„Gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen“, lautet der dritte der berühmten Imperative in Benns „Ptolemäer“. Den Beständen stehen also die Parolen gegenüber. Parolen formen Kollektive und wärmen sie in der Not; noch im Frühjahr 1945 verschufen sie vielen Deutschen inmitten ihrer in Schutt sinkenden Städte mobilisierende Endsiegsillusionen. Zuletzt entscheiden freilich immer die Bestände über das Wohl und Wehe; weder ein Mensch noch ein Volk noch ein Land kann längere Zeit über seine Bestände leben; sind sie aufgezehrt, muss bezahlt werden.
Das ist zwar unabweisbar logisch, doch fortwährend erleben wir, dass Menschen, Regierungen, ja ganze Völker es nicht wahrhaben wollen, weil immer noch genügend Bestände zum Verzehr bereitstehen, weil die Rechnung noch nicht präsentiert wurde, weil Ideologen behaupten, allein vermittels fortgesetzter Parolenproduktion ließen sich die Bestände wieder auffüllen. Erst die Zukunft wird der Schrottplatz jener Illusionen sein, die in der Gegenwart ihre verblendende Wirkung entfalten können, weil Menschen gemeinhin eben „in der Falle des Kurzzeitdenkens” (Irenäus Eibl-Eibesfeldt) festsitzen.
Dass Bestände zukunftsblind verbraucht werden, gehört ebenso zur geschichtlichen Normalität wie die Warnung davor; erinnert sei an die berühmte „Holznot“ im 18. Jahrhundert und ihre Kehrseite, die – bezeichnenderweise in der Forstwirtschaft debütierende – „Nachhaltigkeit“. Die Zerstörung oder Plünderung der Bestände eines Feindes darf ebenfalls zu den menschlichen Gepflogenheiten gerechnet werden. Im Wesentlichen sind damit materielle Bestände gemeint. Natürlich haben siegreiche Völker oder Staaten auch versucht, den Unterworfenen Sprache, Kultur und Identität zu nehmen, mit mehr oder weniger Erfolg. Seit 1789 finden dergleichen Angriffe sogar innerhalb von Ländern oder Völkern statt, vorgetragen von Umstürzlern, die sich für eine Avantgarde halten, die im Namen der Zukunft das Alte ausmerzt und eine bessere Gesellschaft errichtet. Obwohl Jakobiner, Bolschewiki und Maos Rote Garden als Bürgerkriegsparteien ins Leben traten, verstanden sie sich als Vorkämpfer grenzübergreifender, weltumspannender Veränderungen. Ihr Angriffsziel waren die Bestände der alten Ordnung, der feudalen und später der bürgerlichen Gesellschaft, aber vor allem der alte Adam. Obwohl – oder besser: weil – sie in der Realität scheiterten, sind ihre bestandszersetzenden Parolen noch immer in der Welt, sie bilden das semantische Arsenal für den jeweils nächsten Versuch.
Soweit, so bekannt. Der Blick in die Geschichte lehrt, dass stets dieselben Spiele in wechselnden Konstellationen gespielt werden. Gleichwohl steht an gewissen Epochenschwellen die Frage im Raum, ob nicht doch eine neue Qualität erreicht worden ist. Es muss zum Ruhme und zur Schande des Menschengeschlechts gesagt werden, dass solche Schwellen immer von der Technik markiert werden, die neolithische Revolution etwa, erst recht die industrielle, und was wir heute Globalisierung nennen, ist ohne den Computer und die elektronischen Medien, ohne Internet und Mobiltelefonie nicht denkbar.
Die Revolution der künstlichen Intelligenz könnte nicht nur ein posthistorisches, sondern sogar ein posthumanes Zeitalter einleiten. Viele Menschen reden sich gern ein, in beispiellosen Zeiten zu existieren, wenn schon ihr Leben alles andere als beispiellos ist. Diejenigen, die derzeit den Planeten besiedeln, zumal die Jüngeren darunter, könnten das Pech haben, tatsächlich in präzedenzlosen Zeiten zu leben und dem Walten technischer Mächte in einem Maße ausgeliefert zu sein wie noch nie Menschen zuvor.
