Nihilistischer Spätling
Über Michel Houellebecq, den bedeutendsten Literaten unserer Zeit
Wohl jeder halbwegs in historischen Kategorien denkende Mensch stellt sich im Laufe seines Lebens die Frage, als wessen Zeitgenosse er einmal sein Dasein verbracht haben wird. Wer mögen die bleibenden Gestalten jener Epoche gewesen sein, in der man selber lebte? Sogar in der Sphäre des Politischen weiß man heute, anders als noch zu Napoleons und Bismarcks, Stalins und Hitlers Zeiten, nicht mehr recht, welche Figur über die schiere Erwähnung in Regentschaftsannalen hinaus bleibende Geltung beanspruchen kann. Wie heikel wird die Prognose dann aber erst in den Künsten! Hier urteilt die Nachwelt mit erstaunlicher Verläßlichkeit konträr zum Geschmack der jeweiligen Vergangenheit. Friedrich von Matthisson etwa wurde von vielen Zeitgenossen als Lyriker über Goethe gestellt, Anton Raphael Mengs galt seiner Mitwelt als der größte Maler seit Raffael, Sardou als größter Dramatiker seines Jahrhunderts, Meyerbeer als Vollender der Oper. Die populäre Zweitklassigkeit triumphiert im Urteil der Zeitgenossen gemeinhin über das Genie, und erst eine Generation später tritt das Überzeitliche und Klassische zutage.
Wer also mögen die künftigen Klassiker unserer Zeit sein? Ich habe einmal auf die Frage, wessen Zeitgenossenschaft mich mit Stolz erfülle, mit den Namen Stanley Kubrick und Carlos Kleiber geantwortet. Ein Literat fehlte bislang. Deshalb sei hier der Name Michel Houellebecq hinzugesetzt.
Seinen einsamen Rang hat der Franzose Anfang Oktober 2017 mit der Dankesrede zur Verleihung des Frank-Schirrmacher-Preises – über die groteske Kluft zwischen Namenspatron und Preisträger sei der Mantel des Schweigens gebreitet – neuerlich unter Beweis gestellt. Die lakonische Unverblümtheit, mit der Houellebecq in dieser Rede die europäische Linke in die aggressive Bedeutungslosigkeit verabschiedet, den radikalen Islam in seinem Blutdurst mit dem Jakobinertum vergleicht und die Prostitution verteidigt, weist ihn als einen geistigen Libertin aus, um den man unsere Nachbarn nur beneiden kann.
Im Falle Houellebecqs werden wir freilich nicht auf die eben erwähnte Kluft im Urteil von Mit- und Nachwelt stoßen; der Mann ist schließlich heute bereits ein Weltstar. Allerdings keiner, den die Welt hofiert, eher blickt sie mit Skepsis und einem gewissen Widerwillen auf ihn. Der Franzose wird wahlweise als Frauenfeind, Nihilist, Rassist, Rechtsintellektueller, Anarchist und Islamgegner gehandelt. In den deutschen Medien erscheint sein Name zwanghaft mit dem Zusatz „Skandalautor“ oder „Provokateur“. Er selbst wählte in aller Bescheidenheit die Bezeichnung „Spießer“ zur Selbstcharakterisierung. Im Gegensatz zu fast allen Spießern dieses Planeten hat er freilich die Marotte, in aller Schonungslosigkeit auszusprechen, was er für die Wahrheit hält. Normalerweise wird man dafür gelyncht. Houellebecq hatte Glück, er wurde Bestsellerautor. Er hat diese Rolle keinesfalls gesucht, von allen Romanciers, die hohe Auflagen erzielten, dürfte er derjenige sein, der die geringsten Konzessionen an den Leser macht.
Auf eine zumindest hierzulande undenkbare Weise macht er auch sich selbst gegenüber keinerlei Konzessionen. „Es handelt sich bei uns beiden um ziemlich verachtenswerte Individuen“: Mit diesen Worten eröffnete Houellebecq einen 2008 unter dem Titel „Volksfeinde“ veröffentlichten Dialog mit dem salonbolschewistischen Leitartikler Bernard-Henri Lévy. Ohne dem geschätzten und dem weniger geschätzten Welschen mit dem folgenden Vergleich zu nahe treten zu wollen, aber kann sich jemand vorstellen, daß Richard David Precht dergleichen im Dialog mit Elke Heidenreich vortrüge?
