Er zählt zu den bedeutendsten, aber auch umstrittensten Denkern der Gegenwart. Unbestritten schreibt er das beste Deutsch seiner Gilde. Ein Besuch bei Peter Sloterdijk auf Korsika
Es gibt einen Typus Mensch, mit dem verglichen sogar Supermodels oder Kanzlerkandidaten Dutzendwesen sind. „Das Universum scheint sich verschworen zu haben“, beschrieb der amerikanische Autor Henry Louis Mencken das Phänomen, „endlose Serien von Bauern oder Sozialisten hervorzubringen, aber starke und geheimnisvolle Widerstände bestehen seit Ewigkeiten gegen die Hervorbringung von Philosophen.“
Peter Sloterdijk, einer dieser seltensten Menschen, kommt mit dem Fahrrad durch den Garten zum Eingangstor gefahren. Das Haus, in das er den Gast führt, steht im Norden Korsikas, gehört aber nicht ihm, also schenken wir uns dessen Beschreibung. Das Fahrrad ist ein Sportrad, mittelgebirgstauglich. In seinem jüngst erschienenen Buch „Zeilen und Tage“, einem persönlichen Diarium der Jahre 2008 bis 2011, hat sich Sloterdijk, inzwischen 65 Jahre alt, als „Velomane“ bezeichnet und einige per Rad erklommene Berge aufgelistet.
„Unter den lebenden deutschen Geisteswissenschaftlern ist er der einzige, den man mit Fug und Recht Philosoph nennen darf“, sagt sein Berliner Kollege Nobert Bolz. Sloterdijk selbst ist diesem Superlativ aus dem Wege gegangen, indem er sich als „philosophischen Schriftsteller“ definierte. Der renommierte französische Soziologe Bruno Latour nennt ihn „den großen deutschen Denker“, der in Stanford lehrende Komparatist Hans Ulrich Gumbrecht den „zentralen Denker seines Landes“. Manche sehen es anders. Sloterdijk sei kein Philosoph, sondern ein „Mystagoge“ und „Führer zum Mysterium“, monierte etwa der langjährige „Merkur“-Herausgeber Karl-Heinz Bohrer; er denke in Bildern und Metaphern und verlasse damit die vom deutschen Idealismus vorgegebene philosophische Reiseflughöhe.
Wer mag Recht haben? Woran ermisst man einen Philosophen? Natürlich zuerst am Werk. Aber die Denkwege derer, die man später als Philosophen kanonisierte, waren zu ihren Lebzeiten meist umstritten. Klassizität tritt postum ein. Die Mitwelt scheint ein ungeeignetes Gremium zu sein, um den geistesgeschichtlichen Rang von Zeitgenossen zu beurteilen.
Eine populäre Vorstellung will, dass man den Philosophen an gewissen Eigentümlichkeiten seines Äußeren identifizieren können müsse. Sloterdijk hat erklärt, ob jemand ein Philosoph ist, sei, wenn überhaupt, an seiner Physiognomie zu erkennen. Er selber wirkt immer ein bisschen wie von woanders her in die Gegenwart gefallen. In einen Tagebucheintrag beschreibt er sich als „unfrisierbaren Oger, den man gelegentlich in nächtlichen Fernsehsendungen gesehen hat“. Tatsächlich erinnert nicht nur sein Name, sondern auch sein Kopf an Figuren der flämisch-niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, irgendwo zwischen Gerrit Dous „Der Alchimist“ und Frans Hals’ Porträt des Claes Duyst van Voorhout. Allerdings sollte der Begriff Physiognomie in diesem Zusammenhang den gesamten Habitus bis zum Denkstil einschließen. Anders gesagt: Jemand ist ein Philosoph nicht nur in seinen Texten – er ist es ganz oder gar nicht.
