Die Geschichte des abendländischen Mannes führte in den letzten 500 Jahren von der Entdeckung Amerikas zu der seiner weiblichen Seite. Es fragt sich bloß, ob auch die Zuwanderer in dieser Brave New Kuschelworld mitspielen.
Die Frage, was männlich sei – nicht „typisch männlich”, sondern einfach nur männlich –, ist heutzutage schwer zu beantworten. Glaubt man dem Zeitgeist, hat das Männliche per se abgewirtschaftet. Demzufolge erleben wir momentan, wie der soziale und sexuelle Idiot Homo sapiens maskulinensis, der mit seiner Aggressivität das gesellschaftliche Zusammenleben gefährdet, Kriege anzettelt, gläserne Decken gegen den beruflichen Aufstieg von Frauen errichtet, die Umwelt verwüstet und sich mit anderen Männern von morgens bis abends Weitpinkelwettbewerbe liefern will, von der sozial kompetenten, teamfähigen, empathischen, emotional intelligenten, nachhaltigen Weiblichkeit abgelöst wird, angeblich sogar im Fußball. Kurzum: Die Männer sind gehalten bzw. gezwungen, weiblicher zu werden.
Glaubt man wiederum den Frauen, die sich sozusagen privat zu diesem Thema äußern, dann sind die meisten Männer längst keine mehr, was die Holden freilich eher bedauern. Der moderne westliche Mann, klagen sie, habe keine Ziele mehr, wolle keine Entscheidungen treffen, keine Verantwortung übernehmen, sich nicht binden; „echte Kerle”, Beschützer, Männer zum Anlehnen, prägnante Charaktere müsse man mit der Laterne suchen. Kurzum: Die Männer sollten bitteschön wieder männlicher werden.
Im Idealfall hört man beide Ansichten aus einem Mund. Das ist dann besonders komisch, aber dass sie zusammengehören, dürfte auch so unbestritten sein. Was sie vereint, ist die Diagnose: Der feministisch zugerichtete, androgyne, von seiner tradierten Rolle weitgehend emanzipierte westliche Mann der Gegenwart ist nur noch eine Schrumpfversion seiner Geschlechtsgenossen von ehedem. Der durchschnittliche westliche Gegenwartsmann steht nicht im Verdacht des Testosteronüberschusses, sondern eher permanent an der Schwelle zum Burn-out. Er bevölkert weniger die Arenen als vielmehr die psychologischen Praxen. Er ist leistungskritisch, existentiell erschöpft, heimatlos, wellness-orientiert, ernährungsbewusst, anpassungswillig und frei von verzehrenden Leidenschaften. Um irgendetwas unter Einsatz seiner Gesundheit oder seines Lebens zu kämpfen, läge ihm fern. Er ist so liberal, dass ihm kaum etwas Verteidigenswertes einfällt. Er glaubt, dass man über alle Probleme reden muss und sie nur so lösen kann. Befehlen ist ihm unangenehm; dem Kindermädchen oder der Putzfrau Anweisungen zu geben, überlässt er lieber seiner Ehefrau bzw. Partnerin. Er spricht mit anderen Schrumpfmännern in einem eigenen Befindlichkeitsjargon (Ich finde, Ich würde sagen) und kennt weder Indikativ noch Imperativ. Sein Geld verdient er im Sitzen und nicht mit seiner Hände Arbeit, das von ihm Produzierte schätzt er gering. Obwohl er nicht genau weiß, warum, lebt er eigentlich gerne, und obwohl viele seiner Tage ungenutzt verstreichen, möchte er unendlich viele davon. Mit der zweiten Haut von Jack Wolfskin schützt er sich nicht nur beim Spaziergang in der Natur, sondern auch beim Weg zum Bäcker und zum Plastikmüllcontainer. Klaglos stellt er beim Check-in seine Schuhe aufs Band; Sicherheit ist das Allerwichtigste. Sein Lieblingsgespräch auf Partys ist die Altersvorsorge. Sein Dasein ist ein Sein-zur-Rente.