Der 1958 in La Réunion geborene Landwirtschaftsingenieur begann seine schriftstellerische Karriere als eine Art Anti-Hemingway. Im Gegensatz zum Männerschweiß-Heroismus des amerikanischen Großkitschiers strotzen die Lebenswege seiner Figuren vor Niederlagen, Peinlichkeiten und Selbstanklagen. Mit seinem ersten Roman oder Quasi-Roman „Ausweitung der Kampfzone“ brachte er einen völlig neuen Ton der Verzweiflung in die französische Literatur. Auf der literarischen Bühne erschien der Verkünder und Bekenner des sexuellen Pauperismus. Seine Protagonisten haben nichts zu verlieren als ihre Unattraktivität, ihre Minderwertigkeitskomplexe und ihre Porno-Abos. Die sogenannte sexuelle Befreiung habe die meisten Menschen nur versklavt und gedemütigt, statuierte dieser Autor, neben dem Kampf um die Lebensgrundlagen sei nun auch noch der um die Sexualpartner getreten, doch so üppig sich das Angebot an juveniler weiblicher Schönheit ausnehmen mag, für die meisten Männer endet die Werbung mit der deprimierenden Einsicht, daß sie für die Schönen nicht in Frage kämen. Der sexuelle Liberalismus sei nichts als die konsequente Fortsetzung des Wirtschaftsliberalismus, die „Ausweitung der Kampfzone“ auf alle Altersstufen und Gesellschaftsklassen. Zum relativen Ruhm des linksrheinischen Literaturbetriebs muß festgehalten werden, daß er auf Houellebecq nicht mit Exklusion, sondern mit Preisen reagierte – freilich vor allem aus Gründen der Frivolität. Hätten diese Leute damals gewußt, worauf sie sich einlassen, sie hätten den neuen O‑là-là wohl eher in irgendeine Wüste gejagt.
Houellebecq ist der Autor der westlichen Dekadenz. Seine Figuren haben die Fähigkeit verloren, in Generationen zu denken. Unfähig und vor allem unwillig, Kinder zu zeugen, träumen sie doch von Unsterblichkeit und ewigen Leben. Seine Bücher beschreiben die Erosion einer Gesellschaft und die Vereinzelung ihrer Mitglieder zu „Elementarteilchen“.
1998 erschien unter diesem Titel Houellebecqs zweiter und essentiellster Roman. Er schildert das Leben der Halbbrüder Michel Djerzinski und Bruno Clément. Beide sind Ende der 1950er Jahre geborene Söhne einer egoistischen Mutter, die ihr Leben, dem allgemeinen Trend des Zeitgeistes folgend, mit sexuellen Abenteuern und Selbstfindungexperimenten verbringt, jedoch unfähig ist, eine emotionale Beziehung zu ihren Kindern aufzubauen. Beide wachsen getrennt von der Mutter bei ihren Großmüttern auf, beide nehmen an ihren Seelen Schaden, beide werden weder eine stabile Beziehung erleben noch eine Familie gründen. Bruno, der am Internat jahrelang die Schikanen älterer Mitschüler durchleiden muß, wird später Lehrer. Er ist ein pathologisch sexbesessener Mensch, hat aber beim anderen Geschlecht kein Glück. Der bis an die Grenze zum Autismus introvertierte Michel wiederum wird ein bekannter Molekularbiologe, zeigt aber zeitlebens wenig Interesse an Frauen und an seinen Mitmenschen überhaupt. Für beide scheint das Schicksal eine Wendung bereitzuhalten, als sie sich im Alter um die 40 zum ersten Mal verlieben. Doch das Glück ist kurz. Brunos Freundin Christiane erkrankt an Steißbeinnekrose und begeht Selbstmord. Bruno verliert darüber den Verstand und endet in einer psychiatrischen Klinik. Michel trifft seine Jugendfreundin Annabelle wieder, die jedoch an Gebärmutterkrebs erkrankt und ebenfalls ihrem Leben ein Ende setzt. Diese parallele Engführung in die Katastrophe, diese Wurstigkeit im Umgang mit dem Personal muß der Leser bei Houellebecq immer hinnehmen. Der Autor schießt sich gewissermaßen nur den Weg durch sein Personal frei, um zur Sache zu kommen.