Von einer so verstandenen Physiognomie gelangt man schnell zu der Frage, wie der Tag verlaufen muss, wenn es ein gelungener werden soll. Eine gute Maxime findet sich in Sloterdijks Tagebüchern: „Den Sommertag“ – mit 28 Grad gehört dieser korsische Septembertag unbedingt noch dazu – „wie eine meteorologische Henkersmahlzeit feiern“. Wie der Besucher sich den Ablauf denn vorstelle? Der will am liebsten mit dem Rad in die Berge und abends bei Tische Wiedergutmachung leisten. Der Gastgeber stimmt zu, weist aber darauf hin, dass das Mittelmeer derzeit „besonders seidig“ sei und dass es hier eine wunderschöne kleine Bucht gebe, die man vorher besuchen sollte. Zwei Freunde kommen auch mit.
Sloterdijk ist augenscheinlich ein geübter Schwimmer. Er schwimmt so weit hinaus, dass man ihn allmählich aus den Augen verliert. Schließlich ist er verschwunden – bis sein Gast anfängt, sich die Schlagzeile „Deutscher Philosoph vor Korsika ertrunken“ auszumalen, und auch die anderen Begleiter unruhig werden. Plötzlich steht der Verschollene wie aus dem Boden gewachsen wieder vor denen, die noch das Meer nach ihm abstarren, und meldet sich zurück mit den Worten: „Was sucht ihr den Auferstandenen unter den Toten?“ Eine Strömung habe ihn abgetrieben, sagt er. Hinfort, beschließt der Gast, sei jeglicher Kleinmut hinsichtlich Sloterdijk’scher Physis begraben.
Apropos Physis: Sein Werk ist riesig, doch geradezu uferlos ist das darin zitierte und verarbeitete Schrifttum. Als Lesender ist Sloterdijk – von ihm stammt das treffende Wort „Zeilenrennen“ – ein Athlet. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet er eine Weltgeschichte schreiben musste – nichts anderes ist ja seine „Sphären“-Trilogie, eine welterschließende Gesamtschau in der Nachfolge von Heideggers „Sein und Zeit“. Erzählt wird die Geschichte der Menschheit als Geschichte unentwegt Räume eröffnender und Sphären bildender, aber zugleich stets je schon in Sphären enthaltener und auf sphärische Geborgenheit angewiesener Wesen, also eine Art „Sein und Raum“, beginnend mit dem elementarsten aller Räume, der Gebärmutter, und einstweilen endend im „heiteren Denkbild Schaum“. Auch andere seiner Werke nähern sich ihrem Gegenstand aus universalhistorischer Warte. „Zorn und Zeit“ etwa ist der Versuch einer Geschichte der thymotischen Energien – Zorn, Stolz, Mut, Geltungsdrang, Ressentiment – und ihrer Bewirtschaftung durch die großen Religionen und Säkularreligionen.
Während die traditionelle westliche Philosophie den Menschen von seiner Sterblichkeit her denkt – vom „Sterben lernen“ in Platons „Phaidon“ bis zum „Sein zum Tode“ bei Heidegger –, spielt für Sloterdijk die Geburt, das Zur-Welt-Kommen, die wichtigere Rolle. Er möchte Metaphysik und Religion in „Immunologie“ verwandeln. Immunologie heißt: überleben lernen. Global betrachtet: die nicht mitgelieferte Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde zu entwickeln. Das ist laut Sloterdijk ohne Selbstveredelung nicht möglich. Dafür hat er den Begriff „Vertikalspannung“ eingeführt. Nach dem Tod Gottes und durch die Ausbreitung des Egalitarismus sei dem Menschen die Vertikaldimension verloren gegangen. Von Nietzsche sollen wir lernen, „die Freiheit der Selbststeigerung gegen das zukunftslose Verbrauchertum der letzten Menschen zu verteidigen“. Nichts anderes meinten übrigens die Passagen über „Anthropotechniken“ in seiner skandalisierten „Menschenpark“-Rede anno 1999. Der Mensch muss über sich hinaus wollen, auch genetisch, wenn die Gattung überleben soll. „Du mußt dein Leben ändern“, heißt folgerichtig eines seiner Bücher.