„Was ist der Mensch? Futter
Für Komputer.“
(Peter Hacks)
Diese kleine Panoramastellwand musste ich als Hintergrund aufbauen, bevor ich auf das neue Buch von Michael Esders zu sprechen komme. Es trägt den Titel „Ohne Bestand. Angriff auf die Lebenswelt“, führt also jene Bestände im Titel, von denen eingangs die Rede war, sowie die Lebenswelt des Selbstverständlichen, Alltäglichen, ohne mediale oder priesterliche Vermittlung Erfahrbaren, nicht ständig zu Hinterfragenden, in der sich der Mensch gemeinhin bewegt, sofern nicht gerade auf ihn geschossen wird wie in Syrien oder der Ukraine. Wir haben also zu fragen: Was sind die Bestände, und von wem werden sie angegriffen?
Die Antwort liegt auf der Hand: Die Bestände sind die (insbesondere westlichen) Nationalkulturen mit ihren Alltagsüblichkeiten, Lebensweisen und, nicht zu vergessen, ihren Vermögenswerten, und attackiert werden sie von einer Entente aus woken Globalisten und Milliardärssozialisten.
In seinem Buch „Sprachregime“, das ich vor zwei Jahren hier pries (etwas scrollen), hatte Esders mit Begriffen wie „Entgrenzung“, „Entortung“ und „Ent-eignung“ bereits Spuren gelegt. Der heideggerische Bindestrich in „Ent-eigung“ macht deutlich, dass nicht nur die Wegnahme des Eigentums gemeint ist, die altkommunistische Version, sondern darüber hinaus jene der Eigenart. Das Eigene, Eigentümliche, Eigenwillige im Sinne der an einen Ort gebundenen und tradierten Lebensweise gerät zunehmend unter Beschuss, wobei derzeit vor allem die (weißen) Bewohner der westlichen Zivilisation davon betroffen sind.
Mochten die Jakobiner in Frankreich die Zeitrechnung und die Monatsnamen ändern, den „Monsieur“ sowie per Dekret auch noch den lieben Gott abschaffen, mochten die Bolschewiken die verschiedenen Ethnien und Kulturen ihres Vielvölkerimperiums zu „Sowjetmenschen“ amalgamieren und vereinheitlichen, so wäre doch kein Stalin auf die Idee gekommen, die Existenz des russischen Volkes zu bestreiten, und nicht einmal Mao Tse-tung hätte den Versuch gewagt, die Geschlechter für Konstrukte zu erklären (dazu mochte er das anders konstruierte viel zu sehr). Zwei zentrale Forderungen, die Marx und Engels im „Manifest der kommunistischen Partei“ stellten, die „Aufhebung des Privateigentums“ und die „Aufhebung der Familie“, haben die Realsozialisten nirgendwo tatsächlich eingelöst; sie haben es nicht einmal ernsthaft versucht. Sogar für Diktatoren, die im Namen des kommunistischen Gesellschaftsumbaus ohne mit der Wimper zu zucken Hunderttausende Leben auslöschen ließen, gab es Grundtatsachen der Conditio humana, die sie nicht anrührten. Man muss sich das vor Augen führen, um die Dimensionen des heutigen Feldzugs „gegen nahezu alle hergebrachten Lebensformen westlicher Gesellschaften“ (Esders) erst richtig zu ermessen.
Auf die Spiel stehen nicht nur kulturelle oder wirtschaftliche Bestände, sondern auch „die ungeschriebene Grammatik des Üblichen und Gewohnten, die Sprache als Allmende des Bedeutens“, meint Esders. Die drei zentralen Kapitel des Buches tragen die Überschriften „Sprachverlust”, „Lebensweltverlust”, „Wirklichkeitsverlust”; es ist die „Bestandsvergessenheit”, die solchen Furien des Verschwindens Tür und Tor öffnet. „Die heute verbreitete Geringschätzung der Bestände hat damit zu tun, dass sie im Hintergrund wirken. Ihre Unauffälligkeit nährt die gefährliche Illusion ihrer Verzichtbarkeit.“ Was den Menschen im Gegenzug angeboten wird (und was die meisten gar nicht haben wollen), ist „das Versprechen eines optionalen, fluiden, entfesselten Selbst“, welches aber „verschleiert, dass es auf die Auslöschung aller Identitätsbestände“ zielt – und damit „auch der Grundlagen des Andersseins“. Ohne Gleichschaltung keine „Vielfalt“, lautet das Betriebsgeheimnis jener Globalisierung, von der man zu Davos ganz ungeniert vor laufenden Kameras parliert.
