Revolution gescheitert, Republik trotzdem verändert: Der Kulturbruch von 1968 hat Deutschland – je nach Standpunkt des Betrachters – ruiniert oder liberalisiert. Nun treten die Ex-Revoluzzer ab
Joschka Fischer wusste mal wieder Bescheid. „Es hat Ihnen nicht gepasst“, rief er in Richtung Opposition, als der Bundestag die Konsequenzen der Vertrauensfrage diskutierte, „dass eine demokratische linke Mehrheit, die sich auch auf die 68er-Bewegung bezieht, von den Deutschen gewählt wurde.“
Marsch, aus den Institutionen! Der Außenminister sprach in der Vergangenheitsform, und im Grunde spricht derzeit die gesamte Republik vom Projekt Rot-Grün unter historischem Aspekt. So konstatierte die „Zeit“: „Der Rückzug der Generation, die seit 1968 diese Gesellschaft in allen Bereichen prägte, hat begonnen“, während die „Welt am Sonntag“ schlagzeilte: „Die 68er haben sich selbst abgewählt.“ Wenn in diesem Herbst die Bundesregierung tatsächlich abtritt, wäre damit auch jener „lange Marsch“ beendet, den der Studentenführer Rudi Dutschke postuliert hatte.
Obwohl sie letztlich fehlschlug, hat die mit dem Datum 1968 etikettierte Kulturrevolution das geistige Klima der Bundesrepublik entscheidend beeinflusst. „Selbst die Gegner der Bewegung“, erinnert sich Klaus Rainer Röhl, damals Herausgeber des Linksblatts „konkret“ und Ehemann von Ulrike Meinhof, „hatten sich nach diesem einmaligen, kurzen Induktionsstrom, der durch die Gesellschaft fuhr, gewandelt.“
Die Frage ist nur: Wofür steht die Chiffre „68“? Wen schließt sie ein? Allein diejenigen, die in den Jahren 1944 bis 48 geboren sind und im fraglichen Zeitraum studiert haben? Dann kämen von den 304 Abgeordneten der Regierungskoalition ganze 77 in Betracht; dann wären Otto Schily, damals bereits Terroristenanwalt, Jürgen Trittin, erst etwas später K‑Gruppen-Mann, Joschka Fischer, erst etwas später Straßenkämpfer, keine 68er gewesen. Aber der Begriff meint keineswegs nur eine spezifische Altersgruppe, sondern einen „Kulturbruch und Mentalitätswandel“ (so der Berliner Publizist Jürgen Busche).
68er sein bedeutet nicht, Angehöriger einer Generation, sondern Träger eines Zeitgeists zu sein, der sich kritisch-antiautoritär-emanzipatorisch gibt und dessen Vertreter sich bei aller karrierebedingten Anpassungsbereitschaft nie ganz von der Idee verabschiedet haben, dass der Kapitalismus das falsche Wirtschaftssystem sei, die Bundesrepublik der falsche Staat und die Deutschen darin das falsche Volk.
Auch Angehörige der so genannten Generation der großen Brüder und später Geborene sprangen auf den gesinnungskonjunkturell viel versprechenden Zeitgeist-Zug. Einige sprangen wieder ab, ein paar wurden sogar Renegaten, wie der erwähnte Klaus Rainer Röhl, der den 68ern heute die „Zerstörung der Gesellschaft“ und den „Abbau aller Wertbegriffe“ vorwirft. „Ich hatte“, schreibt Röhl, dessen Kinder von RAF-Sympathisanten entführt wurden und in dessen Wohnung mehrfach linke Rollkommandos einfielen, „sehr viel Zeit, über die Folgen der von mir ausgelösten Politik nachzudenken.“
Die außerparlamentarische – tatsächlich eher antiparlamentarische – Opposition (Apo) durchsetzte die Medien, den Universitäts- und Kulturbetrieb, den linken Flügel der SPD, die Gewerkschaften und schließlich die Partei der Grünen. Während das Personal auf der Lok weitgehend dasselbe blieb, wechselten die Themen munter. Grün waren die 68er ursprünglich überhaupt nicht, feministisch noch weniger, und auch ihren rigide antipatriotischen Zug bekamen sie erst, nachdem sie die so genannte Vergangenheitsbewältigung als Karrierevehikel entdeckt hatten.
