Geschichtsschreibung im herkömmlichen Sinn wird unmöglich, zieht der Historiker Ernst Nolte Bilanz. Was aber tritt an ihre Stelle?
Herr Professor Nolte, worin besteht, aus der Warte der Nachgeschichte, der Unterschied zwischen Gerhard Schröder und Odysseus?
Nolte: Odysseus durchlebte – wie alle Heroen Homers und wie zahlreiche wirkliche Herrscher seit dem Ende der Vorgeschichte – als erster Krieger seines Landes viele für ihn und sein Land gefährliche Konflikte; von Gerhard Schröder darf man umsichtige Entscheidungen erhoffen, sofern die Stabilität der atlantischen Weltzivilisation ungefährdet ist.
In Ihrem erklärtermaßen letzten großen Opus widmen Sie sich vorrangig einem Phänomen, das man in die saloppe Frage kleiden könnte: Macht die Geschichte Feierabend?
Nolte: Die Vorstellung einer „Nachgeschichte“ ist in mythologischen Erzählungen uralt – nicht, daß die Geschichte Feierabend macht, sondern daß sie erst gewissermaßen in ihr eigenes Wesen gelangt. Das ist bei Marx ja besonders deutlich, wo es heißt, die eigentliche Geschichte beginnt erst, wenn die Vorgeschichte abgeschlossen ist. Was Geschichte genannt wird, bezeichnet Marx bloß als Vorgeschichte.
Da ist die Nachgeschichte Verheißung. Es gibt aber auch weniger optimistische Versionen, wie etwa beim Philosophen Max Scheler, der schon in den 20ern mit kulturpessimistischem Akzent ein „Weltalter des Ausgleichs“ prophezeite.
Nolte: Ich versuche, mich von beiden Versionen, sowohl vom enthusiastischen „Vorausspringen“ wie von Niedergangsvorstellungen, fernzuhalten. Ich sage, daß die Nachgeschichte gerade durch eine nochmalige Intensivierung der Geschichte charakterisiert ist, die aber dadurch bestimmte Grundzüge gerade verliert. Die Dinge sind nicht mehr nur kompliziert und komplex, sondern superkomplex geworden, und deswegen kaum mehr zu veranschaulichen.
Zum Beispiel?
Nolte: Keine These wird heute in der Historiographie verächtlicher behandelt als die, daß große Männer die Geschichte prägen, aber das ist nun einmal charakteristisch für die Geschichte. Es wird nicht mehr charakteristisch sein für die Nachgeschichte, weil so viele Handlungsstränge existieren, daß die Konzentration auf einzelne große Persönlichkeiten wahrscheinlich nicht mehr möglich ist.
Nachgeschichte wäre also Nach-Geschichtsschreibung; zuviel Geschichte, als daß man noch darüber einen Überblick gewinnen könnte?
Nolte: Geschichtsschreibung im alten Sinn, also die von den großen Männern, von den Bewegungen der Heere und von den politischen und diplomatischen Ereignissen, wird immer weniger möglich. Es gibt der Vorgänge jetzt zu viele. Natürlich kann der Spezialist sie immer noch im Detail verfolgen, aber in einer zusammenfassenden Darstellung kann er ein Ganzes nicht mehr anschaulich machen. Vielleicht leistet sich künftig jedes größere Unternehmen seinen Haushistoriker, und der wird über Quellenmangel nicht klagen können. Studien werden selbstverständlich immer möglich sein, etwa wie sich diese Computerfima gegen jene durchgesetzt hat …
Was ist der Unterschied zur Schlacht bei Issos?