Das Besondere an unserer Situation besteht darin, dass der universalistische Angriff auf die partikular organisierten menschlichen Eigen-Arten sich der fabelhaften Instrumente der KI bedienen kann – die großen online-Plattformen von Google über Facebook, Youtube und, bis vor kurzem zumindest, Twitter sind klar Partei –, womit tendenziell der gesamten bewohnte Planet betroffen ist. Vor den Jakobinern oder den Bolschewiken konnten viele Nichteinverstandene noch ins Exil fliehen. In der one world wäre damit Schluss. Da die Globalisten keinen direkten Blutzoll fordern – einen indirekten ja schon (und wer weiß, welche Bürgerkriege und ethnische Konflikte sie dereinst ausgelöst haben werden) –, wirken sie deutlich harmloser und ungefährlicher als ihre historischen Vorgänger beim jeweiligen Großen Gesellschaftsumbau, doch sie sind keineswegs weniger totalitär. „Von Kindheit an werden Menschen in einen fortwährenden Aufarbeitungsmodus versetzt“, notiert Esders. „Sie haben sich einer radikalen Entwöhnungskur zu unterziehen und sich als Dekonstrukteure ihres Alltags zu bewähren“, und zwar bis in ihre sexuelle, ethnische und kulturelle Identität, ihre Ernährung, ihre Sprache, sogar ihre Kinderspiele. Alle Gewohnheiten, Wertvorstellungen, Selbstverständlichkeiten, Alltagserfahrungen, sogra Empfindungen stehen unter dem Verdacht der Diskriminierung (i.e.: der Unterscheidung); jede Regel ist „strukturelle Gewalt“, von der Gesetzeslage bis zu den Tischsitten, von der Grammatik bis zum Kontrapunkt; Eigentum – das der Milliardärssozialisten und des Davoser Jetsets natürlich ausgenommen – ist entweder Raubbau an der Natur oder Diebstahl, wobei linke Notare der Umverteilung als ursprüngliche Besitzer die Bewohner der Dritten Welt in geisteswissenschaftliche Grundbücher eintragen, nachdem sie sich selbst großzügige Gebühren berechnet haben.
Was der (weiße, westliche) Mensch bisher für seine Heimat hielt, entpuppt sich als rassistischer Zwinger, als Privilegienstadl, muss weg; was noch eine Generation zuvor seine normale Lebenswelt war, wird inzwischen „ausschließlich als Brutstätte von Diskriminierung und Alltagsrassismus sowie als Schlachtfeld der Mikroaggressionen ins Visier genommen“ (Esders); was vor Jahrzehnten als linke Randgruppenfolkore begann und wegen der offenkundigen Absurdität der Anschuldigungen von den meisten Betroffenen nicht ernst genommen wurde, läuft heute auf allen Kanälen, ertönt von jedem Podium, jeder Bühne, jeder Kanzel und wird wohl auf endlose Wiedergutmachungsforderungen in Billionenhöhe hinauslaufen.