Aus der Rückschau wirkt die Beliebigkeit im Wandel der politischen Bekenntnisse grotesk. Joschka Fischer etwa widmete sich während der 70er-Jahre dem „Kampf gegen das Unterdrückungssystem“ und dessen „gestapoartige“ Polizeimethoden. „Stalin war so ein Typ wie wir“, schalmeite er 1977, „nicht nur, dass er sich auch als Revolutionär verstanden und gelebt hat, sondern er war im wahrsten Sinne des Wortes eben auch ein Typ.“ Im Grunde führt von diesem „Standpunkt“ so wenig ein Weg ins Auswärtige Amt einer Republik wie vom Machismo der Kommunarden zu den Frauenquoten der Grünen. Es funktionierte aber doch. Nur wie?
Eine Version nennt der Münchner Professor Franz Schneider. Viele 68er, so der Politologe, seien „im Spannungsfeld zwischen den Worten von gestern und den Werten von heute“ in einer „Reservatio mentalis“ geendet, das heißt: „Zwar gesellschaftliche Akzeptanz des Systems als zurzeit unumstößlich, aber verinnerlichte Ablehnung desselben (ohne sinnvolles Ersatzangebot) sowie abrufbare Aggressionsbereitschaft bei punktuellen Anlässen.“
Dieser Dauervorbehalt ließ sich hervorragend am Abend des Mauerfalls studieren, als sich die Volksvertreter im Bundestag spontan erhoben und die Nationalhymne sangen, während viele grüne Abgeordnete verstört bis pikiert dazwischensaßen. Während Dutschke 1961 noch gegen den Mauerbau demonstriert hatte, hielten es seine Adepten 28 Jahre später für sinnlos, eine Nation wiederzuvereinigen, die sie eigentlich abschaffen wollten. Ihnen galt die deutsche Teilung als verdiente Buße für die Verbrechen der Nazis, zumal die Mauer ja ihren Toskana-Reisen nicht im Weg stand.
Beim Amtseid des ersten rot-grünen Kabinetts verzichteten sieben der zukünftigen Minister sowie der Kanzler selbst auf die Formel „So wahr mir Gott helfe“, was – Atheismus hin, Hybris her – ebenfalls von einer Reservatio gegenüber der Tradition zeugt. Umweltminister Trittin ließ in seinem offiziellen Briefkopf aus der Zeile „Mitglied des deutschen Bundestag“ das Wort „deutsch“ streichen, und die Auftritte von Fischer und Schily vor dem Visa-Affären-Untersuchungsausschuss zeigten einmal mehr die Geringschätzung, welche die alten Kämpen nach wie vor gegenüber parlamentarischen Institutionen hegen.
Die Frage, was die 68er politisch überhaupt wollten, ist bis heute unbeantwortet. Was ihre Aktivisten von sich gaben, war oft staunenswerter Unsinn. Beispielhaft sind die Vorstellungen über die Zukunft Westberlins nach dem Sieg der Revolution, vorgetragen im Oktober 1967 von drei Vordenkern der Bewegung unter der Moderation von Hans Magnus Enzensberger. „Ein Großteil der Bürokraten“ werde „nach Westdeutschland emigrieren müssen“, hieß es da, es werde „einen obersten Städterat“ geben, dessen einzelne Räte „jederzeit wählbar und abwählbar“ seien, ferner „Räteschulen“, deren Lehrpläne von „Vollversammlungen der Betriebe“ bestimmt würden, „ganz Berlin wäre eine Universität“.
Was sie abschaffen wollten, war eindeutiger: die Familie, den Parlamentarismus, Eliten, die bürgerlichen Konventionen vom „Sie“ bis zum Talar, die Sekundärtugenden und natürlich das alte Bildungs- und Erziehungssystem. Und sie sind durchaus weit gekommen.
