Kaliningrad ist weder eine Stadt für Feministen noch für Preußen-Nostalgiker. Vielleicht heißt sie aber bald wieder Königsberg
Einer Personengruppe wird von der Reise in diese Stadt dringend abgeraten. „Menschen mit stark feministischen Ansichten“, meint zumindest der auf Osteuropa spezialisierte Online-Reiseführer inyourpocket.com, sollten besser wegbleiben; eine Nacht in Kaliningrad könne ihr „schlimmster Albtraum“ werden.
Verglichen mit den Albträumen, die sich vor 60 Jahren am Pregel tatsächlich abspielten und dazu führten, dass aus Königsberg Kaliningrad wurde, wäre das freilich ein Wechsel ins Versöhnliche. Immerhin hat das Schicksal dieser Stadt in der Geschichte der Neuzeit nicht seinesgleichen. Obwohl sie im 13. Jahrhundert gegründet wurde, kann heute kein Einwohner über 30 behaupten, dass seine Großeltern an diesem Ort zur Welt kamen. Die Bevölkerung wurde 1945 bis 1948 komplett ausgetauscht: die alte vertrieben und ermordet, die neue zusammengewürfelt aus menschlichem Treibgut des großen Krieges — das deutsche Karthago.
Die Grenze, die den Kaliningrader Regierungsbezirk — vulgo: Oblast — seither von Polen scheidet und das einstige Ostpreußen teilt, verläuft so schnurgerade wie sonst nur Demarkationslinien zwischen Wüstenstaaten; Stalin hat sie angeblich mit Hilfe seiner Pfeife quer über die Landkarte gezogen. Am russischen Übergang geht es zunächst eher feministisch korrekt zu: Hier arbeiten überwiegend Frauen, und sie schauen vorbildlich abweisend. Welche Papiere warum ausgefüllt werden müssen, versteht auch die Dolmetscherin nur nach mehrmaliger Nachfrage. „Wir können nichts dafür“, erklärt eine Zöllnerin, „die Regierung will das so.“
Ein Motorradfahrer aus Deutschland tut zwei weiblichen Grenzbeamten seine Verzweiflung mimisch mitreißend kund, doch in deren Dominagesichtern leuchtet keinerlei Verständnis auf. Für ihn wird es halt ein bisschen länger als die üblichen drei bis vier Stunden dauern.
Sind die phlegmatischen Zerberusse schließlich passiert, entschädigt eine Landschaft, wie mancher sie aus alten Büchern kennt, für alle Warterei: endlose menschenleere Wiesen, Felder — inzwischen meist unbewirtschaftet —so weit das Auge reicht, durchzogen von Baumalleen, überkuppelt vom typisch ostpreußischen Himmel (sehr weit, sehr hellblau und mit Schäfchenwölkchen gesprenkelt). Und man riecht bereits das Meer.
Auch wenn in den Randbezirken einiges an historischer Bausubstanz überdauert hat, Villen vor allem: Kaliningrad ist eine durch und durch sowjetische Stadt, die auch irgendwo in Sibirien stehen könnte. Beton, Beton, Beton — und Straßen, dass die Achsen ächzen. Ein Albtraum für Feministen? Eher für Ästheten. Aber da kommen auf dem holprigen Gehweg zwei Dewuschkas daher, neben denen aufzufallen Paris Hilton kaum Chancen hätte. Ihr fabelhafter Gang hat ersichtlich mit jenen gut und gern sieben Zentimetern Absatz zu tun, auf welchen er zelebriert wird. Irgendwo muss ein Casting stattfinden.
„Quatsch“, sagt die Dolmetscherin, „die laufen hier alle so rum.“
In der Tat gewinnt der Reisende zunehmend den Eindruck, dass die höchst unpittoreske Plattenbauöde nur eine Art Hintergrundfolie für den Schaulauf ihrer in großer Zahl auf High Heels daherkommenden und verblüffend gut gewachsenen Bewohnerinnen bildet. Ohne Einbuße an Grazie überstöckeln sie Straßen, auf denen der Begriff „Schlagloch“ für europäische Friedenszeiten letztgültig definiert wird. Dass auch die Autos diesen Trichtern ständig ausweichen müssen, mag einer der Gründe dafür sein, warum der Verkehr etwas orientalisch anmutet.
Die Verkehrsmittel indes unterscheiden sich kaum von jenen in einer vergleichbaren deutschen Stadt — die Wagen etwa vorm angesagten „First Café“, wo sich die Nachwuchs-Schickeria trifft, könnten auch in München vor „Käfer“ stehen. Die Supermärkte sind bestens bestückt und rund um die Uhr geöffnet, in der Innenstadt reiht sich eine Boutique an die nächste, Gucci und Armani inbegriffen. Bettler und Trinker sind für russische Verhältnisse selten. Arm wirkt diese Stadt keineswegs.
