den Vege­ta­ris­mus für den „Kern­punkt der Regenerationsfrage“.

Der Zivi­li­sa­ti­on sei frei­lich der „Tier- und Men­schen­mord geläu­fig gewor­den“. Bereits im Alten Tes­ta­ment wer­de bei­des gerecht­fer­tigt; über­haupt ent­hal­te der rein jüdi­sche Teil der hei­li­gen Schrift wenig von der Sanft­mut und dem Mit­leid, wel­che das Neue Tes­ta­ment aus­zeich­ne. Wes­halb der „Ver­derb der christ­li­chen Reli­gi­on von der Her­bei­zie­hung des Juden­tums zur Aus­bil­dung ihrer Dog­men her­zu­lei­ten“ sei; „wo wir christ­li­che Hee­re, selbst unter dem Zei­chen des Kreu­zes, zu Raub und Blut­ver­gie­ßen aus­zie­hen sahen, war nicht der All­d­uld­er anzu­ru­fen, son­dern Moses, Joshua, Gideon“. Die Natio­nen stün­den ein­an­der immer waf­fen­star­ren­der gegen­über, wäh­rend die Uni­ver­si­täts­his­to­ri­ker den „Erobe­rern ihr Lied sin­gen, von den Lei­den der Mensch­heit aber nichts wis­sen wol­len“. Nur „die Erkennt­nis der Not­wen­dig­keit und Mög­lich­keit einer wahr­haf­ten Rege­ne­ra­ti­on des der Kriegs-Zivi­li­sa­ti­on ver­fal­le­nen Men­schen­ge­schlechts“ kön­ne die Gat­tung ihrem edels­ten Zie­le näher­brin­gen: dem „Welt­frie­den“.

Die Über­zeu­gung, dass sich die Mensch­heit falsch ernäh­re, gewann Wag­ner schon früh; 1850 schreibt er in einem Brief: „Man­gel an gesun­der Nah­rung auf der einen Sei­te, Über­maß üppi­gen Genus­ses auf der ande­ren Sei­te, vor allem aber eine gänz­lich natur­wid­ri­ge Lebens­wei­se im all­ge­mei­nen haben uns in einen Zustand der Ent­ar­tung gebracht, der nur durch eine gänz­li­che Erneue­rung unse­res ent­stell­ten Orga­nis­mus geho­ben wer­den kann.“ An Liszt schreibt er, bei­na­he schon nach Wil­helm Reich klin­gend: „Wahr­lich, all’ unse­re Poli­tik, Diplo­ma­tie, Ehr­sucht, Ohn­macht und Wis­sen­schaft und – lei­der auch – unse­re gan­ze moder­ne Kunst, wahr­lich, die­se gan­zen Schma­rot­zer­ge­wäch­se unse­res heu­ti­gen Lebens haben kei­nen ande­ren Grund und Boden, aus dem sie wach­sen, als – unse­re rui­nier­ten Unter­lei­be! Ach, woll­te und könn­te mich jeder ver­ste­hen, dem ich dies – fast lächer­lich klin­gen­de – und doch so ent­setz­lich wah­re Wort zurufe!“

Wer sich falsch ernährt, wirt­schaf­tet auch falsch und treibt eine ver­derb­li­che Poli­tik. Der „Raub­mensch“, heißt es in „Reli­gi­on und Kunst“, „bil­det Staa­ten und rich­tet Zivi­li­sa­tio­nen ein, um sei­nen Raub in Ruhe zu genie­ßen“, was sich dadurch nicht geän­dert habe, dass längst aus dem „rei­ßen­den“ ein „rech­nen­des Raub­tier“ gewor­den sei. Für die Omni­prä­senz der Berech­nung macht er wie­der zuerst das Juden­tum ver­ant­wort­lich: In der „Kunst des Geld­ma­chens aus Nichts“ sei­en die Juden „Vir­tuo­sen“, die Deut­schen dage­gen „Stüm­per“; unse­re Zivi­li­sa­ti­on sei über­haupt kei­nes­wegs eine christ­li­che, son­dern im Gegen­teil „ein Tri­umph der Fein­de des christ­li­chen Glau­bens“, „ein bar­ba­risch-juda­is­ti­sches Gemisch“ in maxi­ma­ler Hei­lands­fer­ne. „Der ver­häng­nis­vol­le Ring des Nibe­lun­gen als Bör­sen-Porte­feuille dürf­te das schau­er­li­che Bild des gespens­ti­schen Welt­be­herr­schers zur Voll­endung brin­gen“, ora­kelt Wag­ner in der Spät­schrift „Erken­ne dich selbst“. Die Herr­schaft des Gel­des, des „blei­chen Metalls, dem wir in knech­ti­scher Leib­ei­gen­schaft unter­tä­nig sind“, über­haupt Eigen­tum als sol­ches sowie des­sen Ver­erb­bar­keit gel­ten ihm als wei­te­re Ursa­chen all­ge­mei­ner Ent­ar­tung. Mit dem „Begrif­fe des Eigen­tums“, notiert er, sei „dem Leib der Mensch­heit ein Pfahl ein­ge­trie­ben wor­den, an wel­chem sie in schmerz­li­cher Lei­dens­krank­heit dahin­sie­chen muss.“