Wer beherrscht heute noch Überlebenstechniken, mit denen er in der Natur über längere Zeit sein Dasein erhalten könnte? Wer kennt jemanden, auf den man sich in Krisenzeiten verlassen dürfte, der die archaische Sicherheit eines Kriegers ausstrahlt? Die jahrtausendealten männlichen Verrichtungen: auf die Jagd gehen, in der Wildnis überleben lernen, ein Tier schlachten und ausweiden, Wölfe und Bären verjagen, den Feind abwehren, um Frauen kämpfen, neuen Lebensraum erschließen, den Wald roden, sein eigenes Haus bauen, ein Feld bestellen, nach Erz graben, ein Schiff besteigen, um zu schauen, was hinter dem Horizont liegt, Kontinente erobern, Teufelspakte schließen, göttliche Gebote in Empfang nehmen, als Patriarch der Familie gebieten, als Mönch heilige Berge besiedeln – all das existiert so gut wie nicht mehr. Der von Männern geschaffene Luxus hat den Mann überflüssig gemacht. Entsprechend hat sich die Mentalität des westlichen Mannes verändert. Wer keine Kontinente mehr zu erschließen hat, der verbrennt auch keine Schiffe mehr hinter sich. Der Schrumpfmann möchte schon zur „Tagesschau“ daheim sein. Den Abenteuerurlaub bucht er zusammen mit Reiserücktritts- und Unfallversicherung. Da er die Angstlustgefühle der realen Jagd und des echten Kampfes nicht mehr genießen kann, sieht er sich Horrorfilme an oder bläst virtuelle Feinde am PC weg.
Der Zeitgeist hat immer wieder versucht, der jeweiligen Schwundstufe des Mannes Etiketten anzupappen, die statt eines Niedergangs bloß eine veränderte Normalität suggerieren sollten. So tauchte etwa in der Bundsrepublik der 1970er und 80er Jahre der sogenannte „neue Mann“ auf, ein Typus, der sich angeblich als Reaktion auf die Frauenbewegung herausgebildet hatte. Über die 68er lässt sich viel Negatives sagen, aber die meisten von ihnen waren insofern normale Kerle, als sie mit ihrer Rebellion nur nebenher die bürgerliche Gesellschaft, hauptsächlich aber die Schlüpfer der Kommunardinnen aus dem Weg räumen wollten; Feministen waren sie jedenfalls nicht. Das Hauptmerkmal des „neuen Mannes“ sollte dagegen nun ein „Hinterfragen“ seiner „Geschlechterrolle“ sein, wobei Hinterfragen nichts anderes als einen allmählichen Verzicht darauf meinte. Untrennbar damit verbunden war der Abbau seiner „Zwangsheterosexualität“, das heißt, der „neue Mann“ war gehalten, sowohl seine weibliche als auch seine homosexuelle Seite „zu entdecken“. Kurz gesagt führte also die Geschichte des abendländischen Mannes in den letzten 500 Jahren von der Entdeckung Amerikas zur Entdeckung seiner weiblichen Seite.
Eine andere Zwischenstufe dieser Metamorphose wurde unter der Chiffre „metrosexuell“ gehandelt. Der Begriff entstand als ein Wortspiel aus den englischen Begriffen „metropolitan“ und „heterosexual“. Dahinter verbarg sich ein angeblich zu Beginn des 21. Jahrhunderts zur Massenerscheinung gewordener sogenannter Lifestyle unter großstädtischen, beruflich erfolgreichen Männern in der westlichen Welt. Als bekanntester Vertreter des Metrosexuellen geisterte der englische Fußballer David Beckham durch die Medien, der auf dem Platz mit stets neuen Frisuren und famoser Ballbehandlung glänzte, aber niemals ein Kämpfer- oder Leitwolftyp war, der auch mal ein Spiel herumreißen konnte. Die Beckhamisierung des Fußballs schreitet insofern bis heute fort, als auch hier die prägnanten, eckigen, aufmüpfigen, aggressiven Spieler vom Schlage eines Cantona, Gascoigne, Effenberg oder Gattuso allmählich verschwinden und von adretten, sympathischen, öffentlich zurückhaltenden, Castingshow-tauglichen Buben abgelöst werden, die sich außerhalb des Spielfeldes kaum voneinander unterscheiden und gern auch schwul sein dürfen. Das ist insofern bezeichnend, als gerade der Fußball eines der letzten Männlichkeitsrefugien darstellt, denn er imitiert die kollektive Jagd von ehedem.
