„Flachshaarige Hexen”

Die Mas­sen­ver­ge­wal­ti­gun­gen deut­scher Frau­en durch Rot­ar­mis­ten 1945, heißt es, waren Ver­gel­tung für die deut­schen Kriegs­ver­bre­chen. Stimmt das?

 

Der Film „Anony­ma“, der die­ser Tage in den Kinos ange­lau­fen ist, schil­dert die Ver­ge­wal­ti­gun­gen deut­scher Frau­en und Mäd­chen durch Sol­da­ten der Roten Armee am Ende des Zwei­ten Welt­kriegs – ein ideo­lo­gisch ver­min­tes The­ma. Die Kri­tik fand den Strei­fen nahe­zu geschlos­sen melo­dra­ma­tisch bis kit­schig; er hin­ter­las­se den Ein­druck, spöt­tel­te der Publi­zist Alan Pose­ner, als „habe die Gesell­schaft für deutsch-sowje­ti­sche Freund­schaft Regie geführt“. 

Der Film schil­dert, wie sich eine jun­ge Ber­li­ne­rin, gespielt von Nina Hoss, um wei­te­ren Schän­dun­gen zu ent­ge­hen, einen rus­si­schen Offi­zier als Beschüt­zer sucht, dem sie natür­lich gewis­se Gegen­leis­tun­gen bie­ten muss. Die­se geziel­te Unter­wer­fung führt dazu, dass sie das Ver­hal­ten der Sie­ger schließ­lich ver­steht und sich in den Offi­zier bei­na­he ver­liebt – was in Wirk­lich­keit, wenn über­haupt je, nicht oft vor­ge­kom­men ist.

Was der Film nicht schil­dert, sind Ereig­nis­se wie jenes: Am 3. Mai 1945 besucht die Jour­na­lis­tin Mar­gret Boveri eine Freun­din. Was sie vor­fin­det, ist eine um Jah­re geal­ter­te Frau „mit blut­un­ter­lau­fe­nen Augen und schwar­zen Fle­cken im Gesicht und einem Loch im Schä­del in der Stirn … Die Vor­der­zäh­ne sind ihr ein­ge­schla­gen.“ Ihre Freun­din war mehr­fach miss­braucht und zusam­men­ge­schla­gen wor­den. Die Nach­ba­rin hing mit­samt ihren vier Töch­tern, acht bis 14 Jah­re alt, sowie einer wei­te­ren Frau mit Kind im Kel­ler des Hau­ses. „Die Frau­en waren aber nicht durch das Erhän­gen getö­tet wor­den, son­dern vor­her ver­ge­wal­tigt und übel zuge­rich­tet worden.“

Der Film zeigt auch nicht die in der gleich­na­mi­gen Buch­vor­la­ge geschil­der­te Erschie­ßung eines Rechts­an­walts, der wäh­rend der Nazi-Zeit sei­ner jüdi­schen Frau bei­gestan­den hat­te und nun ster­bend zuse­hen muss­te, wie Rot­ar­mis­ten sie schän­de­ten. Der Film zeigt kei­ne jener viel­fach bezeug­ten extre­men Grau­sam­kei­ten, etwa: „Da ist ein Vater, der sein Kind, ein jun­ges Mäd­chen, schüt­zen will. Mon­go­len sto­ßen ihm das drei­kan­ti­ge Bajo­nett in den Leib. Die Rus­sen ste­hen dut­zend­wei­se Schlan­ge vor den ein­zel­nen Frau­en. In ihrer Gier mer­ken sie nicht, daß man­che schon im Ster­ben lie­gen, weil sie Gift genom­men haben oder an zer­ris­se­nen Orga­nen ver­blu­ten.“ Man habe sich bemüht, so Pro­du­zent Gün­ter Rohr­bach, „den rus­si­schen Sol­da­ten Gerech­tig­keit wider­fah­ren zu lassen“.

Als im Okto­ber 1944 die ers­ten Ver­bän­de der Roten Armee deut­sches Reichs­ge­biet betra­ten, „hub ein Rau­ben, Mor­den, Schän­den und Met­zeln an, das auch neu­tra­len Betrach­tern die Vor­stel­lung der alt­mon­go­li­schen Hor­de ein­flöß­te“, schreibt der Ber­li­ner His­to­ri­ker Jörg Fried­rich. Gemein­hin wer­tet man die Ver­bre­chen der Roten Armee als Ver­gel­tung für die deut­schen Gräu­el in der Sowjet­uni­on – und wer wird die­se Ursa­che leug­nen wol­len? Aller­dings gibt es gute Grün­de, sie nicht iso­liert daste­hen zu lassen.