Esders beschreibt den laufenden Transformationsprozess in Richtung auf die noch recht fern wirkenden, aber von den globalen Eliten ernsthaft angestrebten Endziele Weltstaat und Weltregierung. Er zeigt, wie eine nicht mehr abreißende Folge von Krisen halb inszeniert und komplett instrumentalisiert wird, um das Weltvermögen umzuverteilen, was für den Westen unvermeidlich auf Freiheitsabbau und Wohlstandsvernichtung hinausläuft. „Mit zunehmender Deutlichkeit zeichnet sich ab”, notiert er, „dass die Auslöschung der Bestände nur ein Zwischenziel ist. Megalomane Sozialtechnologen sind darauf aus, den gesellschaftlichen Nullpunkt auf Dauer zu stellen und die soziale Tabula rasa als neuen Standard zu verfestigen.“ Diese „Politik des absoluten Anfangs“ läuft unter bekannten Labels wie „Build back better“, „Great Reset“, „Agenda 2030”, „Global Governance“, „Klimaschutz”, „Transformation unserer Welt“ (UN-Resolution vom 25. 9. 2015), sie wird begleitet von einem „Kult der Null” („Zero Covid”, „Zero CO2”) und einer „im Singular auftretenden“ Wissenschaft („Follow the science“), die genau das nicht mehr ist, sondern als Magd oder Hure der Politik dient, wie im Realsozialismus.
In seiner Studie „Sprachregime“ hat Esders die Formatierung des kollektiven Wahrnehmens bzw. Für-wahr-Nehmens durch die Sprache analysiert, sein neues Opus weitet die Perspektive also aufs Großeganze. Der Analytiker beobachtet dabei zwei ineinander verschränkte Prozesse: Einerseits wird die gewohnte, hergebrachte Lebenswelt diskreditiert und Schritt für Schritt abgeräumt, ob nun durch Massenmigration, gezielte Geldentwertung, Sprachvorschriften, Auflösung der Familienstrukturen und Geschlechtsidentitäten, Konsum- und Traditionsverteufelung, andererseits füllen zunehmend digitale Kontroll- und Überwachungssysteme die Lücken, die von den in Auflösung begriffenen Sozialstrukturen hinterlassen werden.
„Unter dem Panier der Selbstbestimmung und Emanzipation wird das Individuum kulturell und geschichtlich enterbt”, schreibt Esders. „Das bindungs- und geschichtslose Subjekt ist ein dankbares Objekt soziometrischer Erfassung, Steuerung und Kontrolle. Wo meine Geschichte rückstandslos in meiner Netzbiografie aufgeht, dort wissen Algorithmen nicht nur im Voraus, was ich kaufen, sehen und lesen möchte. Dort werden sie mir auch einflüstern, was ich denken soll, und zwar so, dass ich den soufflierten Gedanken für den Ausdruck meiner Individualität halte.“
Die Digitalkonzerne, deren interne Compliance-Regeln und Zensurpraktiken mit dem Wokeness-Level der linkesten US-amerikanischen Universitäten mithalten können, schaffen aufgrund ihrer Monopolstellung im nahezu gesamten Netz eine „semantische Matrix” aus soufflierenden Vorschlagsfunktionen und Sprachassistenten, kanalisierten Suchanfragen, gewichteten Keywords und Quellen, gefilterten und arrangierten Suchtreffern, während die Beiträge der Neos und Trinitys reichweitenreduziert, geframt, gelöscht oder anderweitig der Sichtbarkeit entzogen werden. Die Folgen malt der Autor in gebotener Düsternis: „Wer Sprechen und Schreiben an Assistenten, Bots und Automaten delegiert, dürfte auch geneigt sein, sich das Denken abnehmen zu lassen. Algorithmen, die in die Wort- und Satzbildung eingreifen, legen die Räume des Sagbaren fest und bringen das Denken unterschwellig auf Linie. Es entsteht ein Umfeld, in dem technische und politische Systemkonformität zusammenfallen” und wo „die digitalsemantische Systemimmanenz ausschließlich Erwartbares hervorbringt und reproduziert“.
