Anlässlich des Todes von Benedikt XVI. und angesichts des den meisten Nachrufen beigemischten Giftes gestatte ich mir, hier einen Artikel einzurücken, den ich vor knapp zwölf Jahren unter der Überschrift „Viva Benedetto!” im Focus veröffentlicht habe, genaugenommen im Heft 39/2011. Er hat, wie man sagt, nichts von seiner Gültigkeit verloren, was Sie leicht daran erkennen können, dass solche Texte heute in keinem Wahrheits- und Qualitätsmedium mehr erscheinen.
Der Atheismus wird immer geistloser, die Papstkritik immer peinlicher. Ein Bekenntnis zum Katholizismus ist – sogar für einen gottlosen Nichtchristen – inzwischen eine Frage des guten Geschmacks
Eigentlich hat mich die katholische Kirche nie sonderlich interessiert. Aber wenn ich mir die Zusammensetzung ihrer Gegner ansehe und das „kritische“ Geplärr registriere, das den Papstbesuch begleitete, komme ich nicht umhin, die Kurie zu bewundern. Wer den Zorn dieser Leute auf sich zieht, muss vieles richtig machen. Wobei der Begriff „Gegner“ etwas zu hochgestochen ist. Papstgegner waren Männer wie Kaiser Friedrich Barbarossa, Heinrich VIII., Luther, Calvin, Voltaire, Robespierre, Napoleon, Bismarck, Nietzsche oder Stalin; eine Institution, die dergleichen überstanden hat, muss sich vor Claudia Roth und Volker Beck nur in Maßen fürchten. Zumal die Einlassungen von Nichtkatholiken über die Moralauffassungen des Papstes ungefähr so bedeutend sind, als wenn sich der Papst über die Trainingsmethoden des AC Mailand äußerte.
Aber etwas in mir, vermutlich mein Taktgefühl, rebelliert gegen diese außer Rand und Band geratene Opposition irgendwelcher „Jetztsassen“ (Thomas Kapielski) gegen den Inhaber eines Thrones, der bereits besetzt war, als noch römische Cäsaren herrschten. Der Papst, das ist kein turnusmäßig wählbarer Volksvertreter, der die Lektüre heiliger Schriften durch jene demoskopischer Umfragen ersetzt hat, sondern das Oberhaupt einer weltumspannenden Institution, die in knapp 2000 Jahren mehr für die Zivilisation getan hat als jede andere. Es ist wahlweise schamlos oder grotesk, den Mann auf dem Stuhl Petri dafür zu tadeln, dass er seine Vereinsregeln den sexuellen Orientierungen oder Abirrungen der Tadler nicht eilfertig anbequemt.
Die wütende Verve der Papstkritik erklärt sich erstens aus ihrer absoluten Ungefährlichkeit, zweitens daraus, dass sich Benedikt der Unterwerfung unter den herrschenden Zeitgeist des spaßgesteuerten Individualismus und der Transzendenzferne verweigert. Dessen Lautsprecher reagieren darauf mit modernen Inquisitionsvokabeln wie „rückwärtsgewandt“, „antimodern“, „mittelalterlich“, „sexualfeindlich“. Der Katholizismus ist abendlanduntergangsweit das letzte Bollwerk gegen Kulturrelativismus und Gleichmacherei. Störrisch ragt dies uralte Denk- und Regelwerk in die Gegenwart und beharrt auf seiner Exklusivität. Allein dafür mag ich den Katholizismus. Der Papst ist, quasi von Amts wegen, heutzutage der wahre Querdenker und Freigeist. Er steht für die Idee, dass mit dem Menschen etwas gemeint sei. Er besitzt die Unverschämtheit, unsere beste aller Gesellschaften der Gier, des Konsumismus, der spirituellen Leere und der Traditionsvergessenheit zu zeihen und zu verkünden, dass man in dieser Welt nicht erlöst werden könne.