„Ver­ge­wal­ti­gun­gen tra­ten über­all auf, wo die Rote Armee über Fein­de her­fiel“, erklärt lako­nisch die eng­li­sche His­to­ri­ke­rin Cathe­ri­ne Mer­ri­da­le in ihrem Buch „Iwans Krieg“. Die Sowjet­trup­pen führ­ten sich in den Län­dern, die sie von den Nazis „befrei­ten“, eben­falls wie Bar­ba­ren auf, sie mor­de­ten, plün­der­ten und schän­de­ten im Bal­ti­kum genau­so wie auf dem Bal­kan, und als sich der jugo­sla­wi­sche Kom­mu­nist Mil­o­van Dji­las bei Sta­lin beschwer­te, frag­te der, was denn schon dabei sei, wenn sich ein Sol­dat „mit einer Frau amü­siert, nach all den Schrecknissen“.

Nach der Ein­nah­me Buda­pests im Febru­ar 1945 wur­den unga­ri­sche Mäd­chen mas­sen­haft in sowje­ti­sche Quar­tie­re ver­schleppt, mehr­fach ver­ge­wal­tigt und manch­mal auch getö­tet. Maro­die­ren­de Rot­ar­mis­ten über­fie­len sogar das Gebäu­de der schwe­di­schen Gesandt­schaft und ver­gin­gen sich an den Frau­en dar­in, unge­ach­tet ihrer Natio­na­li­tät. Die 2. Ukrai­ni­sche Front, in der zahl­rei­che frei­ge­las­se­ne Kri­mi­nel­le dien­ten, zog „von Buda­pest bis Pil­sen eine brei­te Spur von Ver­ge­wal­ti­gung und Mord“, schreibt der His­to­ri­ker und Stan­ford-Pro­fes­sor Nor­man M. Nai­mark. Auch die Frau­en der pol­ni­schen Ver­bün­de­ten blie­ben nicht verschont.

„Viel scho­ckie­ren­der für Rus­sen aber ist, dass Offi­zie­re und Sol­da­ten der Roten Armee sich auch an ukrai­ni­schen, rus­si­schen und weiß­rus­si­schen Frau­en und Mäd­chen ver­grif­fen, die aus deut­scher Zwangs­ar­beit befreit wur­den“, notiert der eng­li­sche His­to­ri­ker Ant­o­ny Bee­vor in sei­nem Buch „Berlin1945: Das Ende“. Die­se „ver­brei­te­ten Vor­komm­nis­se“, so Bee­vor, „füh­ren alle Ver­su­che ad absur­dum, das Ver­hal­ten der Roten Armee mit Ver­gel­tung­für das bru­ta­le Vor­ge­hen der Deut­schen in der Sowjet­uni­on zu recht­fer­ti­gen.“ Zumin­dest schrän­ken sie die­ses Motiv ein.

Gegen das fixe Bild der Rache für erlit­te­nes Leid spricht auch, dass Augen­zeu­gen­be­rich­ten zufol­ge asia­ti­sche Trup­pen­tei­le – die aus Gebie­ten kamen, wohin kein Deut­scher den Stie­fel gesetzt hat­te – oft eben­falls grau­sam wüte­ten, und dass die Ver­ge­wal­ti­gun­gen nach dem Kriegs­en­de in man­chen Regio­nen noch lan­ge wei­ter­gin­gen. Bis ins Jahr 1947 muss­te man damit rech­nen, dass „jedes neu ein­rü­cken­de Trup­pen­kon­tin­gent sei­nen Ein­stand mit Gewalt­or­gi­en fei­er­te“ (Nai­mark). So mel­de­te der Poli­zei­be­richt aus Mer­se­burg über die Fei­ern zum 1. Mai 1946: „Die weib­li­chen Bewoh­ner wer­den ohne Rück­sicht auf ihr Alter nach schwers­ten Miß­hand­lun­gen im Anschluß an die Aus­plün­de­rung ihrer Woh­nun­gen vergewaltigt.“

Und wie ver­hielt sich Sta­lin dazu? Indi­vi­du­el­le Rache­be­dürf­nis­se sei­ner Sol­da­ten haben ihn nie inter­es­siert – den Völ­ker­mör­der im Kreml lei­te­ten allein geo­stra­te­gi­sche Moti­ve. Als sich das Kriegs­ziel der Roten Armee von „Befrei­ung der Hei­mat“ in „Zer­schla­gung Hit­ler-Deutsch­lands“ wan­del­te, muss­te der all­ge­mei­nen Kamp­fes­mü­dig­keit mit Ver­hei­ßun­gen ent­ge­gen­ge­wirkt wer­den. So erfuh­ren Wehr­machts­ver­neh­mer von gefan­ge­nen Rot­ar­mis­ten, dass ihnen Polit­of­fi­zie­re die deut­schen Frau­en als Beu­te ver­spro­chen hatten.

