Da ich weiß, dass hier auch einige literarisch empfängliche Menschen vorstellig werden, heute mal etwas anderes; immerhin ist Sonntag, und das war früher im Kleinen Eckladen der den Künsten vorbehaltene Tag. Tempi leider weitgehend passati.
Ich las zuletzt – der Teufel mag wissen, warum erst so spät und warum gerade jetzt – Alexander Puschkins Versdrama beziehungsweise Versroman und jedenfalls Hauptwerk „Eugen Onegin“. Wer mit Russen redet, was man momentan nicht tun soll, weshalb ich’s gern tu‘, stößt auf einen merkwürdigen, sämtliche Milieus überschreitenden, vom Geschäftsmann bis zum Oppositionellen, vom Poeten bis zum Militär reichenden, die красавица wie den крестьянин einschließenden Konsens: Puschkin war der Größte. Ob er tatsächlich über die Schule hinaus von vielen Russen gelesen wird, weiß ich nicht, aber Alexander Sergejewitsch spielt für die russische Sprache eine ähnliche Rolle wie Luther und Goethe zusammen fürs Deutsche, er gilt als ihr recht eigentlicher Schöpfer und zugleich Vollender. Und wenn ich hier schon beim Vergleich zu deutschen Autoren bin: „Eugen Onegin“, das ist wie Heinrich Heine und Wilhelm Busch zusammen, nur besser.
Ich habe nicht die Spur einer Ahnung, wie viele Deutsche heute noch Puschkin lesen und wie viele Leser dieses Diariums den „Onegin“ kennen. Nach meiner Vermutung ist Tschaikowskys Oper hierzulande bekannter als das Original, aber sie vermittelt, Briefszene hin, Finale her (und bei aller delikaten, beinahe kammermusikalischen Instrumentierung) von der Vorlage höchstens eine vage Ahnung. Und vom virtuosen, spöttisch-distanzierten, heiter-ironischen Ton der Dichtung wissen Tschaikowskys „Lyrische Szenen in drei Aufzügen” praktisch nichts. Dieser Ton aber ist das Eigentliche.
„Und dennoch sucht sie teilzunehmen
an dem, wovon man ringsum spricht;
doch die gesellschaftlichen Themen
sind von so lähmenden Gewicht,
sind so banal, so platt und flüchtig,
so langweilig und blaß und nichtig,
daß oft ein ganzer Tag vergeht
und man sich nur im Kreise dreht
um nichts und wieder nichts; Gedanken
entspringen nicht in dieser Welt,
die im Gerede sich gefällt;
hier kann auch nie das Herz erkranken,
der Geist nie lächeln; ja sogar
die Dummheit macht sich hier noch rar.“
Heißt es, in der Übertragung von Ulrich Busch, über Tatjana („Tanja”), nachdem sie vom Lande nach Sankt Petersburg übergesiedelt ist. Und der Titelheld, „frisiert nach Schick und Modeneuheit,/ ein Dandy, wie nach Maß bestellt”, wird eingeführt mit den Worten:
„Nein: früh schon waren die Gefühle
in ihm erstarrt; die Große Welt,
die Damen, ihre Liebesspiele
fand er durch Alltagsbrauch entstellt;
ihn langweilten die kurzen Freuden;
auch Freunde suchte er zu meiden,
weil man nicht gern taugaus, tagein
Beefsteaks mit auserlesnem Wein
zum Mittagsmahl genießen möchte,
zumal man sich zum Überdruß
noch geistreich unterhalten muß”.
So steht es geschrieben im Gründungstext der russischen Literatur. „Puschkins größtes Werk ist ‚Eugen Onegin’, ein Roman in vollkommenen Versen”, erklärte Vladimir Nabokov seinen amerikanischen Studenten. „Es handelt sich nicht nur um ein großes Werk eines großen Genies, es ist auch der erste originär russische Roman.” Auf dessen „völlig neuen Stil” ließen sich „die größten Romane des russischen 19. Jahrhunderts zurückführen”.