Nolte: Es ist subtiler, intellektueller, wenn Sie so wollen. Solche Darstellungen haben aber mit Geschichtsbewußtsein nichts zu tun. Geschichtsbewußtsein war bisher immer wesentlich partikular, das heißt: Bewußtsein von Klassen, Völkern oder Religionsgemeinschaften. Davon getrennt war die Geschichtsschreibung nie. Das nachgeschichtliche Geschichtsbewußtsein, wenn man eine so paradoxe Formulierung wählen darf, richtet sich gegen das altpartikulare Geschichtsbewußtsein, hat aber auch kein Verhältnis mehr zu demjenigen, was im altpartikularen Geschichtsbewußtsein an Übergreifendem, an, wenn Sie so wollen, Religiösem oder Universalem – aber eben nicht praktisch, sondern gedanklich Universalem – vorhanden war. Das praktisch Universale ist heute Tatsache geworden, das gedanklich Universale kümmert uns kaum mehr.
Also: Zivilisation siegt zuungunsten der Kulturen, Religion verliert zugunsten der Wissenschaft. Kein Fortschritt ohne große Verluste.
Nolte: Es ist nicht zu übersehen, daß an vielen Stellen meines Buches deutlich so etwas wie Trauer sichtbar wird. Daß ich etwa den Abschied Hektors von Andromache herausstelle als etwas zutiefst Menschliches, was aber an etwas zutiefst Schreckliches, nämlich an den Trojanischen Krieg, der ja ein Vernichtungskrieg war, gebunden ist.
Apropos Hektor: Sie schreiben, es werde kaum möglich sein, daß künftig irgendwer solch blutige Ereignisse mit derselben Unbefangenheit schildert wie Homer, also ohne moralische Entrüstung. Verlangen Sie nach einem Homer für das 20. Jahrhundert?
Nolte: Der sowjetische Historiker Dimitri Wolkogonow hat gesagt, es habe noch niemand versucht, die Geschichte der Sowjetunion mit dem Blut seines Herzens zu schreiben. Entweder habe man die Sowjetunion verherrlicht oder als etwas ganz Entsetzliches dargestellt, was ja auch richtig ist. Und ich habe gewagt zu schreiben, daß das auch für den Nationalsozialismus zutrifft. „Herzblut“ heißt natürlich nicht Bejahung. Sondern ernstnehmen, wahrnehmen, wie viele Verkehrungen in der Geschichte sich immer wieder vollziehen. Etwa wie sich der Aufstand gegen eine ungerechte Friedensregelung, der Kampf gegen Versailles, in neues Unrecht verkehrt. Wenn man in der Projektierung eines im Prinzip Richtigen „vorspringt“ – deshalb ist der Begriff „überschießen“ bei mir so häufig -, dann kann aus gut Gewolltem etwas schlecht Reales, und zwar in ganz ausgeprägtem Sinn, werden. Aber eben das kann man „mit Herzblut“ beschreiben.
Die Geschichte der SS mit Herzblut schreiben?
Nolte: Ich meine nicht die Bewacher der Konzentrationslager, sondern die Waffen-SS. Sie war wohl – übrigens ist das auch in Heinz Höhnes Buch „Der Orden unter dem Totenkopf“ zu lesen – der Höhepunkt des Kriegertums schlechthin. Gerade weil ich im Typ solchen Kriegern entgegengesetzt bin und mich von kleinauf an betontermaßen als Intellektuellen empfunden habe, mit all den Schwächen, die damit verbunden sind, muß ich sagen: Das kann man mit Herzblut beschreiben. Obwohl – ja weil – man weiß, daß die großen Waffentaten innerlich und bis zu einem gewissen Grad sogar äußerlich mit dem Extrem eines unritterlichen Verhaltens verknüpft waren, nämlich der Tötung von Wehrlosen, zumal von „Minderwertigen“ und Juden. Darin nahm eine riesige Epoche Abschied von sich selbst, die Epoche, die von nichts so sehr geprägt worden ist wie von adligen, kriegerischen Herrenschichten. Heute steht natürlich die moralische Aburteilung ganz im Vordergrund. Auf der anderen Seite, in Randgruppen, gibt es einen Hang zur Glorifizierung. Das ist beides zu simpel.
Zurück zur Nachgeschichte. Der französische Philosoph Antoine Cournot, von dem der Begriff „Posthistoire“ stammt, prophezeite eine „cristallisation sociale“. Offenbar schwebte ihm eine Welt vor, in der ungeheuer viel Leben stattfindet, aber keine Evolution mehr, kein Fließen der Gesellschaft, eben Kristallisation. Ist das ein qualitativer Unterschied zur Geschichte?