Indem sie Angst und Schre­cken ver­brei­te­te, for­cier­te die Rote Armee außer­dem die Flucht der Deut­schen aus den Gebie­ten, die den Abspra­chen der alli­ier­ten Füh­rer gemäß nach Kriegs­en­de Polen und Tsche­chen zufal­len soll­ten. Nicht zuletzt ver­stärk­ten die Mas­sen­ver­ge­wal­ti­gun­gen – denen die Män­ner zuschau­en muss­ten, ohne ihre Frau­en und Töch­ter schüt­zen zu kön­nen – die Demo­ra­li­sie­rung Deutsch­lands, was einen Sinn ergibt vor dem Hin­ter­grund, dass Sta­lin lan­ge davon aus­ging, der eins­ti­ge Aggres­sor wer­de als unge­teil­ter, neu­tra­ler Staat fortexistieren.

„Ohne Zwei­fel hat Mos­kau die Taten der Män­ner geför­dert, wenn nicht gar gesteu­ert“, befin­det His­to­ri­ke­rin Mer­ri­da­le. Dazu, sich beson­ders im deut­schen Osten wie eine Tata­ren­hor­de auf­zu­füh­ren, waren die Sowjet­trup­pen mas­siv auf­ge­hetzt wor­den. „Die­se Krea­tu­ren sind kei­ne mensch­li­chen Wesen. Sie sind schreck­li­che Para­si­ten. Sie sind schäd­li­ches Unge­zie­fer“, schrieb Sta­lins Chef­pro­pa­gan­dist Ilja Ehren­burg bereits im Som­mer 1941 über die Angrei­fer. „Die Deut­schen sind kei­ne Men­schen“, erklär­te er im Okto­ber 1942. „Die­sen Stamm ver­nich­ten wir.“ Oder: „Es ist nicht damit getan, Deutsch­land zu besie­gen. Es muß aus­ge­löscht wer­den.“ Über die deut­sche Frau schrieb er: „Das Weib die­ser Gat­tung war­tet in sei­ner Höh­le auf Beu­te“, und: „Die­se spe­zi­el­le flachs­haa­ri­ge Hexe wird uns nicht so leicht entgehen.“

Viel­fach bezeugt ist, dass Ehren­burgs Tex­te als so „hei­lig“ gal­ten, dass die Sol­da­ten sie nicht ein­mal zum Ziga­ret­ten­dre­hen ver­wen­de­ten. Sei­ne Hass­ge­sän­ge wur­den mil­lio­nen­fach gele­sen, rezi­tiert – und ver­stan­den. „Man braucht sie nicht zu über­re­den, ein­fach den Nagan (Revol­ver – d. Red.) ange­setzt und das Kom­man­do Hin­le­gen, erle­digst das Geschäft und gehst wei­ter“, schrieb ein rus­si­scher Sol­dat aus Ost­preu­ßen. Es habe „unse­ren Jungs eine gewis­se Befrie­di­gung berei­tet, die­sen Her­ren­volk-Wei­bern ein­mal gründ­lich ein­zu­hei­zen“, erklär­te Gene­ral­leut­nant Was­si­li Soko­low­ski am 5. Juni 1945 in einem Inter­view. Offi­zie­re, die sich für die Scho­nung deut­scher Zivi­lis­ten ein­setz­ten, wan­der­ten dage­gen ins Gefäng­nis; die bei­den pro­mi­nen­tes­ten Bei­spie­le waren Alex­an­der Sol­sche­ni­zyn und Lew Kope­lew.

Nicht indi­vi­du­el­le Rächer kamen in ers­ter Linie 1945 nach Ost- und Mit­tel­deutsch­land, son­dern der Sta­li­nis­mus als Sys­tem. Vie­le Rot­ar­mis­ten, bilan­ziert Russ­land-Ken­ne­rin Mer­ri­da­le, mach­ten im Fein­des­land auch jenem Schmerz Luft, „der nicht erst im Krieg selbst, son­dern schon in den Jahr­zehn­ten der Demü­ti­gung, Ent­mün­di­gung und Furcht“ zuvor ent­stan­den war.

 

Erschie­nen in: Focus 45/2008, S. 52–54 

 

 
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