Dass die Corona-Krise bzw. ihre Instrumentalisierung der bislang wichtigste Schritt auf dem Wege zur Neuen Weltordnung war, diese Auffassung teilt der Dresdner Autor abwechslungshalber mit dem Davoser Hohepriester Klaus Schwab. „Das digitale Deutungskartell, das Coronamaßnahmen wie Kontaktverbote und ‚Lockdowns‘ rechtfertigte, beförderte damit auch die Digitalisierung der Kommunikation, die mangels persönlicher Kontakte tatsächlich ‚alternativlos‘ wurde”, hält er fest. „Mit der Marktmacht wuchs die politische Einflusssphäre, die wiederum dazu genutzt werden konnte, das Monopol und damit auch künftige Gewinne abzusichern. Diese Win-win-Situation ist eine Erklärung für die enge Komplizenschaft zwischen Tech-Konzernen, nationalen Regierungen und globalen Institutionen, die sich seit Frühjahr 2020 unter dem Vorwand der Pandemiebewältigung offen zeigte. Die sprachliche und enzyklopädische Monopolstellung wird genutzt, um Sprachregelung weltweit zu synchronisieren, gewünschte Deutungen global durchzusetzen und sie gegen jeden Widerspruch abzuschirmen.“
Das Irre daran ist, dass die Synchronisierung bei Milliarden „modernen” Erdlingen noch besser funktioniert als im Mittelalter, weil die KI zumindest quantitativ sämtliche Grenzen einrennt. Die Gleichschaltung der Menschheit erscheint heute fast so einfach wie die Gleichschaltung eines Dorfes im Dritten Reich. Desto preiswürdiger sind die Querulanten, Anarchen und Waldgänger.
„Als verschärfte Form der Entüblichung stehen die ‚Willkommenskultur‘ seit 2015 und die ‚Neue Normalität‘ seit 2020 in einem engen Zusammenhang. Im Rückblick erscheinen diese Ereignisse und ihre Abfolge und Konsequenz wie verschiedene Phasen eines Gesellschaftsexperiments”, diagnostiziert Esders. „Zunehmend erhärtete sich der Verdacht, dass soziales und kulturelles Kapital mit voller Absicht vernichtet werden soll.“ Warum, versuche ich mit dem Schleusengleichnis zu beschreiben: Wer will, dass die verschieden hohen („ungerecht” verteilten) Wasserstände sich angleichen, muss den Pegel auf der einen Seite senken und auf der anderen erhöhen, während er selber idealerweise trockenen Fußes im Steuerhaus sitzt. Die gütigen Globalisten um die derzeit diensttuenden Schleusenwärter Schwab, Gates und Soros wollen doch für alle Menschen hienieden nur das Beste, speziell für sich.
„Über der Gesellschaft wird fortan das Damoklesschwert eines Notstands schweben, der auch ohne Not und unter beliebigen Vorwand aktivierbar ist”, beschreibt Esders den Zweck der zwei Jahre lang auf allen Kanälen geschürten kollektiven Coronoia. „Die Suspendierung aller Üblichkeiten ist von nun an nicht mehr unüblich, sondern Teil des sozialtechnologischen Repertoires und wie auf Knopfdruck wiederholbar.“ Und das mit identischer Hysterie bei wechselnden Anlässen, sei’s das Klima, der Russe, der Rechte, der Reichsbürger usw. usf.
Die „Suspendierung aller Üblichkeiten” gehört zum Angriff auf die Bestände, die, wie gesagt, keineswegs nur materieller Art sind, sondern auch mentale Ressourcen einschließen, Vertrauen zum Beispiel, Realitätsinn und den von links so gern verfemten gesunden Menschenverstand. Deswegen besteht eine der wichtigsten Aufgaben der Medien heute darin, den Menschen ihre Alltagserfahrungen als untypisch auszureden und sie in die Bockshörner der kognitiven Dissonanz zu treiben. „Frames bilden und verfestigen sich durch Repetition, nicht durch gute Gründe. Sind sie erst einmal verankert, lassen sie Begründungen und Argumente ins Leere laufen”, stellt der Autor fest. „In einer von mächtigen Deutungskartellen beherrschen Öffentlichkeit führt das eklatante Ungleichgewicht zu einer völligen Entwertung qualitativer Wahrheitskriterien.“
Deshalb hängen „Wirklichkeitsverlust” und „Bestandsvergessenheit” zusammen. Esders reaktiviert das Platonsche Höhlengleichnis zur Veranschaulichung: „Der medial-digitale Komplex sperrt das Publikum in eine Höhle ein, legt ihm Fesseln an und projiziert Schatten künstlicher Gegenstände an die Höhlenwand, welche die Gefesselten bereitwillig für die einzige und unumstößliche Realität halten. Er hat zudem die Macht, jeden Bewohner in seiner Wahrnehmungshöhle zu vereinzeln. (…) Die Begriffe ‚Verschwörungstheorie‘ und ‚Verschwörungserzählung‘ sind Denunziationsvokabeln, die alle abstempeln, welche die Fesseln lockern und den Höhlenausgang suchen.“
Der Autor spricht von der Erzeugung einer „Hyperrealität”, die den konkreten Ort entwertet und ein „Klima der Ungreifbarkeit” erzeugt: „Die Leiblichkeit der Erfahrung, die Evidenz des Augenscheins, die Greifbarkeit des Begriffenen verlieren in der Hyperrealität des Globalen ihren Wert und ihre Maßgeblichkeit.“ Der Einzelmensch wird sich täglich im Netz seiner peripheren Geringfügigkeit bewusst, während die „globalistische Antitopik” denjenigen, „die über die globalen Netze und Begriffe verfügen, einen nahezu uneinholbaren Evidenzvorsprung“ verschafft.