„Konsumiert wird hier ohne Ende“, versichert Guido Herz, 56, mit einem sanften Beiklang von Regionalstolz. Der deutsche Generalkonsul sitzt im Restaurant „Zwölf Stühle“, das ein bisschen zu dunkel und ein bisschen zu plüschig, aber irgendwie urig ist wie so ziemlich alle Lokale hier. Und gut gefüllt. Immerhin, so Herz, herrsche Vollbeschäftigung, Kaliningrad werde „systematisch gepäppelt“. Was möglicherweise damit zusammenhängt, dass Putins Frau Kaliningraderin ist. Der Oblast mit seiner überwältigenden Küste ist sowohl Wirtschafts- als auch Tourismussonderzone, das heißt, es gibt erhebliche Einfuhr- und Steuererleichterungen für im Gebiet ansässige Unternehmen und staatliche Zuschüsse für die Infrastruktur. Überdies, so Herz, werde der Hafen zum Tiefseehafen ausgebaut, und wenn, wie angekündigt, demnächst in ganz Russland das Glücksspiel verboten wird, soll in der Nähe der Stadt eine von vier „Spiel-sonderzonen“ entstehen, in denen Zocken erlaubt ist. Schon macht der griffige Slogan „Las Vegas an der Ostsee“ die Runde.
Im „Kronprinz“, einer Mischung aus Diskothek und Restaurant, schwant dem Gast andeutungshalber, was damit gemeint sein könnte. Hier tanzen unter anderen Ludmila, 28, und Elena, 27, zwei Blondinen von beträchtlicher Attraktivität. Russische Popmusik unterbricht immer wieder den englischsprachigen Welteinheitssound und passt auch besser zum Wohnzimmerambiente. Die Männer auf den Sofas, die den tanzenden Frauen zuschauen, mögen etwa zur Hälfte Ausländer sein (ein Begriff, der hier positiv besetzt ist), und sie wirken zur Gänze albtraumfrei.
„Warum tragen hier fast alle jüngeren Frauen von früh bis spät High Heels?“
„Es macht die Beine länger“, antwortet Ludmila weise.
„Aber die sind doch schon so lang! Für wen sollen sie denn noch länger scheinen?“
„Für mich.“
„Nicht für die Männer?“
„Nein, für mich.“
„Und warum?“
„Ich fühle mich besser so.“
Nun, dergleichen bekommt man auch in Moskau oder St. Petersburg geboten. Die Schönheit der Kaliningrader Frauen sei dennoch „frappierend“, bestätigt Olga Sezneva, eine gebürtige Kaliningraderin, die heute an der Universität Chicago Soziologie lehrt. Ob eine spezielle genetische Disposition vorherrsche, wolle sie nicht entscheiden, das Phänomen sei eher ein kulturelles und im Übrigen mehr oder weniger gesamtrussisches. „Die Frauen richten sich nicht her, um sich erfolgreich zu verheiraten, denn die Verheirateten hören ja nicht auf damit, und sie tun dies nicht in erster Linie für die Männer. Die meisten sagen, die Anerkennung ihrer Attraktivität durch andere Frauen sei ihnen wichtiger.“
Körper und Aussehen, führt die Soziologin weiter aus, seien der Hauptweg, um auf Menschen Eindruck zu machen. Anders als im Westen, wo eine formale Gleichheit der Interaktionspartner herrsche, seien in Russland alle Beziehungen sehr informell und persönlich. Einen Service zu erhalten sei nicht das Recht des Konsumenten, sondern ein Vorteil, den ein Mensch „dank besserer Ressourcen“ erwerbe, zu denen auch die Attraktivität gehöre. „Schönheit ist eine ästhetische Waffe, sie zerstört die Gleichgültigkeit, mit der einem die anderen begegnen. Sie beansprucht Raum und zieht das Auge auf sich.“
So kommt es, dass viele Kaliningraderinnen zum Kaffeetrinken oder zum Fischmarkt gehen und dabei so raumbeanspruchend ihre Waffen präsentieren, wie es Westeuropäerinnen allenfalls tun, wenn sie hören, Brad Pitt sei in ihrer Stadt. Das, versichert eine Rentnerin, sei hier schon immer so gewesen, sie habe sich als junges Mädchen sogar geschminkt, bevor sie den Mülleimer nach draußen brachte. Merkwürdigerweise gucken die einheimischen Männer den vorbeidefilierenden Schönheiten nicht hinterher. Zugleich laufen die meisten dieser Iwans und Anatolijs herum, als habe die Zivilisation nur die eine Hälfte der Bevölkerung erfasst. Das Kaliningrader Paarungsverhalten bleibt teilweise äußerst rätselhaft.
In gewissem Sinne rätselhaft bleibt auch die lokale Identität. Als die Stadt 2005 ihr 750. Jubiläum feierte, geschah dies unter dem absurden Motto “750 Jahre Kaliningrad“, das Putin zuerst als historisch unsinnig abgelehnt, dann aber aus innenpolitischen Rücksichtnahmen durchgewunken hatte. Die Einheimischen waren da feinsinniger; auf vielen Plakaten zu Einzelveranstaltungen stand geschrieben “750 Jahre unsere Stadt“. Königsberg rumort quasi im kollektiven Unterbewusstsein, immer mal wieder flammen Umbenennungsdebatten auf — ein Vorschlag lautete „Kantgrad“ —, nur nach wie vor trägt die Stadt den Namen jenes veritablen Schurken, der 1932, als Stalin seinen Hungermassenmord an den Ukrainern vollzog, in seiner Eigenschaft als Staatspräsident die „politischen Betrüger“ und „zynischen Elemente“ beschimpfte, die Hilfe für die Ukraine forderten, oder im März 1940 sein Plazet zur Ermordung von 26000 gefangenen polnischen Offizieren gab.