Michel verliert jegliche emotionale Bindung an seine Mitwelt und widmet sich nurmehr noch seinen Forschungen. Er zerbricht die Menschheitsgeschichte in zwei Teile, indem er die theoretischen Grundlagen für eine geschlechtslose und unsterbliche Menschenrasse entwickelt, die die bisherige Menschheit ablösen soll. Dieser Neue Mensch oder Übermensch vermehrt sich durch Klonen, besitzt keine Individualität mehr und kennt weder Alter noch Tod. Die alte Menschheit aber, jene der sexbesessenen Soziopathen und introvertierten Sozialautisten, die Menschheit des Leidens, des Egoismus und der Sinnsuche, stirbt aus.
Im Roman „Die Möglichkeit einer Insel“ (2005) setzt der Autor diese Gedankenspiele fort. Inwieweit er sie für bare Münze nimmt oder bloß als interessante Erzählerperspektive benutzt, steht dahin. Das Buch spielt parallel in der Gegenwart und in der fernen Zukunft. Erzählt wird die Lebensgeschichte von Daniel, einem einst erfolgreichen, in die Jahre gekommenen Conférencier. Es ist eine typische Houellebecq-Figur: intelligent, aber daseinserschöpft und antriebsarm, alleinlebend, kinderlos, glaubenslos, zynisch, sich selbst geringschätzend, immer auf der Suche nach Sex und von der Überzeugung durchdrungen, daß mit dem eigenen Ende alle Dinge überhaupt enden.
Zufällig kommt Daniel mit der Sekte der „Elohimiten“ in Kontakt, die unter anderem Forschungen zur künstlichen Replikation von Menschen betreibt. Die „Elohimiten“ verbinden sexuelle Freizügigkeit mit dem Versprechen, Menschen gentechnisch zu optimieren und zu klonen. Wer Mitglied wird, muß der Sekte nach seinem Tode allen Besitz vererben. Als Gegenleistung wird seine DNA konserviert und durch Klonen „unsterblich“ gemacht. Die zweite Zeitebene des Romans spielt 2000 Jahre später: Die Erde sich hat infolge von Atomexplosionen und einer Verschiebung der Erdachse klimatisch und geologisch stark verändert. Die Menschen sind großenteils ausgestorben, die wenigen Überlebenden auf ein vorzivilisatorisches Niveau zurückgesunken. Es gibt aber noch die sogenannten „Neo-Menschen“, die Nachfahren der am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts entstandenen Sekte der „Elohimiten“. Zu ihnen gehören die genetischen Nachkommen des Ich-Erzählers Daniel. Diese transhumane Spezies deckt ihren Energiebedarf durch Photosyntese und kennt kaum mehr Gefühle. Mit verständnisloser Neugier lesen die Neo-Menschen in den Lebensberichten ihrer genetischen Ahnen von menschlichen Leidenschaften wie der Liebe oder der Gier nach Glück …
Zurück in die Gegenwart. In seinem Roman „Plattform“ hat Houellebecq ein Plädoyer für den Sextourismus geschrieben und unmittelbar vor dem 11. September 2001 den islamischen Terror thematisiert. In „Unterwerfung“ stellt er dann die naheliegendste Frage der Gegenwart, nämlich: Was geschieht in den westeuropäischen Ländern, wenn der stetig wachsende und im Vergleich mit den Eingeborenen vor allem deutlich jüngere muslimische Bevölkerungsteil anfängt, seine Vorstellungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens in die Politik „einzubringen“? Am Erscheinungstag von „Submission“ drangen Dschihadisten in die Redaktion der Pariser Satirezeitung „Charlie Hebdo“ ein, die gerade mit Houellebecq als Titelfigur herausgekommen war, und massakrierten die Mitarbeiter. Der Mann hat also mindestens „Timing“, vielleicht besitzt er sogar prophetische Gaben.
