Robert Schumann: Klaviersonate Nr. 1

 

Schu­manns fis-Moll-Sona­te opus 11 erschien im Erst­druck als ein Werk von „Flo­re­stan und Euse­bi­us“. Die bei­den Namen ste­hen für die zwei See­len in Schu­manns bzw. wohl nahe­zu jeder­manns Brust: Flo­re­stan ver­kör­pert die über­mü­ti­ge, lau­ni­ge, lebens­fro­he Hälf­te, Euse­bi­us die intro­ver­tier­te, grüb­le­ri­sche, melan­cho­li­sche. Das anfäng­li­che Feh­len des Klar­na­mens mag dar­auf deu­ten, dass der Kom­po­nist hier etwas ver­an­stal­te­te, was man heut­zu­ta­ge gern als „See­len­strip­tease“ bezeich­net. In einem Brief an Cla­ra (damals noch) Wieck nann­te Schu­mann die Sona­te „einen ein­zi­gen Her­zens­schrei nach Dir“. Den schmach­ten­den Ruf hört man gleich zu Beginn, er erklingt mehr­fach über wogen­den Bass-Trio­len, und es sind dies zwei der herr­lichs­ten Minu­ten der gesam­ten Kla­vier­li­te­ra­tur. Sobald die­se Musik ertönt, hebt man unwill­kür­lich den Kopf, um nach dem Rufer zu schau­en. In ihrer gewal­ti­gen Sub­jek­ti­vi­tät muss die­se Pas­sa­ge einst uner­hört gewirkt haben.

Die Her­zens­schreie der Män­ner gehen bekannt­lich schnell zur Selbst­dar­stel­lung über, so auch hier, und die­se Mischung ver­leiht der Sona­te etwas Über­bor­den­des und Iri­sie­ren­des. Stän­dig wech­selt gewis­ser­ma­ßen der Blick zwi­schen Wer­ber und Ange­be­te­ter. Das Scher­zo etwa ist ein ein­zi­ges Sieh-her! Flo­restans. (Ich emp­feh­le hier eine ande­re Ein­spie­lung, aber die­ses Scher­zo soll­te man auch und vor allem von Gie­se­king gehört haben…)

Es scheint heut­zu­ta­ge unter den Pia­nis­ten weni­ger Cha­rak­te­re zu geben als vor einem Halb­jahr­hun­dert, dafür gibt es zahl­rei­che per­fek­te Vir­tuo­sen. Man­che ver­su­chen, durch Marot­ten auf­zu­fal­len – das berühm­tes­te Bei­spiel war Glenn Gould –, ande­re bemü­hen sich um strik­te Objek­ti­vi­tät. Der König unter Letz­te­ren ist für mich Kis­sin. Sein Kla­vier­spiel mei­det alles Extre­me und ist von einer Homo­ge­ni­tät, die ihres­glei­chen sucht. Egal ob live oder im Stu­dio: Bei ihm erklingt jeder Ton in kris­tal­li­ner Rein­heit. Eine gewis­se Küh­le muss man für so viel Struk­tur­of­fen­ba­rung wohl in den Kauf nehmen.

Evge­ny Kis­sin: Schu­mann. Sona­te No. 1 in F‑Sharp Minor, Op. 11; Car­na­val Op. 9 (RCA)

Nach­trag vom 15. Okto­ber 2017: Unsinn, hier Kis­sin zu emp­feh­len; nein: Wla­di­mir Sofro­niz­ki soll es sein, hier.
 

 

Erschie­nen in: eigen­tüm­lich frei 

Vorheriger Beitrag

Philip Glass: Akhnaten

Nächster Beitrag

Franz Schubert: Die schöne Müllerin

Ebenfalls lesenswert

Richard Strauss: Salome

  Die meis­ten Opern­li­bret­ti sind von erle­se­ner Däm­lich­keit. Kaum irgend­wo scheint sich das mensch­li­che Kitsch- und   Pathos­be­dürf­nis stär­ker…