Als „Metrosexueller“ war der Mann also nurmehr noch ein androgynes Bürschchen mit Interesse an Kosmetik, Mode, Design, Gastronomie und, womöglich, sogar (moderner) Kunst. Im Grunde ging es darum, die angeblichen Vorzüge des homosexuellen Mannes, vor allem dessen Sinn für Ästhetik und für Frauenthemen, auf den heterosexuellen Mann zu übertragen. Summarisch lässt sich festhalten, dass das Verhältnis des Mannes zu seinen Waffen und Werkzeugen in dem Maße abgenommen hat, wie das zu seinen Körpercremes und Lotionen zunahm.
Theoretisch finden viele Frauen einen solchen Mann zwar sympathisch, aber praktisch macht er die Mädels nicht mehr wirklich an. Vor die freie Wahl zwischen einem verständnisvollen „metrosexuellen“ Softie und dessen äußerlich unattraktivem, aber dominanten Chef gestellt, wüssten die meisten Frauen sehr genau Träumerei und Realität zu trennen. Ich fragte einmal auf einer Party eine Schönheit aus der Liga weiblicher Millionärstrophäen, welcher Mann im Saal ihr am besten gefalle, und sie nannte ohne Zögern und mit einem fast boshaften Auflachen das zwar in die Jahre gekommene, aber allen anderen Anwesenden vorgesetzte Alpha-Männchen. Männlichkeit in höchster Potenz ist, den anderen befehlen zu können. „Commandare è meglio che fottere“ („Befehlen ist schöner als Vögeln“), lautet ein italienisches Sprichwort, wenngleich beides denn doch eher zusammengehört. Mit anderen Worten: Männer in Elternzeit haben selten Frauen, auf die andere Männer scharf sind.
Angesichts der Binsenwahrheit, dass Tugenden nicht zu haben sind ohne Untugenden, würde die Eliminierung des ursprünglich Männlichen aus der Gesellschaft – inclusive derjenigen Frauen, die am Boxring in der ersten Reihe sitzen, sich gern von Männern aushalten lassen und lieber Mütter als Lohnarbeiterinnen sind – darauf hinauslaufen, dass nicht nur Aggressivität und Gewalt, sondern auch Abenteuerlust, Entdeckertum, Risikobereitschaft verschwänden. Mag der westliche Mann inzwischen hinreichend domestiziert sein, dass er diesen Preis zahlen würde, so dürfte dies für virile maskuline Zuwanderer aus vitaleren Weltgegenden so schnell nicht zutreffen, von denen die kinderarmen westlichen Gesellschaften nolens volens immer mehr aufnehmen werden. Die Probleme sieht man heute bereits zur Genüge, von den Pariser Banlieus bis nach Tottenham oder Berlin-Neukölln. Und hier beginnt die Angelegenheit amüsant zu werden, weil sich die Politische Korrektheit zwischen der Privilegierung entweder der Fremden oder der Frauen entscheiden muss und beides zugleich so schnell nicht funktionieren wird. Das letzte Privileg des Schrumpfmannes könnte darin bestehen, diesem Kampf zuzuschauen, in dem sich entscheidet, wer künftig über ihn bestimmen wird.
Erschienen (leicht gekürzt) in: Die Weltwoche 38/2011, S. 46/47