Was heute zu London geschieht, vollzieht sich dort in schöner Regelmäßigkeit seit tausend Jahren, es handelt sich also um etwas, das nach Ansicht der Ewigmorgigen ewiggestrig ist und auf den „Müllhaufen der Geschichte” gehört, was aber jammerschade wäre, denn warum sollte die prächtige Königskrone dort neben der Jakobinermütze, dem Mao-Anzug und Fischerjockels Turnschuhen liegen? Die Häme, die vor allem das englische Königshaus in der deutschen Presse erfährt, hat viel mit den schmucklosen Vororten zu tun, aus denen die meisten Journalisten stammen. Ein Königshaus ist doch etwas Herrliches. „Die Kulturen”, notierte Nicolás Gómez Dávila, „sind Gebäude, die aristokratische Hände errichten und die Demokratien mit Gewalt niederreißen”, weshalb man diesen Gedanken unter Progessiven auch nicht aussprechen darf.
Im monarchenamputierten Deutschland gilt der Bundespräsident als eine Art Ersatzkönig. Bezeichnenderweise ist ein Schloss sein Amtssitz, und nicht ganz unbezeichnenderweise habe ich im Garten davor schon sehr wohlgenährte Ratten herumlaufen sehen (und ich meine keine anthropomorphen). Der Bundespräsident wird nicht vom konstruierten Volk gewählt, sondern von einer nicht besonders demokratisch rekrutierten Bundesversammlung. Er steht über den Parteien; zumindest wird von ihm erwartet, dass er überparteilich agiert. Im Paragraph 90 StGB „Verunglimpfung des Bundespräsidenten“ hat der alte Majestätsbeleidigungsparagraph überdauert. Der Bundespräsident besitzt keine wirkliche Macht. Stattdessen soll er das Land repräsentieren.
In Wirklichkeit ähnelt der Bundespräsident weniger einem Monarchen als vielmehr einem Prediger. Der augenfälligste Unterschied zwischen einem Monarchen und einem Bundespräsidenten besteht darin, dass der Monarch gemeinhin keine Reden vor großem Publikum hält; unser vorerst letzter Kaiser Wilhelm II. war die große und, wie manche meinen, unrühmliche Ausnahme. Eigentlich verbietet die Etikette dem Monarchen, sich mit Reden ans Volk zu wenden – von Extremsituationen wie einem Kriegsausbruch abgesehen; der Film „The King’s Speech“ über den englischen König Georg VI. behandelt eine solche Weltsekunde. Bundespräsidenten dagegen reden bei jeder Gelegenheit – und wie wir beim aktuellen beobachten müssen, oft unglaublichen ahistorischen Stuss. Herr Steinmeier hat auch mit der Idee gebrochen, das demokratische Ersatzköniglein möge sich der parteipolitischen Stellungnahme entraten.
Der Monarch indes steht tatsächlich über den Parteien, und Repräsentieren ist seine eigentliche Aufgabe. Die Wurzeln der Majestäten reichen tief in die Vergangenheit ihrer Völker, sie repräsentieren ihr Land in überzeitlicher, überpersönlicher Weise und sind das lebendige Zeugnis dafür, dass zwischen dem Land und der Regierungsform keine vollständige Übereinstimmung besteht. Sie bezeugen vielmehr, dass es nach einem möglichen Ende des gerade herrschenden Systems trotzdem weitergehen kann. In manchen Ländern wurden die Monarchen von den neuen Herrschern deswegen geköpft oder erschossen oder vertrieben. Im Hass auf die Majestäten waren sich Demokraten und Diktatoren stets einig. England hat das Sakrileg des Königsmordes immerhin wieder korrigiert.
Die Könige entstammen dem Adel, der bekanntlich verpflichtet. „Die europäische Auffassung über das, was schön und angemessen ist im Umgang der Menschen miteinander, hat der Adel formuliert“, schreibt Asfa-Wossen Asserate in seinem entzückenden Buch „Manieren“. Es sind die Aristokratien gewesen, die den Völkern die Frischluft ihrer Sitten zufächelten. Die Zivilisation lebt von aristokratischen Gewohnheiten beziehungsweise deren Überbleibseln. Für die europäischen Länder waren die Herrscherhäuser stilbildend. Auch für deren Küchen. Es war ein weiter Weg von den eher rustikalen Bratenverzehrsorgien am Hofe Heinrichs VIII. bis zur Tafel Ludwigs XIV. in Versailles.
Die Tafel, wie sie uns heute vorschwebt, ist höfischen Ursprungs. Bei Hofe war sie eine Inszenierung; Essen nur um satt zu werden, galt dem Adel als animalisch. Deshalb war die gemeinsame Mahlzeit mit Gefolge und Gästen ein von Musik, Tanz, Theater und Feuerwerk umrahmtes Gesamtkunstwerk, das sich, wenn es etwas Bedeutendes zu feiern gab, eine dynastische Hochzeit, die Geburt eines Thronfolgers oder einen Sieg in der Schlacht, über Tage hinziehen konnte. Am Anfang des 18. Jahrhunderts bildeten sich Tafelsitten und die Formen des Tafelschmucks, wie sie heute noch in vielen Teilen Europas gelten. Kein europäischer Hof war dabei wichtiger als der des Sonnenkönigs. Dort wurde naturgemäß auch am besten gegessen. Wobei mir ein guter Freund nahezu glaubwürdig versichert hat, dass die französische Küche lediglich ein Ableger der königlich-sächsischen Hofküche sei.