Bezeichnenderweise hat der Wirklichkeitsverlust auch die Sphäre der Wirtschaft erfasst. Dieses einst solide Gesellschaftsfundament bilde heute nicht mehr den „Boden der Tatsachen”, unkt Esders. Vielmehr sei die Ökonomie „zum Labor der Realisierung fiktionaler Erwartungen” geworden, wovon die Geldschöpfung aus dem Nichts durch die Zentralbanken und die Abkopplung der Finanzwirtschaft von der Realwirtschaft – Stichwort: Derivate – Zeugnis ablegen. „Die fiktionale Erwartung ist eine Realität im Stadium ihrer Formbarkeit, was sie so interessant für Meinungsmacher jeglicher Couleur macht.“ Weil aber die Wirtschaft „Paradigma des Realen ist, hat die Unwirklichkeit, die hier ihren Ausgang nimmt, ein hohes Ansteckungspotenzial für die gesamte Gesellschaft”.
Die Folgen schlagen selbstredend auf das politische System durch. „Der medialisierte und digitalisierte Überraum des Globalen entwertet mit allem Verorteten auch den öffentlichen Raum. Er erschüttert die Repräsentationsverhältnisse und damit den Kernbestand der Demokratie” – jeder Demos in seiner nationalen Klausur ist ein Dorn im Auge der Universalisten. „Unter diesen Bedingungen sind fast alle politischen Konflikte Kämpfe um die Maßgeblichkeit des Realen.“
Deswegen hören wir permanent von Fake News, wobei auch die staatlich gestreuten Fake News Legion sind, weshalb die Definition einer speziellen Profession von staatlich alimentierten Faktenverdrehern obliegt, die sich „Faktenchecker” nennen. In einer immer komplexer organisierten und immer enger vernetzten Welt tendieren immer mehr Aussagen in Richtung Unterkomplexität, das heißt: in Richtung Teil- oder Unwahrheit. (In Rede stehen systembeschreibende Aussagen; Großmutters gesammelte Maximen von „Das tut man nicht” bis „Wenn’s dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis tanzen” gelten nach wie vor uneingeschränkt.) Das heißt, die wechselseitigen Vorwürfe, Fake News zu verbreiten, werden zunehmen, und sie werden regelmäßig zutreffen. Aber nur eine Seite wird dafür angeprangert werden.
Esders hat ein kluges Buch geschrieben, eine luzide Analyse des Status quo, die jeder lesen sollte, der unsere Situation zu verstehen sucht. Manche Leser monieren seinen akademischen Schreibstil, der Gute kommt eben aus den – im weitesten Sinne – Sozialwissenschaften, doch er benutzt diesen Slang nicht, um zu vernebeln, sondern um zu verdeutlichen; ich meinesteils schätze die Präzision seiner Darlegungen. Esders ist zu intelligent, um bei der Deutung jener Entwicklungen, die er illusionslos beschreibt, in verschwörungstheoretische Erklärmuster abzudriften (die ja selten wirklich etwas erklären); bei aller Drahtzieherschaft der üblichen Verdächtigen erlebten wir keineswegs „Schurkenstücke weniger Hintermänner”, stellt er fest, sondern die Wirkungen „weitgehend automatisierter und anonymisierter Prozesse“.
