Pädagogische Geschichtsklitterung

Sogar unse­re Kin­der­buch-Rega­le sind durch­setzt vom »Gift des Ras­sis­mus«, haben wohl­mei­nen­de Lite­ra­tur-Des­in­fek­to­ren ent­deckt. Und was jetzt?

 

Nie war es zugleich so ein­fach und so schwie­rig, sei­nen mora­li­schen Hei­li­gen­schein zu polie­ren, wie heu­te; ein­fach, weil sich unter dem Vor­wand der Anti­dis­kri­mi­nie­rung irgend­ei­ne anzu­pran­gern­de Schlech­tig­keit schnell fin­det, schwie­rig, weil die Podi­en der Wohl­mei­nen­den längst rap­pel­voll sind. Dem Drang eini­ger Bes­ser­men­schen, trotz eige­ner rund­um­ver­sorg­ter Zufrie­den­heits­nä­he ein biss­chen mise­ra­bi­lis­ti­schen Staub auf­zu­wir­beln, ver­dan­ken wir nun die Erkennt­nis, dass die Kin­der­buch­klas­si­ker der west­li­chen Welt durch­tränkt sind vom „Gift des Ras­sis­mus“. Über­führt wur­den in den letz­ten Jah­ren unter ande­rem „Tim und Strup­pi“, „Pip­pi Lang­strumpf“, „Die Bie­ne Maja“, „Huck­le­ber­ry Finn“, „Der Struw­wel­pe­ter“ und vie­le Geschich­ten Wil­helm Buschs. 

In „Die Bie­ne Maja“ ent­deck­te der Bio­lo­ge Karl Dau­ner „bedenk­li­che Freund-Feind-Moral­vor­stel­lun­gen“ und „sozi­al­dar­wi­nis­tisch getön­te, ras­sis­ti­sche Ten­den­zen“. „Pip­pi Lang­strumpf“ ste­cke vol­ler „Kolo­ni­al­ras­sis­mus“ und „Res­sen­ti­ments“, monier­te der in sol­chen Fäl­len unver­meid­li­che Ber­li­ner Pro­fes­sor Wolf­gang Benz. Pip­pis „Neger­kö­nig“ wur­de inzwi­schen, Klas­si­ker hin oder her, zum „Süd­see­kö­nig“ down­ge­gra­ded. Die Kon­go-Rei­se von „Tim und Strup­pi“ ist aus den meis­ten Kin­der­buch­lä­den ver­schwun­den. Es gibt Web-Sei­ten, wo Eltern Kin­der­bü­cher „mit dis­kri­mi­nie­ren­den Inhal­ten“ mel­den kön­nen. Das Anti­dis­kri­mi­nie­rungs­bü­ro Sach­sen lud zu einer Ver­an­stal­tungs­rei­he „Ras­sis­mus in Kin­der­bü­chern – das Gift der frü­hen Jah­re“. Ras­sis­mus, for­mu­lier­te die evan­ge­li­sche Theo­lo­gin Eske Woll­rad, „begeg­net uns nicht nur dort, wo Men­schen mit dunk­ler Haut­far­be als min­der­wer­tig beschrie­ben wer­den, son­dern auch dort, wo die ‚hei­le Kin­der­welt‘ als rein wei­ße Welt dar­ge­stellt ist“. 

Man könn­te sol­che Skur­ri­li­tä­ten der Poli­ti­cal Cor­rect­ness auf sich beru­hen las­sen und die Letz­te­re mit dem Hin­weis kon­tern, dass in afri­ka­ni­schen Mär­chen ja auch kei­ne Eski­mos vor­kom­men, aber das führ­te an den eigent­li­chen Inten­tio­nen der Ras­sis­mus-Fahn­der und an ihrer Rol­le als Teil eines Gan­zen vor­bei. Ihnen geht es letzt­lich um die mora­li­sche Anschwär­zung der Geschich­te zum Zwe­cke eige­ner Dis­kurs­herr­schaft. Heu­te hat sich in der west­li­chen Welt ein Geist aus­ge­brei­tet, der die Ver­gan­gen­heit als etwas Fal­sches und zu Über­win­den­des betrach­tet. Aus die­ser War­te ist die His­to­rie eine Abfol­ge von Schlech­tig­kei­ten: Klas­sen­herr­schaft, Patri­ar­chat, Ras­sis­mus, Frauen‑, Homosexuellen‑, Min­der­hei­ten­un­ter­drü­ckung und, was Deutsch­land angeht, alles pfeil­ge­ra­de ins Drit­te Reich mün­dend. Also weg damit! 

Unan­ge­nehm an sol­cher nach­träg­li­chen Unwert­set­zung ist alle­mal, dass sie von ihrer eige­nen his­to­ri­schen Zwi­schen­stu­fen­haf­tig­keit und somit Rela­ti­vi­tät nichts wis­sen will, son­dern sich als zen­sur­vor­schlags­be­fug­te fina­le Weis­heit aus­gibt. Die genann­ten Kin­der­bü­cher bil­den nun ein­mal die Zeit ihrer Ent­ste­hung mit ab, und das wer­den sie schon halb­wegs kor­rekt tun. Geschich­te ist eben pas­siert, Zustän­de haben geherrscht, die Ent­wick­lungs- und Men­ta­li­täts­un­ter­schie­de zwi­schen den Völ­kern und Ras­sen waren und sind gra­vie­rend und wer­den es noch lan­ge sein. Völ­ker­ste­reo­ty­pe sind Ver­an­schau­li­chun­gen und haben einen ratio­na­len Kern, den man auch mit einem Augen­zwin­kern betrach­ten kann. 

Die Ein­eb­nung aller Unter­schie­de scha­det Kin­dern, die ja noch ganz unbe­schwert von mora­li­schem Druck „dis­kri­mi­nie­ren“ (dis­cri­mi­na­re heißt je zunächst nichts ande­res als: unter­schei­den), womög­lich weit mehr, als es die Zumu­tung his­to­ri­scher Unter­schieds­auf­fas­sun­gen in his­to­risch gewor­de­nen Büchern je könn­te. Es läuft auf eine rück­wir­ken­de Säu­be­rung hin­aus – ana­lo­ge Bei­spie­le sind die „Bibel in gerech­ter Spra­che“ und die zahl­rei­chen Stra­ßen­um­be­nen­nun­gen. Geschich­te ist dann, was die Zeit­geist-Ver­wal­ter für wert befin­den, übrig­zu­blie­ben. Man soll „Zehn klei­ne Neger­lein“ nicht nur nicht mehr schrei­ben, son­dern nie­mals geschrie­ben haben. Die Ori­gi­nal­tex­te der tris­ten Epo­che vor der seman­ti­schen Welt­be­frei­ung ste­hen dann nur noch für aka­de­mi­sche Quel­len­samm­lun­gen zur Geschich­te des Ras­sis­mus zur Ver­fü­gung. Die­se Art Nächs­ten- oder bes­ser Ferns­ten­lie­be ersetzt Ras­sis­mus ein­fach durch Verlogenheit. 

 

Erschie­nen (leicht gekürzt) in: Focus 39/2012, S. 113

 

 

 

 

 

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