Nolte: Ich würde den Begriff Kristallisation vermeiden. Ein Kristall ist ein fester Körper, aber in Wirklichkeit haben wir eine totale Fluidität, eine ungeheure Fülle von Konstellationen und Konstellationenänderungen. Nehmen wir als Beispiel die sexuelle Revolution. Man empfindet in der Fülle der Erfahrungen mit wechselnden Liebespartnern am Ende nur noch das Gleichbleibende. Es ändert sich nichts Wesentliches. Insofern drängt sich dann die Vorstellung vom Mangel an Ereignissen auf, aber dieser Mangel ist gewissermaßen nur die Kehrseite der Überfülle. So ungefähr stellt sich auch das Verhältnis der Nachgeschichte zur Geschichte dar.
Ein, wie Sie es nennen, geschichtsbildendes „Existential“ ist die „ewige Linke“, die in historisch frühen Zeiten in Gestalt des „Aufbegehrens“ gegen soziale Ungerechtigkeit ihren Anfang nimmt. Was ist an ihr ewig?
Nolte: Es hat Zeiten und auch Länder gegeben, wo die Linke keine große Rolle spielte, weil zum Beispiel die herrschende Schicht selbst gewissermaßen dieser potentiellen Linken den Wind aus den Segeln nahm, etwa indem sie starke Morallehren einführte. Wenn eine Gesellschaft in dem Sinn human oder auch nur klug ist, dann mag der Stoß der ewigen Linken nicht erfolgen. Aber in vielen Fällen erfolgte er. Was ich als entscheidend ansehe, ist, ob sich das mit einer Vernichtungsdrohung verbindet. Nicht jeder Stoß der ewigen Linken schließt Vernichtungswillen gegenüber den bisher führenden Schichten ein. Aber wenn das der Fall ist, führt es fast immer zu Reaktionen gravierender Art.
Die Linke ist das Original, die Rechte ist die Reaktion?
Nolte: Nicht ganz. Die Rechte ist etwas, was nach meiner Auffassung nur im sogenannten liberalen System vorkommt, weil in dieser Gesellschaft eine Linke nicht nur in der Form von spontan aufflackernden Unruhen und Aufständen auftritt. Nur hier ist so etwas wie Kontinuität und Organisation der Linken möglich. Eine erste Linke dieser Art war ja in gewisser Weise die Aufklärung. Und als den ersten praktischen Vorstoß muß man die Französische Revolution bezeichnen. Schon vor der Französischen Revolution hatten die Herrschenden auf diese neue Herausforderung nicht energisch geantwortet. Daß dann auf einmal – aus der Mitte der Gesellschaft heraus, nicht aus dem Kreis der wirklich Herrschenden – sich Bewegungen entfalteten, die dieser Kritik am Bestehenden entgegentreten, das war der Anfang der Rechten.
Marcus Crassus, der Niederwerfer des Spartakus-Aufstands, ist noch kein Rechter?
Nolte: Nein. Crassus gehörte schlicht zu den Herrschenden. Bleiben wir in der Neuzeit. Da finden sich zum Beispiel im England der industriellen Revolution Leute, die gegen die damals schon recht entschlossen agierende Linke auftraten, sich dabei allerdings durch die herrschende Meinung moralisch ins Unrecht gesetzt fühlten. Diese Atmosphäre ändert sich in dem Augenblick, wo die Linke sich sozusagen überschlägt. In dem Augenblick etwa, wo sie, wie in Frankreich, den König und die Königin tötet. Das war ein wichtiger Stimmungsumschwung in Deutschland während der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts. Ein derartiger Umschwung kann zum Entstehen einer radikalen oder extremen Rechten führen.
Gehen wir weiter. War Adolphe Thiers, als er 1871 die Pariser Kommune niederschlug, ein originär Rechter oder nur ein Systemretter?
