Herunter! Herunter!

Gehö­ren Sie auch zu den­je­ni­gen, die jedes­mal mit einem flau­en Gefühl in die nächs­te Thea­ter- oder Opern­auf­füh­rung gehen, weil Sie sich fra­gen: Was wird der Regis­seur sich dies­mal wie­der für einen Unsinn aus­ge­dacht haben? Dann sind Sie hier richtig

 

Der Begriff Regie­thea­ter ist eigent­lich ein wei­ßer Schim­mel. Selbst­re­dend muss im Thea­ter Regie geführt wer­den. Wal­ter Fel­sen­stein etwa hat so ent­schie­den Regie geführt, dass die Sän­ger wie Mario­net­ten an den Fäden sei­nes Wil­lens hin­gen. Der Ter­mi­nus ist also schon von Hau­se aus ver­rä­te­risch. Er bedeu­tet: Der Regis­seur hat mehr zu mel­den als der Autor, Werk­treue ist eher unwich­tig, und hand­le es sich auch um Wer­ke von Shake­speare oder Richard Wagner. 

Regie­thea­ter ist ein Schlag­wort aus der Thea­ter­kri­tik, ent­stan­den in den 70er Jah­ren, damals noch oft mit nega­ti­vem Zun­gen­schlag. In jün­ge­rer Zeit wird der Begriff eher mit posi­ti­ver Kon­no­ta­ti­on ver­wen­det. Es heißt, die Wer­ke der Ver­gan­gen­heit müs­se man neu deu­ten. Das heu­ti­ge Publi­kum sei anders sozia­li­siert als das Publi­kum zur Zeit der Urauf­füh­rung. Was die Oper angeht, mag damit wohl gemeint sein, dass im Zuschau­er­saal inzwi­schen über­wie­gend Leu­te sit­zen, die kei­ne Noten lesen kön­nen, was sich gut damit ver­trägt, dass es die meis­ten Regis­seu­re auch nicht kön­nen; des­halb geht man sich heu­te ja eine Oper eher anschau­en. Und dann muss natür­lich ein biss­chen was pas­sie­ren auf der Büh­ne, Scar­pia in der „Tos­ca“ etwa als Pino­chet-Scher­ge (wie in Darm­stadt), Don Gio­van­ni im Beicht­stuhl kopu­lie­rend (so in Essen), oder ein Lohen­grin und Elsa als Eigen­heim­bau­er (in München).

Zu den füh­ren­den Regis­seu­ren, die sich selbst als Regie­thea­ter-Ver­tre­ter sehen, gehö­ren Peter Kon­wit­sch­ny und Hans Neu­en­fels. Ers­te­rer ließ, um ein paar veri­ta­ble Mei­len­stei­ne zu nen­nen, den Octa­vi­an im „Rosen­ka­va­lier“ als Braut­wer­ber sturz­be­trun­ken auf­tre­ten und statt der sil­ber­nen Rose einen Flach­mann zücken. Letz­te­rer stell­te Aida als Putz­frau auf die Büh­ne, und sie wur­de am Ende nicht gemein­sam mit Rad­ames in einer Pyra­mi­de ein­ge­mau­ert, son­dern starb – na wo schon? – in einer Gas­kam­mer. Neu­en­fels hat auch Euri­pi­des’ „Medea“ auf­ge­hübscht; dass die Titel­hel­din am Ende ihre bei­den Söh­ne tötet, um sich am untreu­en Jason zu rächen, fand er ins­ge­samt nicht abend­fül­lend, also muss­te bei ihm Jasons Schwie­ger­va­ter Kre­on die Medea-Kin­der vor­her auch noch vögeln. 

Wer so etwas bescheu­ert, gro­tesk oder wenigs­tens unan­ge­mes­sen fin­det, dem wird gemein­hin unter­stellt, er habe wohl einen kon­ser­va­ti­ven Kul­tur­ge­schmack. Dabei hat er bloß über­haupt einen. „Inzwi­schen“, sprach der Regis­seur Peter Stein in einem Inter­view, „kann ja am Thea­ter jeder machen was er will, aber in der gan­zen Welt wird das deut­sche Regie­thea­ter verlacht.“

