Unter diesem Titel sendet Radio Bremen am 9. Mai 2009 einen einstündigen Beitrag von Professor Alexander Schuller. Der Autor befragte dazu und zitierte u.a. mich. Hier ist das gesamte Interview nachzulesen.
Frage: Auch in modernen Industriegesellschaften schaffen verschiedene Formen des Glaubens jeweils Identität, Verhaltenssicherheit und Gruppenbindung – damit aber auch Konflikte. Vor allem scheint es dabei um die Unterscheidungen zwischen „Wir“ und „Ihr“, um „Gut“ und „Böse“, um „Befreiung“ und „Befangenheit“ zu gehen. Für globalisierte – also gewissermaßen „entfesselte“ – Massengesellschaften gilt das vermutlich in verstärktem Maße. Es geht um ein Denkmodell, in dem „Besessene“ durch „Exorzisten“ vom „Bösen“ befreit werden, um eine autoritäre Form der Aufklärung.Welche, in dem obigen Sinne, „exorzistischen“ Verfahren kennen Sie? Würden Sie sie beschreiben?
Na, zum Beispiel den sogenannten Kampf gegen rechts. Zumal dessen Protagonisten keinen Unterschied zwischen rechts und rechtsextrem machen. Der Anlass ist in der Regel irgendeine Formulierung, das Verfahren die Kampagne, der intellektuelle Passepartout die Unterstellung, dass der irgendetwas Rechtes gesagt Habende in Wirklichkeit viel gefährlichere Sachen denkt oder zumindest ein sogenanntes Scharnier zum Rechtsxtremismus verkörpert. Womit dann die Fühlung zum Oberteufel Hitler auf Teufel komm raus hergestellt wäre. Es gibt ferner einen feministischen Exorzismus, der die Übel dieser Welt den Männern anlastet und von vielen Medienschaffenden gedankenlos verbreitet wird. In den Künsten, zumal auf den Bühnen, herrscht ein gewisser Exorzismus gegen alles Schöne, Wohlgeratene, Vollkommene. Letzteres dürfte im wesentlichen darauf zurückzuführen sein, dass die Herrschaften selber nichts Schönes oder Vollkommenes schaffen können.
Waren Sie selbst schon Objekt eines solchen „Exorzismus“? Sind Sie persönlich als „böse“ „entlarvt“ – und gegebenenfalls „verfolgt“, „bestraft“, „umerzogen“, „befreit“, „geheilt” – worden? Wie haben Sie das erlebt?
Ich bin in der DDR aufgewachsen und dort reichlich von den Nazis befreit worden. Ich war dementsprechend überrascht zu erfahren, dass die nationalsozialistischen KZs, in die man mich als Schüler mehrfach genötigt hatte, obwohl ich KZs schon vorher nicht so toll fand, dass diese KZs nach dem Krieg von den Kommunisten weiterbetrieben worden waren. Ich beobachte seit 20 Jahren, wie der Westen in puncto Gesinnungsdruck eine gewisse DDR-Ähnlichkeit annimmt. Das ist schade, wundert mich aber nicht weiter. Menschen haben erstens religiöse Bedürfnisse – also: Bedürfnisse nach höherem Sinn –, die heutzutage kaum noch gestillt werden. Zweitens sind sie Gruppenwesen, die sich durch Abgrenzung von anderen definieren müssen.
Können Sie eine Gruppe, oder ein Verhalten oder eine Weltanschauung oder eine Person benennen, die generell als „schädlich“, als „unwissend“ als „rückständig“, also „böse“ oder als vom „Bösen“ befallen eingestuft wird? Und von wem und warum?
Zunächst, wie sich halbwegs von selbst versteht, der Neonazi und der notorische Antisemit. Davon gibt’s aber nicht so viele, deshalb gehört der Rechte per se in diese Kategorie, denn sonst hätte der Kampf gegen rechts ja keinen Sinn. Hier hat sich der Rahmen des Verdächtigen in den letzten Jahren erheblich ausgeweitet. Wer von sich sagt, er sei national oder patriotisch, ist mit dem Attribut „rückständig“ noch gut bedient. In französischen Schulen hängt die Trikolore im Klassenzimmer, auch wenn die gesamte Klasse schwarz ist. Hier ist das undenkbar, weil rückständig. Rückständig kann aber schon sein, wer sich für gutes Deutsch einsetzt. Für viele ist wiederum Amerika böse, zumindest bis vor kurzem böse gewesen. Die Wahl von Obama scheinen sie als eine Art Teufelsaustreibung zu empfinden, die Austreibung des Teufels George Bush. Die herrschende Obama-Idolatrie ist jedenfalls rational kaum erklärbar; welcher seiner hiesigen Fans wäre wohl imstande, über Obamas politisches Programm eine profunde Auskunft zu erteilen?