Der Papst, schallt es, ist ein Reaktionär. Aber das ist doch wunderbar! Das ist mindestens originell! Wie viele Reaktionäre kennt der Durchschnittsdeutsche denn so? Davon ausgehend, dass Alice Schwarzer, Iris Berben, Wolfgang Thierse und Johannes B. Kerner keine sind, könnte ein Reaktionär eine interessante Person sein. Unsere Modernskis sind doch angeblich so erpicht auf Buntheit und Vielfalt! —
Religion sei Opium für das Volk, notierte Karl Marx in der Frühphase seiner Heroinproduzentenkarriere. Die Menschen hätten sich stets falsche Vorstellungen von der Welt gemacht, postulierte er, vergaß indes zu erklären, wie sie die „richtigen“ aushalten sollten. Man kann ohnehin nicht behaupten, dass sich der Atheismus seit dem 18. Jahrhundert, wo längst jeder zweite Gebildete mit ihm kokettierte, sonderlich entwickelt hätte, im Gegenteil: War er weiland so elegant wie der Liebesbrief, ist er heute so plump wie die SMS. Noch die großen Physiker des 20. Jahrhunderts wussten vom Sinn, vom Geheimnis – und von der Poesie! – der Gottesidee, während der marktschreierische Atheismus wild gewordener Positivisten à la Richard Dawkins sogar einem Gottlosen eher peinlich ist. Es gibt Wahrheiten, lehrte Karl Kraus, durch deren Aussprechen man beweisen kann, dass man keinen Geist hat.
Wir Luxusweltenbewohner der Neuzeit sollten überdies nie vergessen, was für ein mächtiger Verbündeter Gott für unsere Altvorderen war. Wie anders hätten sie das Elend der Jahrhunderte ertragen sollen: Seuchen, Kriege, Kindersterben, Naturkatastrophen, Parasiten, chronische Krankheiten, Operationen ohne Narkose, Geburten ohne PDA und die ständige Anwesenheit des Teufels in den finsteren Nächten? Es gäbe uns nicht ohne diesen Gott. „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen“: Dieser Satz ist womöglich nicht ganz zutreffend – doch weiß jemand einen besseren?
Noch mehr zu preisen sind die ästhetischen Leistungen der Religion im Allgemeinen und der katholischen Kirche im Speziellen. Der vulgären, infantilen, zügellosen, brutalen Masse Mensch haben vor allem ihre Riten, Gebote und Feste eine erträglichere, mitunter sogar ansprechende Form aufgezwungen. Dass der westliche Mensch nicht mehr niederkniet, sich nicht mehr bekreuzigt, nicht mehr in die Kirche geht, wird allgemein als ein der Aufklärung zu dankender Fortschritt betrachtet. Ästhetisch ist es ein Verlust. Der postreligiöse Mensch, mag er sich auch kolossal befreit fühlen, das ist zugleich der formlose Mensch. Ich konnte es neulich an mir selber studieren, als ich, ein liturgischer Fremdkörper, an einer katholischen Trauung teilnahm. Wie peinlich, keine Religion zu haben!
Und unsere eher gottlose Gegenwart, die sich für wunder wie aufgeklärt und rational hält, besitzt natürlich ihre Ersatzreligionen. Jene der sozialen Gerechtigkeit etwa. Oder das ökologische Evangelium der Grünen mit seiner Weltuntergangsdrohung bei Nichtbefolgung der Gebote. Oder die gemeindestiftenden Rituale des Kampfes gegen rechts mit dem toten Alien aus Braunau als Satan für Atheisten. Dass sich die Anti-Papst-Demo in Berlin das Motto „Keine Macht den Dogmen“ gab, illustriert, dass es mit der Selbstreferenzialität bei den Linken nicht weit her ist. „Der Aberglaube ist eine dem menschlichen Geist innewohnende Schwäche; es hat ihn immer gegeben, und es wird ihn immer geben. Die Gegenstände der Anbetung können wechseln wie französische Moden“, befand Friedrich der Große. Etwas im Menschen treibt ihn unbeirrbar in solche Sphären. Er muss seinem Dasein irgendeinen höheren Sinn einschreiben, sonst hielte er es nicht aus.
Wenn man eine lächerliche Religion abschafft“, auch darüber war sich der Preußenkönig im Klaren, „dann tritt etwas noch Unsinnigeres an ihre Stelle.“ In der Tat sind die aktuellen Ersatzreligionen ziemlich unsinnig, weil deren Anhänger nicht zu glauben meinen, sondern zu wissen wähnen. Obendrein (und folglich) tendiert ihr Vermögen, Trost zu spenden, gegen null, ihre Verheißungen sind dürftig, ihre Riten ohne Glanz, ihre Tempel geheimnislos und bar jedes Zaubers. Da ist das heilig-schiefe, aber ehrwürdig-vielerprobte, altmodische, aber eben auch allem Modischen ferne, abseitige, aber prachtvolle Original denn doch weit achtenswerter.
Er sei „nicht christlich, aber katholisch“, bekannte Charles Maurras – eine Idee, die mir von Tag zu Tag plausibler erscheint.