Dass hier­zu­lan­de den­noch vie­le zu die­sem Unsinn öffent­lich lie­ber schwei­gen und allen­falls in Schut­ze der Zuschau­er­grup­pe in ein anony­mes Buhen aus­bre­chen, hat, vom lan­des­üb­li­chen Kon­for­mis­mus abge­se­hen, mit einem ein­fa­chen Phä­no­men zu tun: der Neo­ma­nie. Neu ist näm­lich immer gut. Der moder­ne Intel­lek­tu­el­le hat offen­bar vor nichts mehr Angst als vor der Unter­stel­lung, er sei alt­mo­disch und rück­stän­dig, wie berech­tigt sie auch immer sei. Aus der Tat­sa­che, dass es bei den Ver­bren­nungs­mo­to­ren, in der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­elek­tro­nik und in der Zahn­me­di­zin einen gewis­sen Fort­schritt gibt, fol­gern vie­le Leu­te anschei­nend, dass der­glei­chen auch für die Küns­te gel­te und dass älte­re Wer­ke, um up to date zu sein, ein biss­chen auf­ge­peppt wer­den müss­ten (des­we­gen liest man in den Feuil­le­tons zumeist Loben­des über die Inze­n­ie­run­gen). Man wol­le die Klas­si­ker nicht auf einen Sockel stel­len, heißt es dann. „Aber dort ste­hen sie längst“, kom­men­tier­te der Dich­ter Peter Hacks, „wer so etwas sagt, kennt sei­nen Platz nicht.“

Was aber treibt Regis­seu­re dazu, in Voll­endungs­nä­he ange­sie­del­te Wer­ke zu „aktua­li­sie­ren“, das heißt zu „kor­ri­gie­ren“, das heißt zu „destru­ie­ren“, das heißt letzt­lich abzu­räu­men? War­um müs­sen Insze­nie­run­gen immer häss­lich und oft zwang­haft durch­sext sein? War­um muss jeder König oder Herr­scher als Debi­ler auf­tre­ten, war­um jeder Held zum Anti­hel­den wer­den, war­um geht es sel­ten mal ohne nack­te Dar­stel­ler, ohne Sperr­müll­so­fas, ohne SA-Uni­for­men, ohne Sper­ma, Blut und Kotze?

Im Regie­thea­ter wal­tet ein ega­li­tä­res Geschichts- und Men­schen­bild, sei­ne Maxi­me heißt: Her­un­ter! Nichts ist groß, nichts ist schön, nichts ist wohl­ge­ra­ten, vor allem kein Mensch. Auf bedeu­ten­de Per­sön­lich­kei­ten gibt es nur die Kam­mer­die­n­er­per­spek­ti­ve, gro­ße Taten ent­ste­hen aus Süch­ten, Ver­klemmt­hei­ten und Eitel­kei­ten. Nichts kommt den Nivel­lie­rern mehr ent­ge­gen als die Tat­sa­che, dass schließ­lich alle Welt kopu­lie­ren will oder muss, jeden­falls: kopu­liert, wes­halb es auch auf der Büh­ne statt­fin­den muss. Und natür­lich sind heu­te poli­tisch kor­rekt alle Kul­tu­ren gleich, des­halb kann „Don Gio­van­ni“ auch im Schwar­zen­ghet­to spie­len oder „Par­si­fal“ in Afri­ka. Trost? Tran­szen­denz? Aber wo!

Dass es so etwas wie Hoch­kul­tur gibt, emp­fin­det der Links­in­tel­lek­tu­el­le – und der durch­schnitt­li­che Büh­nen­re­gis­seur ist nichts ande­res – als skan­da­lös. Das Res­sen­ti­ment gegen Meis­ter­wer­ke und Kano­ni­sches in der Kunst speist sich aus den­sel­ben Quel­len wie jenes gegen Eli­te, Erfolg und Vor­treff­lich­keit in Geschich­te und Wirk­lich­keit. Hier­zu­lan­de addiert sich noch der spe­zi­fisch vor­fah­ren­werks­zer­stö­re­ri­sche Selbst­hass der Kriegs­ver­lie­rer-Nach­kom­men zu all­ge­mei­nen Gekas­pe­re, so dass man als halb­wegs kul­ti­vier­ter Mensch Thea­ter und Opern­häu­ser gene­rell mei­den bezie­hungs­wei­se sich vor­her genau über die Insze­nie­rung ins Bild set­zen sollte.

Da sie sel­ber abso­lut unschöp­fe­risch sind, ent­fal­tet sich die Krea­ti­vi­tät der meis­ten Regie­thea­ter­ma­cher im Zer­stö­ren. Es sei dar­an erin­nert, dass „häss­lich“ ety­mo­lo­gisch mit „Hass“ ver­wandt ist. Im Regie­thea­ter hat sich die Ges­te der anti­bür­ger­li­chen Revol­te erhal­ten, die die­se Gesell­schaft seit 1968 prägt, aber man­gels eines kon­kre­ten Objek­tes – es ist ja längst alles abge­räumt – erschöpft sie sich im Selbst­zweck. Man­gels Bür­gern im Publi­kum ist die anti­bür­ger­li­che Atti­tü­de leer und hohl gewor­den. Regie­thea­ter ist heu­te unge­fähr so avant­gar­dis­tisch wie Nip­pel-Pier­cing und Arsch-Tatoo, also in Wirk­lich­keit eine Form von main­strea­mi­ger Links­spie­ßig­keit. Und natür­lich ist das deut­sche Regie­thea­ter fei­ge, indem es nur Totes angreift und Ster­ben­des tritt; wirk­lich Pro­vo­zie­ren­des, etwa ein Pro-Hai­der-Stück oder eine Moham­med-Par­odie, traut sich kei­ner der Berufsprovokateure.