Der Slogan „Mehr Bildung für alle“ etwa, Beton geworden in Form der Gesamtschule, entpuppte sich als Generalangriff auf das Prinzip Leistung. So unfair es wäre, das Pisa-Dilemma allein den 68ern zuzuschreiben, so auffällig ist es, dass Bayern und Baden-Württemberg, wo der „lange Marsch“ auf Widerstand stieß, heute mit den besten Resultaten aufwarten. Das „Kursbuch 17“ vermittelt einen Eindruck von den pädagogischen Vorstellungen der 68er. Die Mitglieder der Kommune 2, unter ihnen der spätere Terrorist Jan-Carl Raspe, zeigen sich darin überrascht über „die Zähigkeit, mit der die Familie im Spätkapitalismus sich erhält“. Die Zerstörung der Kleinfamilie sei aber ein entscheidender Schritt auf dem Weg zum neuen Menschen.
Diese ungeheuer kritische „Generation“ war vor allem mythenschöpferisch tätig. Bevor sie abtritt, sollten vielleicht einige davon kritisch betrachtet werden.
Mythos Nummer eins: 1968 hat die Bundesrepublik liberalisiert.
Vom Anstoß einer „Fundamentalliberalisierung“ sprach der Soziologe Jürgen Habermas. Bei seiner Rede zum Staatsakt am 3. Oktober 1990 würdigte Richard von Weizsäcker den Beitrag der rebellierenden Studenten zur „Vertiefung des demokratischen Engagements“. Nun, mitunter geschehen Dinge einfach oder ironischerweise unbeabsichtigt. 68 sei keine Bürgerinitiative gewesen, sondern „Fundamental-Opposition gegen diese Gesellschaft“, widerspricht der Publizist und Historiker Gerd Koenen. Letztlich zielte der Angriff auf das gesamte System Bundesrepublik. „Liberal“ galt in Frankfurter und Berliner Studentenkreisen als Schimpfwort („liberaler Scheißer“), konservative Professoren wurden zusammengebrüllt und terrorisiert. Der spätere bayerische Kultusminister Hans Maier schrieb an Heinrich Böll, er könne allein aus seiner unmittelbaren Erfahrung politische Mobbing-Fälle anführen, „von denen drei mit Selbstmord endeten“.
Mythos Nummer zwei: 1968 beendete eine muffig-bleierne Ära.
Als die protestierenden Studenten auftauchten, hatte die antibürgerliche Jugendrebellion in den Ländern des Westens längst ihren Höhepunkt erreicht. Die Pille befand sich seit 1961 auf dem Markt, 1965 spielten die Rolling Stones auf der Berliner Waldbühne, die Beatles hatten sich bereits für immer ins Studio verabschiedet. Dass dieses zweite, politische „68“ gewissermaßen auf der Welle einer promiskuitiven und libertären Massenbewegung ritt, hat ihm seinen positiven Ruf verschafft. „Die Apo war Auswurf der Modernisierung, nicht ihr Auslöser“, resümiert der Göttinger Politologe Franz Walter; das adenauersche Biedermeier war längst Geschichte.
Mythos Nummer drei: Die 68er vertraten eine ganze Generation.
Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) zählte zwischen 1964 und 1970 bundesweit maximal 1500 Mitglieder. Zur berühmten Demonstration im Anschluss an den Internationalen Vietnam-Kongress in Berlin am 18. Februar 1968 kamen etwa 12000 Teilnehmer. Zum Vergleich: Anno 1995 demonstrierten doppelt so viele Münchner für längere Öffnungszeiten ihrer Biergärten. Der Kasseler Soziologe Heinz Bude schätzt, dass „die glorreiche Bewegung auf eine mobilisierbare Masse von ungefähr 10000 Leuten zurückgreifen konnte“. Das Etikett „68er“ scheint eher für eine Clique als für eine ganze Alterskohorte angebracht.
Mythos Nummer vier: 1968 leitete die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit ein.
Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hatte in Deutschland längst begonnen, mit Eugen Kogons „Der SS-Staat“, mit Walther Hofers Sammlung von NS-Dokumenten, mit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963/65. Rolf Hochhuths Theaterstück „Der Stellvertreter“ war 1963 erschienen. Er sei von Studenten bei öffentlichen Auftritten als Reaktionär beschimpft worden, weil er eine Hitler-Biografie schrieb, erinnert sich der Historiker Joachim Fest. „Deren Interesse wurde erst geweckt, als sie erkannten, dass sich die Nazi-Zeit instrumentalisieren ließ, um Angehörige der älteren Generation aus ihren Posten zu drängen.“
Mythos Nummer fünf: Friedliche Demonstranten trafen auf eine martialische Staatsgewalt.