Der Bezug auf Nietzsche ist in Sloterdijks Werk virulent. Wer nach dem großen Umwerter lebe, hat er vor Jahren geschrieben, habe es leichter, denn er sei gewarnt „vor den drei unverzeihlichen Sündenfällen des Bewußtseins: vor Idealismus, Moralismus und Ressentiment“.
Apropos Physis, Fortsetzung: Nach zwei mittäglichen Flaschen Weißwein kommen die Räder zum Einsatz. Die „Insel der Schönheit“ bietet die Gelegenheit, fast vom Ufer weg auf sich schlängelnden Straßen in die Berge zu pedalieren. Couragiert und in achtbarem Tempo erklimmt der Meisterdenker die Rampen. Kein Helm schützt sein erlesenes Gehirn. Die Beine oberhalb des Knies sind sichtlich sonnenverbrannt; er muss diese Exerzitien öfter treiben. Er habe herausgefunden, schnauft Sloterdijk weise, dass man nur langsamer fahren müsse, um längere Anstiege zu bewältigen. So habe er es sogar hinauf nach L’Alpe d’Huez geschafft. Ein Philosoph auf einem Sportrad? Dass er zumindest ein Epikuräer ist, erkennt man auf dem Heimweg, wo sechs Zigarren sowie eine große reife Zitrone als Zutat fürs Abendessen die Taschen seines Trikots beulen.
Später, als er ein Huhn unter anderem mit jener Zitrone stopft, erzählt der temporäre Koch von Gorgias, dem Athener Sophisten, der sein Publikum aufforderte, es möge irgendeinen Gegenstand nennen und er werde sofort eine Rede darüber improvisieren.„Eine Zeit lang war das ein bisschen meine Rolle. Aber sie ist es nicht mehr.“
Dass er über nahezu jedes Thema extemporieren konnte, ob nun über das Auto als Ersatz-Uterus, die Nation als medial erzeugtes Stresskollektiv oder die modernen Kundenbindungssysteme als Partnerschaftssubstitute, hat ihm den Ruf eines bloßen Zeitgeist-Denkers eingetragen. Tatsächlich verweigert er sich beharrlich nahezu sämtlichen zeitgeistigen Verpflichtungen. Allein seine fernab jeder lamentierenden Gesellschaftskritik angesiedelte Heiterkeit steht quer zum intellektuellen Mainstream. Sein Buch „Weltfremdheit“ endet mit dem Bekenntnis zur „Pflicht, glücklich zu sein“. Sloterdijk hat kein Interesse an der modischen Demontage der abendländischen Tradition. Autoren, die erst zweitausend Jahre tot sind, betr
achtet er nicht als überholt, sondern als Zeitgenossen, von deren Denken sich befruchten lassen zu dürfen ein Privileg ist. Diskurse stoßen ihn ab. „Wirkliche Autoren sind nur diejenigen, die die Entstehung eines Diskurses verhindert haben“, notiert er, „Diskurse haben in den letzten Jahrzehnten die Geisteswissenschaften zerstört, sie haben die große Literatur unter Palaversystemen erstickt, die vorhersagbarer sind als jedes Azorentief. Nie wieder Diskurs.“
Das deutsche Steuersystem hat er als „Staats-Kleptokratie“ geschmäht, die zwanghafte deutsche Fixierung auf die Hitler-Jahre verdrießlich „das masopatriotische Syndrom“ genannt: „Es gibt bei uns offenbar ein Bedürfnis, die mentalen Gitterstäbe immer wieder zu justieren, hinter denen zu leben Unzählige beschlossen haben.“ Auch der universitäre Modebegriff „Gender“ kommt in seinem Werk nicht vor. In seinen Notizen findet sich – sozusagen stattdessen – die lakonische Beobachtung, der weibliche Teil des Publikums einer akademischen Veranstaltung habe auf ihn wie „Besucherinnen vom Stern der Unbeschlafenen“ gewirkt.