Dem Zeitgeschmack folgend, der zu Puschkins Tagen die Prosa für das hielt, was heute noch im Wort „prosaisch” nachklingt: zweitklassig und profan, wählte der Dichter die gebundene Form; die sogenannte Onegin-Strophe besteht aus 14 Zeilen in vierfüßigen Jamben, die immer demselben Muster folgen (Ausnahmen sind Tatjanas berühmter Brief an Onegin und Onegins nicht ganz so berühmter Brief an Tatjana); sie beruht auf dem Sonett, speziell der zum Setzen von Pointen ideale Paarreim am Schluss:
„Doch fand er nach der langen Fahrt
sein Onkelchen schon aufgebahrt.”
„… des Ruhmes täglichen Tribut
Verriß, Beschimpfung, Spott und Wut.”
„Er sang von Herbst und Todesstund,
kaum achtzehn Jahr alt, kerngesund.”
„Und dem Gespräch der Ehefraun
war nicht viel Beßres zuzutrauen.”
„Obschon er sechsundzwanzig war
nahm er noch keine Pflichten wahr.”
„Nach seiner Dame ruft ein Herr,
ein Baby echot mit Geplärr.”
„Du machst mich immer still und froh,
meinn lieber guter Freund Bordeaux!”
(Von wegen Wilhelm Busch…)
„Man gab sich fein und gab sich klug,
von allem gab’s genug, genug.”
Onegin ist ein Mensch des Überdrusses, der Langeweile, des ennui. Puschkin nimmt mit seiner Titelfigur Bezug auf Lord Byrons „Childe Harold“, der im Text auch mehrmals erwähnt wird, etwa im Kapitel I, Vers 38:
„Wie Childe Harold, enttäuscht, verbittert,
erschien er in der großen Welt;
kein Klatsch, kein Spiel, nicht mal das Geld,
kein lieber Blick, von Schmerz durchzittert,
nichts rührte ihn, er war so kühl,
daß ihm an allem nichts gefiel.“
„Childe Harold“, 1812–1818 veröffentlicht, beschreibt die Reisen eines jungen Mannes, der aus Enttäuschung über sein langweiliges Luxusleben Zerstreuung – oder, wie man heute sagen würde, „Sinn” – in fernen Ländern sucht. Das Werk hat autobiografische Züge, die ersten Teile beruhen auf Byrons Reiseerlebnissen in Portugal, Spanien, dem Osmanischen Reich und Griechenland. In den späteren Canti tritt der Autor selbst auf, so dass die Unterscheidung zwischen ihm und dem Protagonisten immer schwieriger wird. Auch im „Onegin“ spricht der Erzähler immer wieder dazwischen und den Leser direkt an, ein später beispielsweise von Gogol oder Dostojewski gern verwendetes Stilmittel, und er plaudert auch über sich selbst (etwa über sein Faible für „Frauenfüßchen”), doch eine Verwechslung mit der Titelfigur schließt er aus:
„Wie freut mich, daß ich so verschieden
von meinem Freund Onegin bin.
So kann kein böswilliger Leser,
kein blechener Posaunenbläser
verleumderisch behaupten, ich,
ich selbst sei deutlich, Strich für Strich,
in meinem Helden zu erblicken,
Onegin sei mein Selbstporträt,
ich sei, wie Byron, ein Poet,
dem stets nur Spiegelbilder glücken;
als könnten Dichter ganz allein
nur selber ihre Helden sein.”