Nolte: Ich denke, alle Selbsterhaltungsaktionen der Staatsmacht sollte man nicht als extreme Rechte bezeichnen, es sei denn, sie stehen im Zusammenhang mit einer Volksbewegung. Meines Erachtens gehört diese als stärkeres Ingrediens dazu, und das kann man am besten im Italien Mussolinis sehen, wo eine Volksbewegung ihren Führer an die Spitze des Staates bringt. Der italienische Faschismus ist für mich ein Paradigma einer radikalen oder auch extremen Rechten, hauptsächlich deshalb, weil er ohne ein beachtliches Maß an schon vorhandener Demokratie gar nicht möglich ist.
Mussolini als originär Rechter, der sich dem Ansturm des Bolschewismus entgegenstemmt: Das erinnert etwas an die kommunistische These, daß der Faschismus das letzte Aufgebot der bürgerlichen Welt im Kampf gegen die Arbeiterklasse sei.
Nolte: Ich sehe diese These nicht so negativ, weil ich der Linken gar nichts vorwerfe oder sie für schlecht halte. Ohne die ständigen Stöße der Linken würde die Menschheit vielleicht noch in Kastengesellschaften leben. Nur ihre eigentlichen Ziele verfehlt die Linke immer.
Irgendwann errichtet die „ewige Linke“ Staaten, die Sowjetunion, die DDR, und ein Paradox dieses Schemas wäre, daß der Staat der Linken auch von Aufbegehrern, von „ewigen Linken“ quasi, bekämpft wird.
Nolte: Da sehen Sie ganz exemplarisch dasjenige, was ich die Verkehrung nenne und wovon die Geschichte voll ist. Man kann die Frage stellen, ob der Stalinismus jemals besiegt worden wäre, wenn nicht so viele überzeugte Linke abgesplittert wären. Einen Staat der Linken, der die Zustimmung aller Linken gefunden hat, hat es bisher nicht gegeben. Der Grundgedanke der ewigen Linken ist eben nicht der Staat, sondern die staaten- und klassenlose Gesellschaft, die Menschheitseinheit – die Nachgeschichte.
Und in der Gegenwart fällt der Part der Linken automatisch der Dritten Welt und ihrer fünften Kolonne in der Ersten Welt zu?
Nolte: Was heißt fünfte Kolonne? Ich würde einen so herabsetzenden Ausdruck nicht verwenden. Sie könnten auch sagen: ihre Vorkämpfer innerhalb der Ersten Welt. Die Dritte Welt ist im 21. Jahrhundert sozusagen in sich selbst die Linke, wobei man dann allerdings berücksichtigen muß, daß sie in sich schon differenziert ist. Aber sie ist im Vergleich zur Ersten Welt noch relativ undifferenziert und kann sich daher als Einheit empfinden. Als diese Einheit tritt sie mit Forderungen auf, die nicht unberechtigt sind. Daß ein reicher Westen völlig unvermittelt neben einer bitterarmen Dritten Welt stehenbleibt, ist keine haltbare Position. Die Linke innerhalb der Ersten Welt ist bestimmt, hier das Wort zu führen und Ausgleichsprozesse zu fördern.
Nur: Wenn sowohl diese Dritte-Welt-Linke wie auch deren Vorkämpfer bei uns sich etwa die Bolschewiki zum Vorbild nehmen und einen „bewaffneten Aufstand“ oder etwas ähnliches predigen, dann könnte in der Tat dasjenige zustande kommen, was ich Kontinentalfaschismus nenne, und das ist eine Zukunftsmöglichkeit, die man zu verhindern suchen sollte.
Auch im Interesse der Nachgeschichte …
Nolte: Diese Linke wäre die vermutlich letzte in der Geschichte vor dem Eintritt in die Nachgeschichte, aber wenn sie dieses „Überschießen“ an den Tag legen würde, dann dürfte die Nachgeschichte noch geraume Zeit auf sich warten lassen.
Erschienen in: Focus 53/1998, S. 72–76