In der Regel muss der Name Benno Ohnesorg bis heute für diese These herhalten – ein Polizeibeamter erschoss den demonstrierenden Studenten, angeblich aus Notwehr, am 2. Juni 1967. Dagegen sind die Namen Rüdiger Schreck und Klaus Frings – der Student und der Fotograf wurden am 15. April 1968 vor dem Münchner Buchgewerbehaus durch Steinwürfe aus den Reihen der Demonstranten getötet – naturgemäß nicht kanonisiert worden.
Mythos Nummer sechs: Die 68er waren antiautoritär, kritisch, freigeistig und aufgeklärt.
In Wahrheit hat keine demokratisch aufgewachsene Großgruppe derart viel Personenkult getrieben. 68er sein, das hieß, hinter Plakaten von Polit-Idolen herzulaufen und Texte von philosophischen Übervätern wie Katechismen zu zitieren. Allein der Kult um den Massenmörder Mao Tse-tung – mit Mao-Bibeln, Mao-Plaketten, Mao-Postern – entlarvt das Aufgeklärtheitsgerede als Lüge. Im „Kursbuch 13“ von 1968 beschrieb Hans Magnus Enzensberger die Zustände in der Bundesrepublik mit den Worten: „Der neue Faschismus ist längst Wirklichkeit.“ Nein, aufgeklärt waren die 68er nicht. Und wer von 68 redet, sollte vom Konformismus nicht schweigen.
Während die Sozialdemokraten ihr Hauptziel, die Reduzierung der Arbeitslosigkeit, dramatisch verfehlt haben, setzten die Grünen ihre politischen Prioritäten in die Tat um: Zuwanderungs- und Staatsbürgerschaftsgesetz, die Homo-Ehe, den Ausstieg aus der Kernenergie sowie, als Rohrkrepierer, das so genannte Antidiskriminierungsgesetz.
Was die 68er und ihre Erben neben allerlei Rüpeleien und Konventionsbrüchen außerdem in die deutsche Politik einführten, war ein erpresserisch-moralisierender Ton. Pragmatismus gilt seither als amoralisch, Patriotismus steht unter Faschismusverdacht. Sie haben den Weg bereitet für jede Art von Political Correctness, für jene „Tabuzüchtung im Dienste der Aufklärung“, wie es Martin Walser nannte, die viele hiesige Debatten in emotionale Aufwallungswettbewerbe verwandelt.
Typisch 68 war und ist außerdem die Verharmlosung linker Diktatoren. „Je mehr die Unverzeihlichkeit der Untaten von rechts exponiert wurde, desto mehr verschwanden die der Linken aus der Sichtlinie“, urteilt der Philosoph Peter Sloterdijk, selber ein 68er. Innenpolitisch hatte diese Rechts-links-Schieflage zur Folge, dass sich bis in die CDU hinein das Prinzip durchsetzte: Links ist satisfaktionsfähig, rechts ein Fall für den Verfassungsschutz. Wenn Gregor Gysi heute in einem Interview ohne Anflug von Ironie verkündet, es sei „Aufgabe aller Demokraten, rechte Parteien zu verhindern“, so bringt der PDS-Führer damit ein inzwischen mehrheitsfähiges Post-68er-Demokratieverständnis auf den Punkt, das eben keines ist.
Und das Positive? Vor 1968, meint Zeitzeuge Sloterdijk, „gab es in Deutschland kein Savoir-vivre“. Linker Hedonismus ist gesellschaftsfähig und die Republik levantisiert worden. Aus ihrer Sicht haben die 68er ohnehin alles richtig gemacht. Sie hatten Spaß, Sex, entdeckten Italien und Südfrankreich als Urlaubsrefugien für sich, und sie müssen die Folgen des von ihnen angestoßenen Mentalitätswandels sowie der daraus resultierenden Politik nicht tragen. Sie gehören zur letzten Generation, die in die Vollbeschäftigung hineinwuchs und die von jenem Staat, den sie immer ablehnten, eine Rente beziehen wird.
Erschienen in: Focus 31/2005, S. 46 – 50; Co-Autor: Martin Scherer