Im literaturwissenschaftlichen Slogan heißt es über „Childe Harold“, das Werk führe den literarischen Archetypus des „Byronschen Helden“ ein, einen Antihelden und Außenseiter, der vor allem mit sich selbst und seinen existentiellen Problemen beschäftigt ist. Der Byronismus, ein tiefes Enttäuschtsein vom Leben, spricht aus Benjamin Constants Adolphe und aus Lermontows Petschorin („Ein Held unserer Zeit”), aber bereits Chateaubriands „René”, 1802 erschienen, gehört in die Reihe dieser großen Gelangweilten. Puschkins Onegin ist ein solcher Außenseiter, ein Vorläufer Petschorins, allerdings fehlt sowohl dem Protagonisten selber als auch dem spöttischen Erzähler das romantische Pathos Byrons. Mit Onegin betritt der Prototyp jenes „überflüssigen Menschen“ die Bühne, der in der russischen Literatur später so omnipräsent werden soll, mit Gontscharows Oblomow als Paradebeispiel; Tschechows „Kirschgarten“ ist voll davon, und der Chebutykin in den „Drei Schwestern“ ist mein Lieblingsexemplar.
Wenn ich vorhin Heine und Busch als Vergleiche bemühte, dann vor allem jener ironischen Distanziertheit und halb sarkastischen, halb amüsierten Nonchalance wegen, mit welcher Puschkin sein Personal und überhaupt des Menschen Geschick behandelt. Aber was heißt hier Personal: Es sind im Grunde ja nur vier Figuren – wobei es sich bei Olga und Lenski bereits um Nebendarsteller handelt –, die vor dem Hintergrund der Petersburger Gesellschaft und der Gutsbesitzerwelt von Tatjanas Familie die Handlung aufführen. Doch das genügt dem Dichter, eine „Enzyklopädie des russischen Lebens” zu schaffen, wie ein zeitgenössischer Kritiker enthusiastisch rühmte.
Übrigens begann Puschkin die Niederschrift seines Hauptwerkes 1823 im Alter von 24 Jahren (anno 1830 schloss er es ab). Er gehörte zu jenen weltklugen Frühvollendeten, über deren Menschenkenntnis unsereins nur staunen kann und für die in der Kunstgeschichte unter anderen Namen wie Mozart oder Tschechow stehen. Während er mit der Figur Onegins aber nur einen Windhund porträtierte, schuf Puschkin mit Tatjana eine der rührendsten Gestalten der Weltliteratur.
***
Mit Nabokov hat sich der Allergrößten einer viele Jahre ans Bein gebunden, um den „Onegin“ nicht nur ins Englische zu übertragen, sondern ihn zudem mit einem über 1000-seitigen Stellenkommentar zu versehen. 1966 prognostizierte er in einem Interview mit The Paris Review, dass er als Autor wegen der „Lolita“ und seiner Arbeit über Eugen Onegin in Erinnerung bleiben werde. Allein diese Tatsache müsste jeden literarisch Interessierten darauf verpflichten, Puschkins Versroman zu lesen.
Allerdings hinterließ Nabokov das Dekret, der „Onegin“ sei nicht in andere Sprachen übertragbar – sofern der Übersetzer sich als Nachdichter verstehe und die Versform beibehalte; er statuierte: „1. Eine gereimte Übersetzung des Onegin ist unmöglich. 2. Es ist hingegen möglich, in einer Reihe von Fußnoten die Modulationen und Reime des Textes und ebenso alle seine Assoziationen und besonderen Merkmale zu beschreiben. 3. Es ist ebenfalls möglich, Onegin einigermaßen sinngetreu zu übersetzen, indem die vierzehn gereimten vierhebigen Zeilen jeder Strophe durch vierzehn reimlose Zeilen von verschiedener Länge ersetzt werden.“
Das Problem kennt jeder, der bei der Lektüre die übersetzte Lyrik mit der ursprünglichen Fassung vergleicht oder selber Gedichte übersetzt hat: Sogar im Genialfall – ich denke beispielsweise an die Übertragung der Shakespeare-Sonette durch Stefan George – ist eine wortgenaue Übersetzung unmöglich, insbesondere wenn man das Reimschema beibehalten will; der Übersetzer muss sich entscheiden, was ihm wichtiger ist, der Ton, der Klang, der Geschmack, die Stimmung, die Aura des Werkes insgesamt – oder die wortgetreue Präzision. Er muss sich, um es auf den Begriff zu bringen, entscheiden, ob er als Übersetzer oder als Nachdichter agieren will, wobei der Nachdichter nicht nur mehr Freiheiten hat, sondern auch ein größeres Risiko eingeht, vor allem dann, wenn das Gefälle vom Autor zu ihm allzu groß ist.