Das ist Geschichte. Der Adel, namentlich der deutsche, lebt heute bescheidener. Der Adel, namentlich der deutsche, protzt nicht mehr. Der Adel, nicht zwingend der deutsche, hat vielmehr Stil. Wir bekamen unlängst die Gelegenheit zum Vergleich, nicht zwischen deutschem und englischem Adel, sondern etwas unfairerweise zwischen englischem Hochadel und deutscher Sozialdemokratie, nämlich beim Staatsbesuch von Charles III. und seiner Frau Camilla in Deutschland. King Charles ist zwar der triste Beweis dafür, dass der woke Blödsinn auch bei Hofe angekommen ist, doch an der Seite von Steinmeier wirkte er wie eine attische Statue neben einer Fasnachtspuppe. Charles repräsentierte nicht nur das englische Königtum und das Haus Windsor, sondern auch das Schneiderhandwerk seines Landes. Ohne jeden Pomp, aber mit einer Garderobe, deren Form, Schnitt und Sitz man nur mit dem Wort impeccable beschreiben kann: tadellos. Am besten, Sie schauen sich die Bilder selbst an; wenn ich jetzt Steinmeier beschreibe, wendet man am Ende noch den oben genannten Paragraphen auf mich an. Unsere sogenannte First Lady, also Steinmeiers Frau Elke Büdenbender, schnitt im Vergleich mit Camilla übrigens noch schlechter ab. Am Brandenburger Tor kreuzte sie mit einem knittrigen hellroten Mantel und einem Sommerhütchen auf, als wandere sie an der Ostsee, beim abendlichen Staatsbankett hatte sich die Frau des Bundespräsidenten in einen fliederfarbenen Taft-Schlauch gequetscht, mit einem ähnlichfarbenen Torerojäckchen darüber. Sie wäre die ideale Partnerin der ebenfalls anwesenden Toten Hose Campino gewesen, der sich so perfekt in seinem Leihfrack fügte wie in den alten Kalauer „Ein Wrack im Frack“.
Ich weiß, es schmerzt die sozialdemokratische deutsche Seele, aber es unterscheidet Menschen ein Leben lang, wenn der eine im Buckingham Palast und der andere in der Entbindungsstation des Klinikums Lippe-Detmold das Licht dieser ungerechten Welt erblickt hat.
Es gab beim Staatsbankett im Schloss Bellevue folgendes Menü: gebeizter Karpfen mit Erfurter Brunnenkresse, sodann Kraftbrühe vom Heckrind, als Hauptgang Weidehuhn und Baumpilz, zum Abschluss Backpflaume, ostfriesischer Schwarztee und Sandgebäck. Ob die Riesling-Spätlese aus dem Rheingau den Karpfen ins Genießbare gerettet hat, kann ich nicht beurteilen, ich finde allerdings, dass ein Karpfen als solcher bestens mit dem Gastgeber harmoniert. Wenn man dem Staatsgast mitteilen wollte, dass Germany ein Land ist, das von stilunsicheren Kleinbürgern, die allenfalls heimlich schlemmen, regiert wird, dann ist es gelungen. Offenbar wollte man dem King etwas Einfaches, aber nichts Triviales kredenzen, und zugleich den mit Inflation, den welthöchsten Energiepreisen und Steinmeier-Reden gequälten Menschen da draußen im Land den Eindruck von Bescheidenheit vermitteln. Für Charles war das übrigens nichts völlig Neues; als er 1987, damals noch Prince of Wales, Franz Herzog von Bayern in Nymphenburg besuchte, wurden eine Rinderbouillon, ein Tafelspitz und zum Dessert Marillenknödel serviert. Wie gesagt, der deutsche Adel versteht inzwischen etwas von Bescheidenheit, er wird allerdings auch nicht mit Steuermilliarden gemästet.
Was folgt aus all dem? Ganz einfach: Glücklich ein Land, das noch einen König hat – so albern sich einzelne Mitglieder des englischen Königshauses auch zuweilen aufführen –, weil das Königtum etwas ist, das sich sowohl demokratischer Wählbarkeit als auch demokratischer Rhetorik und nicht zuletzt dem Rangordnungskriterium des Reichtums entzieht. „Die Reichen sind nur dort unschädlich, wo eine Aristokratie sie geringschätzt“, notierte der treffliche Nicolás Gómez Dávila. Königtum ist Form, Königtum ist Tradition. Die entsetzliche deutsche Formlosigkeit hängt auch mit der Abdankung des Adels zusammen. Wo eine Sozialdemokratie eine Aristokratie ersetzt, kann es ästhetisch nur bergab gehen.
God save the King!