Selbst wenn er sich seinem abwechslungshalber zeitgeistkompatiblen Daueraffront gegen die „Cheerleader des Papstsystems“ widmet, bleibt der Ton gelassen. Nie hat er sich an der moralisierenden Miesmachung von Denkern beteiligt oder sich beflissen von „umstrittenen“ Autoren distanziert, ob es sich nun um Joseph de Maistre, Carl Schmitt, Ernst Nolte oder Antonio Negri handelt. Oder um Thilo Sarrazin. Die Attitüde des Zensierens, Warnens oder gar Denunzierens ist dem Philosophen durchaus fremd. Dass manche Denker ein wenig nach Schwefel riechen, animiert eher sein olfaktorisches System.
Jenes wird nun auch von einem fabelhaften Rebstoff aus dem Margaux animiert, welcher auf dem Tisch steht, um dem Braten samt kandiertem Gemüse zu assistieren. Kochen kann dieser Selbststeigerer also auch noch. Umgekehrt darf der Gast sich fortan einem exklusiven Kreis zugehörig fühlen: den von Sloterdijk Bekochten. Zu Paul Bocuse gehen kann schließich jeder.
Eine Philosophie sei fruchtbar, wenn sie „ein intellektuelles Klima“ an Stelle von Doktrinen hinterlasse, statuierte der kolumbianische Denker Nicolás Gómez Dávila. Die akademische Philosophie hat dem Klima-Kreateur aus Karlsruhe die Anerkennung eher verweigert. Über die Gründe darf spekuliert werden. Zum Beispiel hat er sich nicht habilitiert (aber über die „chronische Überproduktion von Habilitierten“ an deutschen Unis belustigt). Außerdem verbrachte er zwei Jahre im Ashram von Bhagwan alias Osho im indischen Pune. „Wenn ich in seine Augen sah“, erinnert sich Sloterdijk und bläst den Rauch seiner Partagas in die Luft, „hatte ich den Eindruck, dass dieser Mensch in Verbindung mit dem Kosmos stand.“ Dann seine neiderregende Präsenz in den Medien! Und der virtuose Schreibstil! Vermutlich hat seit Nietzsche kein Denker mehr eine derartige Heerschar an Begriffen und Neologismen ins Feld geführt. Einen Roman hat er auch noch verfasst, vor Kurzem sogar ein Opern-Libretto. Niemand würde sich wundern, wenn er plötzlich ein paar erstklassige Gedichte hervorzauberte.
Überdies produziert er ständig exzellente Aphorismen: „Das Interesse an Kunst ist in der Regel nur das Sonntagsgesicht der Gier.“ – „In Frankreich bringt der Amoralismus einen eigenen Kitsch hervor.“ – „Die Linksparteien sind Klärwerke für Affekte, die bei guter Arbeit trübe Wut in helle Selbstachtung umwandeln.“ – „Der Philosophieprofessor ist an die Universität angepasst wie der Pinguin an die Antarktis.“ – „Die Kabbalisten waren die Ersten, denen klar wurde, dass Gott kein Humanist ist, sondern ein Informatiker.“ – „Man hätte eine Sonne werden sollen und ist ein Sparbuch geworden.“
Es wäre töricht, ja beinahe degoutant, einen solch famosen Gastgeber mit naseweisen Einwänden zu traktieren. Etwa mit der Frage, ob die Abschaffung der Religionen nicht eine schreckliche ästhetische Verarmung des Planeten bedeuten würde. Aber womöglich arbeitet Sloterdijk längst an einer immunologischen Ästhetik.
Erschienen (leicht gekürzt) in: Focus 41/2012, S. 124 ff.