Dage­gen lie­ge „selbst dem Grol­len des Arbei­ters, der alles Nütz­li­che schafft, um davon sel­ber den ver­hält­nis­mä­ßig gerings­ten Nut­zen zu zie­hen“, die Erkennt­nis „der tie­fen Unsitt­lich­keit unse­rer Zivi­li­sa­ti­on zum Grun­de“. Dem „heu­ti­gen Sozia­lis­mus“ emp­fiehlt Wag­ner, er möge mit den „Ver­bin­dun­gen der Vege­ta­ria­ner, der Thier­schüt­zer und der Mäßig­keits­pfle­ger in eine wahr­haf­ti­ge und inni­ge Ver­ei­ni­gung“ tre­ten. Dass bei ihm Scho­pen­hau­er immer sub­ku­tan mit­spricht, demons­triert der Gedan­ke, die „in der Kla­ge geei­nig­te See­le der Mensch­heit“ wer­de „durch die­se Kla­ge sich ihres hohen Amtes der Erlö­sung der gan­zen mit-lei­den­den Natur bewußt“ und sei so imstan­de, den „rast­lo­sen Wil­len“, der die Men­schen zu blin­der Zer­stö­rung und sinn­lo­sem Lei­den trei­be, von sich selbst zu befreien.

Im Gegen­satz zu ande­ren Ver­kün­dern des „Neu­en Men­schen“ mach­te sich Wag­ner aller­dings kei­ne Illu­si­on dar­über, wie pre­kär die Lage der Gat­tung auch nach einer „Rege­ne­ra­ti­on“ blei­ben wer­de. Möge die­se „sich noch so fried­sam gestal­ten, stets und immer wird uns in der umge­ben­den Natur, in der Gewalt­sam­keit der Urele­men­te, in den unab­än­der­lich unter und neben uns sich gel­tend machen­den nie­de­ren Wil­lens-Mani­fes­ta­tio­nen in Meer und Wüs­te, ja in dem Insek­te, dem Wur­me, den wir unacht­sam zer­tre­ten, die unge­heu­re Tra­gik die­ses Wel­ten-Daseins zur Emp­fin­dung kom­men, und täg­lich wer­den wir den Blick auf den Erlö­ser am Kreuz als letz­te erha­be­ne Zuflucht zu rich­ten haben.“ –

Richard Wag­ner starb am 13. Febru­ar 1883 in Vene­dig, an sei­nem Schreib­tisch über einem Manu­skript sit­zend, dem der Titel „Über das Weib­li­che im Men­schen“ vor­an­ge­stellt war. Der letz­te Satz, den er zu Papier brach­te, lau­te­te „Gleich­wohl geht der Pro­zeß der Eman­zi­pa­ti­on des Wei­bes nur unter eksta­ti­schen Zuckun­gen vor sich.“ Am Abend zuvor hat­te er vor dem Schla­fen­ge­hen auf dem Kla­vier die Kla­ge der Rhein­töch­ter gespielt: „Trau­lich und treu/ ist’s nur in der Tiefe:/ falsch und feig/ ist was dort oben sich freut!“ und mit den Wor­ten kom­men­tiert: „Ich bin ihnen gut, die­sen unter­ge­ord­ne­ten Wesen der Tie­fe, die­sen sehnsüchtigen.“

 

Erschie­nen in: „eigen­tüm­lich frei” Mai 2013,  Juni 2013,  Juli 2013 

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