Letztlich führen beide Alternativen auf Holzwege; man müsste also nur Originale lesen. Wo dies nicht möglich ist – und für einen nahezu monoglotten Holzkopf wie mich gilt das fast immer –, bevorzuge ich die Nachdichtung, denn die reine Übersetzung priorisiert automatisch den Inhalt, der in der Lyrik zwar so bedeutend ist wie in jeder menschlichen Mitteilungsform, aber doch deutlicher von der Form überstrahlt wird als in jeder anderen Literaturgattung. Wer ein Gedicht auf dessen Inhalt reduzieren will, nimmt ihm das Eigentliche. Nun ist ein Versroman naturgemäß stärker dem Inhaltlichen verpflichtet als Empfindungslyrik, aber ist der Romaninhalt wichtiger als die Versform?
Nabokov scheint das so gesehen zu haben. Seinem Freund Edmund Wilson, einem amerikanischen Kritiker, schrieb er in einem Brief vom 24. März 1957: „Jetzt zerbreche ich den Text, verbanne alles, was die Ehrlichkeit für verbalen Samt halten könnte, und heiße dafür die unbeholfene Wendung willkommen, die Gräte der mageren Wahrheit.“ Diese Gräte ist der Inhalt. Im Vorwort zu Nabokovs „Onegin“-Übersetzung von 1963 heißt es: „Meinem Ideal der Wörtlichkeit habe ich alles geopfert (Eleganz, Wohlklang, Klarheit, guten Geschmack, heutigen Wortgebrauch und sogar die Grammatik), was der gespreizte Nachahmer höher schätzt als Wahrheit.“
Wilson selber war übrigens einer der ersten, der Nabokovs Verfahren tadelte, weil es gleichermaßen unter des Dichters wie des Romanciers künstlerisches Niveau führe: „Es ist dabei eine kahle und unbeholfene Sprache herausgekommen, die mit Puschkin oder Nabokovs normalem Stil nichts gemein hat.“ Nabokov würde widersprechen mit den tausend Seiten seines Kommentars, also inhaltlich, werkgeschichtlich, ideografisch etc. So ungern ich ihm ein Widerwort gebe: Ein ungereimter „Onegin“ ist und bleibt eine ungereimte Angelegenheit. Der Ton der Dichtung ist es, der mich am stärksten für dieses Meisterwerk einnimmt.
***
Was die gereimten Übertragungen bzw. Nachdichtungen des „Onegin” betrifft, so unterscheiden sie sich naturgemäß erheblich voneinander. Als Beispiel zitiere ich drei Übersetzungen von Strophe 10 aus dem Ersten Kapitel.
„Wie früh verstand er schon die Künste
Der Eifersucht und Heuchelei,
Der Überredung Truggespinste,
Des Launenspiels, der Ziererei,
Der Kunst, bald sanft, bald stolz und eigen,
Bald dienstbar sich, bald kühl zu zeigen!
Wie karg und stumm war hier sein Mund,
Dort wie gesprächig kunterbunt,
Im Liebensbrief, wie überschwenglich!
Wie selbstlos schien sein Herz allein
Von einem Trieb erfüllt zu sein!
Und dieser Blick, bald dreist-verfänglich,
Bald schamhaft-zärtlich, der sogar
Erlogner Tränen fähig war!“
(Theodor Commichau)
„Wie früh verstand er schon zu heucheln,
Vor Eifersucht fast zu vergehn,
Sich ein- und Mißtraun fortzuschmeicheln,
Bald schroff, bald leidend auszusehn,
Stolz mit Devotheit zu vereinen,
Bald aufmerksam, bald kalt zu scheinen!
Wie war sein Schweigen sehnsuchtsschwer,
Wie flammend war beredsam er,
Und wie gelöst in Herzensbriefen!
Wie selbstvergessen konnt er sein,
Nahm eines nur sein Trachten ein!