Welche gesellschaftliche – also befreiende, strafende, therapeutische – Funktion haben die ihnen bekannten Strategien des „Exorzismus“? Gegen wen richten sie sich? Wie wird der „Gegner“, der Sünder“, der „Feind“, der „Reaktionär“, der „Ungläubige“, der „Unwissende“, der „Schädling“ , der „Volksfeind“, der „Verräter“ definiert?
Von den kirchlichen Exorzisten der Vergangenheit haben wohl viele tatsächlich geglaubt, dass sie die Seele des Delinquenten retten. Bei den heutigen Exorzisten, um bei diesem Begriff zu bleiben, scheint mir eher die Rettung der eigenen Seele im Vordergrund zu stehen. Es geht vor allem ums gute Gewissen, darum, auf der richtigen Seite zu stehen. Man weiß ja heutzutage nicht mehr so genau, wofür und wogegen man eigentlich zu sein hat, die großen religiösen Themen sind für die meisten erledigt, aber das Bedürfnis nach Sinn ist geblieben. Unsere Gesellschaft muss sich ein paar gemeinsame Kriterien des Zusammenhalts schaffen, und das sind hier, also mit der höchsten moralischen Aufladung zumindest, Abgrenzungskriterien gegen den Nationalsozialismus und gegen rechts. Deswegen müssen immer wieder heimliche Rechte enttarnt und überführt werden, deswegen muss auch automatisch rechts sein, was böse ist, siehe Düsseldorf, Sebnitz, Potsdam, der Fall Mannichl. Moralisch fühlen sich die Ankläger auch dann noch im Recht, wenn sie faktisch Unrecht haben. Besonders aufgeklärt ist das nicht.
Anlässlich der Entlassung des Christian Klar ist viel über den von der RAF geführten „Befreiungskampf“ geschrieben worden. Kann man diesem Befreiungskampf als einen revolutionären „Exorzismus“, also Reinigung, als Therapie begreifen? Welche Impulse, glauben Sie, beflügeln ideologisch radikale Gruppen? Welches Menschenbild liegt ihnen zugrunde?
Das kann ich nicht beurteilen. Man darf, glaube ich, auch so simple Faktoren wie die spätpubertäre Lust am Indianerspielen, den Drang zur Zerstörung vorgefundener Strukturen, die jugendliche Vitalität und den jugendlichen Schwachsinn nicht vergessen. Ideologisch radikale Gruppen bestehen fast ausschließlich aus jungen Menschen, die der Meinung sind, die Welt sei verkehrt, und auf sie komme es jetzt an. Die philosophischen Ansichten eines jungen Menschen interessieren aber, wie Gomez Davila anmerkte, allenfalls seine Großmutter. Wer nichts zu sagen hat, muss besonders laut lärmen. Und wer einmal auf der radikalen Bahn ist, gelangt auch schon mal an dem Punkt, wo er alle Brücken hinter sich abbricht. Die Amoklauf-Logik sozusagen. Natürlich gehört ein gewisses Maß intellektueller Vernageltheit dazu, um die Sache überhaupt erst ins Rollen zu bringen. Wie aber die meisten 68er gezeigt haben, wirkt rechtzeitige Beförderung dem radikalen Impuls entgegen.
Kann es einen Kontext geben, in dem Sie selbst von „Besessenen“ oder „Besessenheit“ sprechen würden? Wovon ist der so „Besessene“ dann besessen? Ist es das „Böse“, verkleidet als das „Schädliche“, das „Verrückte“, das „Dumme“ und so weiter?
Besessenheit ist für mich, wenn einer niemals auf die Idee kommt, er könne unrecht haben. Einzig in der Kunst ist Besessenheit ein eher positiver Faktor, es gäbe sonst die großen Werke nicht. Im Politischen führt Besessenheit früher oder später ins Ideologische und in die Asozialität. Letztlich träumt der Besessene von diktatorischen Befugnissen, und natürlich wird jeder Besessene zu Protokoll geben, dass er gegen irgendetwas Böses oder irgendeine Dummheit kämpft.