Die Universität heißt seit 2005 Staatliche Russische Kant-Universität. Das Geburtshaus des „Alleszermalmers“ (so sein Kollege Moses Mendelssohn) hat den alles zermalmenden Krieg so wenig überstanden wie die gesamte Innenstadt. Die Straße, in der jener Mann aufwuchs, der forderte, jeder Erdenbürger möge sich so verhalten, dass sein Handeln Richtschnur allgemeiner Gesetzgebung sein könne, existiert nicht mehr, an ihrer Stelle verläuft ein zentraler Prospekt, der den Namen des welthistorischen Bandenchefs und genickschussfreudigen Säkularmessias Lenin trägt. Aus der Uliza Bagrationa wird plötzlich eine Uliza Dscherschinskowo (auf Deutschland umgemünzt würde dies etwa bedeuten, dass man aus der Blücher- in die Heydrich-Straße biegt), und am Schlossteich erinnert ein Denkmal an den U‑Boot-Kommandanten Alexander Marinesko — das ist der Mann, der die „Wilhelm Gustloff“ versenkt hat.
Im „First Café“ wiederum sind Wände, Decken und Tische mit vergrößerten historischen Königsberg-Fotografien dekoriert. Solche Bilder findet man auch an den Wänden im Hotel „Kaliningrad“ oder an jenem Zaun in der Innenstadt, hinter welchem Ausgräber die Fundamente des Preußenschlosses freilegen — es gibt sogar Pläne, den „Hort des Militarismus und der Reaktion“, wie es im UdSSR-Sprech hieß, wieder aufzubauen. Er könne sich vorstellen, dass Kaliningrad irgendwann wieder Königsberg heiße, erklärt Konsul Herz, das sei „ein guter alter Markenname“.
Als die Einwohner im April 2007 befragt wurden, welches Wahrzeichen ihrer Stadt ihnen am wichtigsten sei, antworteten die meisten (36 Prozent): der — deutsche — Dom. Für die vergangenes Jahr eingeweihte russisch-orthodoxe Erlöser-Kathedrale votierten 17 Prozent. Es folgten das — deutsche — Königstor (14 Prozent) und das Kant-Grab (acht).
Da der Philosoph an der Nordwestecke des Doms ruht, darf die Dominsel als herausragende Attraktion gelten. Frischvermählte legen ihren Brautstrauß immer häufiger am Grab des weltbekannten Denkers statt an jenem des Unbekannten Soldaten nieder. Hier, vom Pregel umflossen, der heute Pregolja heißt, stand einst auch Kants Wohnhaus, während sich am anderen Ufer des Flusses, auf einer kleinen Anhöhe, das Schloss erhob. Heute bedeckt ein Park die Insel, und außer dem Dom ist kein historisches Gebäude mehr übrig.
Verschwunden ist bekanntlich auch das Schloss. Wo es war, befindet sich eine Brache, an deren Rand ein absonderliches Betonmonstrum wuchtet, ein vielfenstriger Doppelquader, halb Science-Fiction, halb Ostberliner Platte, das „Haus der Räte“ (Dom Sowjetov).
Skurrilerweise hat niemals ein Mitglied der Gebietsregierung oder ‑parteileitung das Rathaus betreten. Als die Genossen 1968 die Ruine des Preußenschlosses sprengen ließen, begann mit einer Art weltgeschichtlichem Ätsch der Baugrund nachzugeben, der neue Regierungssitz neigte sich sachte gen Pregel und hinterließ die Räte fortan ratlos. Nur ein paar Obdachlose haben eine Zeit lang die unteren Etagen bevölkert; heute sind die Eingänge zugemauert. Seit beinahe 40 Jahren steht im Stadtzentrum eine Neubauruine. Spätestens vor dieser stellt sich die Frage, ob dem Schönheitssinn der Kaliningraderinnen nicht auch etwas Kompensatorisches innewohnt.
Allerdings muss irgendwer vorhaben, die Damen vom Thron ihrer Absätze in die, wie Soziologin Sezneva formuliert, „formale Gleichheit westlicher Markt-Akteure“ zu schubsen. Ein Gang durch die Schuhgeschäfte zeigt ein bedrohtes Paradies — manche Schlappen sehen aus, als bekomme man ein „Emma“-Gratisabo dazu. Durch die unvermeidliche Anpassung an den Westen, prophezeit Sezneva unerbittlich, werde der kollektive weibliche Attraktivitätsausreizwille in Zukunft abnehmen.
Bis dahin gilt auf dem Boden, welchem der kategorische Imperativ entwuchs, aber noch eine Weile der ästhetische.
Erschienen in: Focus 28/2007, S. 114–118