Wie war sein Blick voll zarter Tiefen,
Verschämt und frech, und notfalls leicht
Auch auf Bestellung tränenfeucht!“
(Rolf-Dietrich Keil)
„Onegin lernte früh zu heucheln,
mit Hoffnungen, mit Eifersucht
sich in die Herzen einzuschmeicheln,
zu tun, also ob er Liebe sucht,
bald stolz, bald demütig zu scheinen
und Lust und Mißmut zu vereinen.
Wie rührend war er schweigsam, scheu,
wie glühend im Gespräch, wie frei,
wie anschaulich in Liebesbriefen!
Und wie er meisterhaft, charmant
sich zu vergessen unterstand!
Wie konnte sich sein Blick vertiefen,
verschämt und dreist und obendrein
auch manchmal feucht von Tränen sein!
(Ulrich Busch)
Ein anderes Beispiel:
„Er schalt Homer und Theokrit
Mit Adam Smith nur dacht‘ er mit“
(Commichau I)
„Und schalt Homer und andre Geister.
Doch Adam Smith war recht sein Meister“
(Commichau II)
„Er schalt Home und Theokrit aus,
Doch kannt er sich bei Adam Smith aus“
(Keil)
„denn statt Homer und Theokrit
las er viel lieber Adam Smit“
(Busch)
Ich präferiere die Version von Ulrich Busch, zumal sie in der Manesse-Bibliothek der Weltliteratur erschienen ist.
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Russen und Deutsche haben, historisch, gemeinsam, dass ihre Herrscherhäuser im Zeitalter des Absolutismus kulturell sehr stark vom Ausland geprägt wurden. Seit Peter dem Großen, der ein Freund „des Westens” war, aus welchem damals der geistige, technische und überhaupt zivilisatorische Fortschritt kam (nicht wie heute „Gender”, „Diversity” und eine Einmischungsallzweckwaffe namens „Menschenrechte”), teilt sich die russische Gesellschaft in „Sapadniki”, West-Affine, und Slawophile. Wie an den deutschen Höfen sprach man am russischen sowie in der besseren Gesellschaft französisch (obwohl Michael Lomonossow bereits 1755 seine große Grammatik des Russischen veröffentlichte). Der literarische Geschmack der russischen Aristokratie war französisch und auch englisch geprägt, während die Musik, namentlich die Oper, italienischen Mustern folgte (auch das war in deutschen Landen nicht anders). Die Architektur orientierte sich am französischen Classicisme, Malerei und bildende Kunst teils an französischen, teils an italienischen Vorbildern, und es waren vorwiegend italienische Architekten, die Petersburg erbauten. Die von Lomonossow gegründete erste russische Universität wurde wiederum nach deutschen Vorbildern errichtet, wie auch das Militär stark unter deutschem Einfluss stand.
Im „Onegin” finden sich zahlreiche Spuren dieser – wie man es heute nennen würde und, was namentlich die Deutschen betrifft, mit Recht so nennt – linguistic submissiveness. Nicht nur ist die Titelfigur stets en vogue mit eleganter Kleidung aus Paris und Luxusartikeln aus London ausgestattet, spricht glänzend französisch (und tanzt die Mazurka perfekt), nicht nur lässt „der Unfug englischer Geschichten/Mädchen auf den Schlaf verzichten”, auch Tatjana schreibt ihr Liebesgeständnis an Onegin auf französisch:
„Nun seh ich aber Schwierigkeiten:
Den Brief Tatjanas muß ich wohl
in unser Russisch umarbeiten,
da er nicht anders klingen soll.
Ich weiß noch nicht, wie ich das mache;
mit ihrer eignen Muttersprache
war Tanja nicht so recht vertraut;
so fremd erschien ihr Wort und Laut,
daß die französisch schreiben mußte.”
Über Tatjana heißt es:
„Sie ist ganz einfach comme il fault…
(Auf russisch nennen wir es so.)”