Seit „Unterwerfung“ erschienen ist, häufen sich auch hierzulande die Indizien dafür, daß der „Skandalautor“ womöglich nichts anderes als das Script für die nähere europäische Zukunft entworfen hat (erinnern wir uns nur an den peinlichen Auftritt der beiden deutschen Kirchenoberhäupter auf dem Jerusalemer Tempelberg, als sie vor dem Betreten des Felsendoms ihre Bischofskreuze ablegten). Um einen Wahlsieg des Front National zu verhindern, verbünden sich im Roman die vormals etablierten, aber rasant Wählerstimmen verlierenden Parteien mit der Bruderschaft der Muslime, deren Vorsitzender Mohammed Ben Abbas dank dieser Unterstützung zum Präsidenten der Republik gewählt wird. Danach verändert sich Frankreich naturgemäß, aus der Perspektive des Erzählers allerdings fast immer zum Positiven. Er wird schließlich konvertieren, seinen Lehrauftrag an der Sorbonne zurückbekommen und sich mehrere Ehefrauen nehmen, wie andere Professorenkollegen auch.
Der neue Präsident ist ein moderater Herrscher, der behutsam vorgeht, also den Weg der Korrumpierung jenem der Gewalt entschieden vorzieht. Die Muslimbruderschaft zeigt wenig Interesse daran, die Marktwirtschaft zu bekämpfen, die Rechtsprechung zu islamisieren oder die Leitlinien der bisherigen französischen Außenpolitik grundlegend in Frage zu stellen. Das einzige Ressort, auf dessen Beherrschung sich die neuen Machthaber nachdrücklich kaprizieren, ist die Bildung. „Wer die Kinder unter Kontrolle hat, der hat die Zukunft unter Kontrolle und Schluß“, erklärt ein Beamter. Da die Muslimpolitiker ohnehin das fruchtbarste Segment der französischen Bevölkerung vertreten, ist die sanfte Islamisierung des Landes damit durchgesetzt.
Houellebecq insistiert darauf, daß der europäische Mensch, daß der gesamte überalterte und mutlos gewordene Erdteil in hohem Maße erlösungsbedürftig geworden ist. Führte der Weg seiner Protagonisten bislang stets nur durchs Nadelöhr des Sexuellen ins temporäre Glück, um nach dem Rausch der Paarung den Kater der Vereinsamung und des Alterns um so entsetzlicher zu spüren, bringt er in „Unterwerfung“ die Erlösung durch den religiösen Kniefall ins Spiel. Die verschiedenen Parteiungen Frankreichs können sich unter einem neuen Stern versöhnen. In der gemeinsamen Unterwerfung unter den Islam finden sie endlich jene Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, die der Franzose seit 200 Jahren offenbar notorisch sucht. Den Preis zahlen die emanzipierten Frauen. „Islamfeindlich“ ist dieser Roman jedenfalls nicht.
Bei näherer Betrachtung hat Houellebecq zwar verschiedene Romane verfaßt, aber im Grunde nur ein einziges Buch immer weiter fortgeschrieben. Fünf ziemlich willkürlich ausgewählte Stellen aus seinen Romanen mögen das illustrieren:
„Ich war unfähig, für mich selbst zu leben, und für wen sonst hätte ich leben sollen? Die Menschheit interessierte mich nicht, sie widerte mich sogar an. Ich betrachtete die Menschen keineswegs als meine Brüder, und ich tat es umso weniger, wenn ich einen kleineren Ausschnitt der Menschheit in Augenschein nahm, so zum Beispiel denjenigen, der aus meinen Landsleuten oder meinen ehemaligen Kollegen bestand. Dennoch mußte ich wohl anerkenne, daß diese Menschen mir unangenehm ähnelten, daß sie meinesgleichen waren, auch wenn es gerade diese Ähnlichkeit war, der mich dazu veranlaßte, sie zu meiden.“
„Das Scheitern einer Zivilisation ist eine traurige Angelegenheit, es ist traurig, mit ansehen zu müssen, wie sich ihre klügsten Köpfe verrennen – zunächst fühlt man sich leicht unwohl in der eigenen Haut, und schließlich sehnt man sich nach einer Islamischen Republik.“