Ich sagte gerade, Esders sehe die Dinge illusionslos. Der erste Imperativ der Illusionslosigkeit aber heißt, um zu Benns Ptolemäer zurückzukommen: Erkenne die Lage! Der Autor möge dazu ein Schlusswort in drei Teilen sprechen.
Eins: „Planungsregime tendieren zu Zentralismus und dogmatischer Erstarrung. Sie erweisen sich als unfähig, Komplexität zu verarbeiten und auf veränderte Rahmenbedingungen angemessen zu reagieren. Fehlentwicklungen werden nicht korrigiert, einmal eingeschlagene Wege verbissen verfolgt, Opfer als Kollateralschäden achselzuckend hingenommen.“
Zwei: „Sich verschärfende geopolitische Konflikte und Verteilungskämpfe sollten nicht über die fortschreitende Konvergenz der politischen Systeme in Richtung auf ein digitales Überwachungsregime mit dirigistischer Staatsökonomie hinwegtäuschen. Ob die künftige Welt, die aus diesem Konflikten hervorgeht, uni‑, bi- oder multipolar aufgebaut sein wird, dürfte angesichts der systemischen Annäherung zweitrangig sein.“
Drei: „Der Verteidiger der Bestände lebt, ob er will oder nicht, in Gegnerschaft. Er muss nicht polemisch auftreten, um ins Visier zu geraten. Schon die Verkörperung des Bestands erregt Anstoß.“
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PS: Ein Bekannter fragte mich, was ich gerade läse, und als ich Esders neues Buch nannte, monierte er die „ewige Theoretisiererei”, die Lage sei erkannt, das Theoriedefizit der Woken so offenkundig wie gleichgültig – wer dermaßen unangefochten herrsche und Geld verteilen könne, benötige keine theoretische Rechtfertigung, der könne den größten Widersinn behaupten –; die nächsten Studien müssten praktische Titel tragen wie: „Was tun?“ oder „Staat und Revolution“…
Ein bewusst aufreizendes Spiel mancher Gesellschaftsingenieure mit der zugegebenen Manipulationsabsicht – ein Eingeständnis ohne drohende Konsequenzen – vermutet übrigens auch Esders. Er zitiert aus Schwab/Mallerets Buch „The Great Reset”, das die Covid-19-„Pandemie” als Anlass für die notwendige Errichtung einer Neuen Weltordnung behandelt, den Passus: „Global gesehen ist die Corona-Krise, wenn man den Prozentsatz der betroffenen Weltbevölkerung betrachtet, bisher eine der am wenigsten tödlichen Pandemien, die die Welt in den letzten 2000 Jahren erlebt hat“ (S. 296), und kommentiert:
„Vermutlich wissen die Autoren, dass sie sich eine solche Enthüllung leisten können. Sie kann als Ausdruck des Souveränität, als Machtdemonstration betrachtet werden – und als subtiler Versuch, diejenigen zu zermürben, die den Bruch sehen, aber ohnmächtig erfahren müssen, dass kaum jemand das Offensichtliche wahrnimmt.“
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Noch zum Vorigen.
Ein wundervolles Beispiel für den Kampf der Parolendrescher gegen die Bestandsdenker ist dieser Diskussionsrundenmitschnitt, in dem der Ökonom Hans-Werner Sinn vergeblich versucht, seinen Gesprächspartnern zu erklären, dass unser Rentensystem als Umlagesystem nicht mehr funktionieren kann, wenn zu wenige Kinder geboren werden und die Alterspyramide sich umkehrt. Es gibt analog zur Zukunftsblindheit auch eine Zukunftstaubheit. „Bis hierher ist es ja noch gutgegangen”, sagt der aus dem zwölften Stockwerk Stürzende beim Erreichen des dritten.