Gibt es nach Ihrer Auffassung eine Tendenz zu mehr „Exorzismus“? Um welche gesellschaftlichen Bereiche handelt es sich gegebenenfalls dabei? Was ist Ihre Auffassung dazu?
Exorziert werden sollen langfristig wohl generell die Unterschiede zwischen den Menschen. Die Nationen sollen verschwinden, die Ränge, Stände, Klassen, sozialen Unterschiede, Geschlechtsunterschiede, Begabungsunterschiede. Womöglich ist das ein objektiver Prozess, die Menschen werden ja immer ähnlicher, ethnisch, kulturell, im Freizeitverhalten und so weiter. Es entspricht wohl dem Wesen der Gattung, dass der Exorzismus zunimmt, wenn er gesellschaftlich honoriert wird und zugleich auf nur geringen Widerstand trifft. Wer kein grundsätzlich Gleicher sein will, ist der Feind. Im Intellektuellen darf niemand mehr schillernd oder umstritten sein. Wenn Demokratie von der Staatsform zur Denkvorschrift wird, duldet sie nur noch Gleiche.
Der Exorzismus ist ein Teil jener vielfältigen Bemühungen, dem Menschen das „Böse“ auszutreiben. Könnten Sie sich vorstellen – und wie – solche Bemühungen aktiv zu unterstützen?
Nein. Gegen das unzweifelhaft vorhandene Böse haben Zivilisationen das Strafrecht entwickelt. Es mag zwar keinen Gott geben, aber die Erbsünde, sprich: die erbliche Sündhaftigkeit, existiert mit Sicherheit. Wer das Böse als solches abschaffen will, wird selber böse, auch wenn er ein noch so gutes Gewissen dabei hat. Fast alle, die im 20. Jahrhundert den Stacheldraht ausgerollt haben, hatten ein gutes Gewissen. Man kann allenfalls versuchen, das Böse in sich selber auszutreiben.
Wir, im Westen, leben in einer zunehmend liberalen Gesellschaft. Gegen diesen Liberalismus treten sehr verschiedene „fundamentalistische“ Bewegungen auf, innenpolitisch und außenpolitisch. Diese Bewegungen lassen sich nicht unbedingt nach „links“ und „rechts“, nicht nach „Okzident“ und „Orient“ unterscheiden. Kann man hier von einem „clash of civilizations“ sprechen, in dem der säkulare „Exorzismus“ eine Rolle spielt?
Den säkularen außenpolitischen Exorzismus hat George Bush im Irak und in Afghanistan versucht bzw. als Grund vorgeschoben, mit den bekannten Ergebnissen. Überhaupt sind die Frontverläufe recht unklar. Die Grünen zum Beispiel, die ja sehr säkular tun, treten für die Einwanderung sehr unsäkularer Völkerschaften ein, die von Geschlechter- und Homosexuellengleichstellung überhaupt nichts halten. Jahrelang haben linksliberale Leitartikler den deutschen Antisemitismus exorziert und zugleich die Einwanderung muslimischer Antisemiten wohlwollend kommentiert. Ich glaube übrigens nicht, dass wir in einer zunehmend liberalen Gesellschaft leben, sondern in einer zunehmend dekadenten. Nach der Dekadenz kommt aber normalerweise etwas Neues. Ich habe sozialistische Leiter erlebt, die nach dem Kollaps des Kommunismus die Marktwirtschaft predigten. Es würde mich wenig wundern, wenn demokratische Politiker plötzlich die Vorzüge der Scharia entdecken, wenn sich damit Wähler-Mehrheiten herstellen lassen.
P.S. Die Exorzismen lösen einander dermaßen zügig ab, dass man gar nicht so schnell auf dem Laufenden bleiben kann: Dieses Gespräch wurde vor der Kampagne gegen Benedikt XVI. geführt. Natürlich sind der hier nicht erwähnte Papst und die hier nicht erwähnte Katholische Kirche längst kaum mehr Auftraggeber als vielmehr Zielobjekt der Exorzisten. (Ich bin übrigens weder christlich noch wirklich katholisch, sondern nur angewidert.)