Ob der Gesellschaftsverächter Puschkin, der sich nach einer ungestörten Dichterexistenz auf seinem Landgut sehnte und von der Hofschickeria förmlich vernichtet wurde, auf der Seite der Slawophilen stand, weiß ich nicht. Als Schöpfer der modernen russischen Literatursprache hat er jedenfalls viel für die Entstehung des russischen Nationalbewusstseins getan (den Rest erledigte Napoleon, der ja auch viel für die Entstehung des deutschen Nationalbewusstseins tat). Weil das unter den heutigen Verhältnissen leicht missverstanden werden kann, sei abschließend noch einmal Nabokov zitiert, aus seinem Vortrag „Russische Schriftsteller, Zensoren und Leser” von 1955, wo es heißt:
„Der russische Leser im alten, gebildeten Russland war gewiss stolz auf Puschkin und Gogol, aber ebenso stolz war er auf Shakespeare und Dante, auf Baudelaire und Edgar Allen Poe, auf Flaubert und Homer, und das machte seine Stärke aus. An dieser Frage habe ich ein gewisses persönliches Interesse, denn wären meine Vorfahren keine guten Leser gewesen, so wäre ich heute kaum hier, um in dieser Sprache über diese Dinge zu sprechen.”
Nabokov hat bekanntlich das singuläre Kunststück, oder besser: das Wunder vollbracht, einer der besten Autoren aller Zeiten auf englisch zu werden, nachdem er einer der besten Autoren aller Zeiten in russischer Sprache gewesen ist.
„Leser werden frei geboren und sollten auch frei bleiben”, fuhr er fort und beendete seinen Vortrag mit dem Puschkin-Gedicht „Aus Pindemonti”, das er selber ins Englische übertragen hat (in Versen übrigens); hier folgt zunächst die deutsche Version von Arthur Luther aus dem Jahr 1923, dann die Übersetzung Nabokovs.
Auf jene Rechte leg ich keinen großen Wert,
Die manchen hellen Kopf nur allzu sehr gestört.
Wenn mir das süße Los, die Steuern zu verneinen,
Die Götter weigerten, so macht mich das nicht weinen,
Noch schmerzt es mich, dass man auf meinen Rat nicht hört,
Wenn heute ein Monarch dem andern Krieg erklärt;
Ob unsre Presse frei nasführt die braven Christen,
Ob die Zensur bedrängt den Witz des Journalisten –
Nur Worte, Worte sind’s, wie jener Dichter spricht.
Die Freiheit, die mein Herz ersehnt, ist dieses nicht,
Und was mich lockt und bannt, sind andre, höhere Rechte.
Ob wir der Majestät, ob wir des Volkes Knechte –
Ist es nicht einerlei? Doch keinem Rechenschaft
Ablegen, nur sich selbst und seiner eignen Kraft
Vertrauen und sein Haupt, sein Denken, sein Gewissen
Der Macht und der Livree zulieb nicht beugen müssen,
Nach eignem Trieb und Wunsch frei schweifen auf der Spur
Der ewig schaffenden, der göttlichen Natur,
Und wenn den spröden Stoff erfüllt mit heißem Leben
Des Künstlers Genius – in stummer Andacht beben:
Das nenn ich Glück und Recht! …
I value little those much vaunted rights
that have for some the lure of dizzy heights;
I do not fret because the gods refuse
to let me wrangle over revenues,
or thwart the wars of kings; and ‘tis to me
of no concern whether the press be free
to dupe poor oafs or whether censors cramp
the current fancies of some scribbling scamp.
These things are words, words, words. My spirit fights
for deeper Liberty, for better rights.
Whom shall we serve – the people or the State?
The poet does not care – so let them wait.
To give account to none, to be one’s own
vassal and lord, to please oneself alone,
to bend neither one’s neck nor inner schemes,
nor conscience to obtain some thing that seems
power but is a flunkey’s coat; to stroll
in one’s own wake, admiring the divine
beauties of Nature and to feel one’s soul
melt in the glow of man’s inspired design
– this is the blessing, these are rights!