Aber wol­len Sie etwa, lau­tet das gän­gigs­te Pro-Regie­thea­ter-Argu­ment, zurück zur Bor­dü­ren- und Plüsch-Ära? Wol­len Sie eine „Bohè­me“, einen „Faust“ oder einen „Othel­lo“ in der Insze­nie­rung von 1910 sehen? Eine raf­fi­nier­te Fra­ge, nicht wahr? Denn wer wür­de hier schon ja sagen? Aber bei nähe­rem Über­le­gen ist die Fra­ge natür­lich blan­ker Unsinn. Gibt es nicht noch etwas dazwi­schen? Und: Wer sich die Frei­heit nimmt, Dreck Dreck zu nen­nen, muss nicht sofort ein neu­es Par­füm erfinden.

Obwohl sei­ne Prot­ago­nis­ten in der Regel Links­in­tel­lek­tu­el­le sind, beruht das Regie­thea­ter auf der genu­in kon­ser­va­ti­ven Idee einer weit­ge­hend unwan­del­ba­ren Con­di­tio huma­na. Übli­cher­wei­se hül­len moder­ne Insze­nie­run­gen das Büh­nen­per­so­nal aus ver­gan­ge­nen Jahr­hun­der­ten in Klei­der der Gegen­wart oder zumin­dest spä­te­rer Epo­chen, um dem Publi­kum zu ver­mit­teln, dass die Pro­ble­me irgend­wie die­sel­ben geblie­ben und die Stü­cke, wie man gern schwätzt, auch heu­te noch aktu­ell sei­en. Dies per­ma­nent vor­ge­führt zu bekom­men, soll­te im Gun­de jeder­manns Intel­lekt belei­di­gen. Ist es etwa mehr als sich an ein jugend­li­ches Publi­kum her­an­wanz­ender Kla­mauk, wenn Schil­lers Don Kar­los als infan­ti­ler Depp mit Pudel­müt­ze, Turn­schu­hen und MP3-Play­er her­um­läuft (die­ser Tage in Mann­heim) und sich von sei­ner Stief­ma­ma den Pim­mel bepus­ten lässt, der­weil er ihre Brüs­te mas­siert? Ob der Regis­seur irgend­wo gele­sen hat, dass der his­to­ri­sche Car­los ein Halb­de­bi­ler war, ist inso­fern unwich­tig, als er ja zum einen Schil­ler insze­niert und es zum ande­ren genau­so gemacht hät­te, wenn der spa­ni­sche Infant ein Genie gewe­sen wäre.

Das Maga­zin der „Süd­deut­sche Zei­tung“, der Ver­brei­tung kon­ser­va­ti­ver Mei­nun­gen ins­ge­samt eher unver­däch­tig, ver­öf­fent­lich­te im Novem­ber 2007 eine Aus­ga­be, in der aus­schließ­lich pen­sio­nier­te Redak­teu­re zu Wort kamen. Zwei von ihnen wid­me­ten sich den Zustän­den auf deut­schen Büh­nen. Die Fra­ge erwä­gend, wel­che Vor­zü­ge es gehabt hät­te, in der Bel­le Épo­que zu leben, erklär­te Rudolph Chi­mel­li: „Ich hät­te Opern sehen kön­nen, wie deren Kom­po­nis­ten sie sich gedacht hat­ten, nicht so, wie Regis­seu­re, die auf Ori­gi­na­li­tät ver­ses­sen sind, sie heu­te insze­nie­ren. Im Thea­ter hät­te ich nicht erle­ben müs­sen, dass, wäh­rend ich eigent­lich den Reden Wil­helm Tells oder Ham­lets lau­schen woll­te, der Her­aus­ge­ber der Wochen­zei­tung ‚Der Stür­mer’ Juli­us Strei­cher auf der Büh­ne ona­niert.“ Sein Kol­le­ge Car­los Wid­mann kam direk­ter zur Sache: „Der klei­ne Fascho ist mir erst seit der Rück­kehr nach Euro­pa zuge­wach­sen und ‚ver­dankt sich’ dem deut­schen Regie­thea­ter. Wenn ein krach­le­der­ner Baron Ochs die Hand der Mari­andl in sei­ne Hosen­tür ein­führt – um nur eine der mil­de­ren Ent­glei­sun­gen zu nen­nen –, grei­fe ich zur Handgranate.“

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