„Lied” ist ein merkwürdig konventioneller Begriff für diese sechs orchestrierten Gesangsstücke nach chinesischen Gedichten, die Mahler 1908 schrieb und von denen mindestens zwei (Nr. 1 und 6) die Liedform völlig sprengen. Der Untertitel „Eine Symphonie für eine Tenor- und eine Alt- (oder Bariton-) Stimme und Orchester” trifft’s aber auch nicht recht, denn symphonisch ist nur der „Abschied”, ein großes Adagio. „Von der Erde” deutet an, dass es quasi um alles geht, wobei im Kern der Gesänge der Tod steht. Seinen exotischen Klang erhält das Werk insbesondere durch die Verwendung pentatonischer, „asiatischer” Elemente, passend zur Textvorlage (Puccini hat in „Madama Butterfly” und „Turandot” mit ähnlichen Mitteln gearbeitet.)
Beim eröffnenden „Trinklied vom Jammer der Erde” handelt es sich um eine Art Hymne des ekstatischen Fatalismus, zu der man sich unbedingt einen guten Rotwein aufmachen sollte (halten Sie mich ruhig für irre, aber er darf bei dieser Musik nicht wärmer als 16 Grad sein). Die Orchestrierung des aufrauschend-verzweifelten, notschreihaft-schrillen Stücks ist, bei allem pessimistischen Krawall, von einer so daseinspreisenden Delikatesse, dass ich dieser Musik niemals satt werde.
Der Kontrast zwischen dem todmüden „Der Einsame im Herbst” (Nr. 2) und dem zart-imressionistischen „Von der Jugend” (Nr. 3) könnte verblüffender nicht sein. Mit der eruptiven Hingabe an den Rausch zu Beginn korrespondiert die Hingabe an den Tod als Teil des ewigen Stirb und Werde im trotz sparsamster Instrumentierung gewaltigen „Abschied”.
An die Sänger stellt „Das Lied von der Erde” erhebliche Anforderungen. Speziell der Tenorpart im „Trinklied” galt stellenweise als unsingbar (desgleichen eine Passage im Alt-Stück „Von der Schönheit”), bis Wunderlich sich seiner annahm. In Christa Ludwig hatte er 1965 im Studio eine kongeniale Partnerin, in Klemperer einen großartigen Kapellmeister.
Gustav Mahler. Das Lied von der Erde; Otto Klemperer, Christa Ludwig, Fritz Wunderlich (EMI)
Erschienen in: eigentümlich frei