„Bis zum Schluß werde ich ein Kind Europas, ein Kind des Kummers und der Schande bleiben. Ich habe keinerlei Hoffnungsbotschaft zu verkünden. Ich empfinde keinen Haß auf die westliche Welt, höchstens tiefe Verachtung. Ich weiß nur, daß wir alle, die wir hier sind, von Egoismus, Masochismus und Tod durchdrungen sind. Wir haben ein System geschaffen, in dem es einfach unmöglich geworden ist zu leben; und dieses System exportieren wir noch dazu.“
„Wenn man die Ideologie des ständigen Wandels akzeptiert, akzeptiert man auch die Vorstellung, daß das Leben eines Menschen auf sein individuelles Dasein beschränkt ist und daß die früheren oder künftigen Generationen in seinen Augen keinerlei Bedeutung haben. So leben wir jetzt, und ein Kind zu haben, hat für einen Mann heutzutage überhaupt keinen Sinn mehr.“
„Vor unseren Augen uniformiert sich die Welt; die Telekommunikation schreitet unaufhaltsam voran; neue Apparaturen bereichern das Wohnungsinventar. Zwischenmenschliche Beziehungen werden zunehmend unmöglich, was die Zahl der Geschichten, aus denen sich ein Leben zusammensetzt, entsprechend verringert. Und langsam erscheint das Antlitz des Todes in seiner ganzen Herrlichkeit. Das dritte Jahrtausend läßt sich gut an.“
Zwischen diesen Zitaten liegen 21 Jahre. Sie stammen aus den Romanen „Unterwerfung“ (2015), „Die Möglichkeit einer Insel“ (2005 – ja, bereits damals geisterte der islamische Staat durch sein Werk), „Plattform“ (2002), „Elementarteilchen“ (1998) und „Ausweitung der Kampfzone“ (1994). Houellebecqs Werk ist ein Kontinuum, in welches sich seine Essays und sogar seine Lyrik nahtlos einfügen, zwei Genres, die er in aller Unbedenklichkeit zuweilen in seine Romane amalgamiert.
Bleibt die Frage nach dem im eigentlichen Sinne künstlerischen Rang Houellebecqs. Ist der Franzose wirklich ein überlebensgroßer Schriftsteller, ein Meister der Form, ein Stilist sui generis, ein unsterblicher Menschenschilderer, ein fesselnder Erzähler, kurzum: ein Achttausender der Literaturgeschichte wie Proust, Kafka oder Nabokov? Jetzt stoßen wir auf ein Paradoxon. Die Sprache seiner Romane ist höherer Standard, hier arbeitet kein Meisterstilist; die Plots wirken gestellt, viele Selbstmorde oder Unfälle verhindern, daß Figurenfäden „unnötig“ ausgedehnt werden; die Figuren selber bleiben merkwürdig blaß. Immer wieder eingestreute kommentierende und essayistische Passagen deuten an, daß die Gestalten keineswegs nur in ihrer romanhaften Existenz beschrieben werden, sondern daß ihnen nach der Auffassung des Autors eine Bedeutung zuwächst, die darüber hinausgeht.
Keine seiner Figuren stellt Houellebecq dem Leser plastisch und sinnlich konkret vor Augen, er ist kein Wahrnehmungserotiker, gerade in seinen seltsam sterilen erotischen Szenen wird das deutlich. Und doch besitzen seine Bücher eine beeindruckende Wahrhaftigkeit. Houellebecq verfügt in hohem Maße über Apperzeptionsfähigkeit, wie Heimito von Doderer es nannte – also die Fähigkeit, die Welt zu sehen, wie sie ist. Von einem Satz auf den anderen vermag er es, eine Verzweiflung und Trostlosigkeit ohnegleichen zu erzeugen.
Houellebecqs Romane sind die höchste Form dessen, was Vladimir Nabokov als „Ideenliteratur“ verachtete. Houellebecqs Figuren agieren, wie gesagt, niemals nur als literarische Individuen, sie treten immer zugleich als durchaus plakative Symptome im Dienste der Zeitdiagnose auf. Keine dieser Figuren besitzt etwas Archetypisch-Einprägsames, keiner seiner Charaktere wird unsterblich werden wie Kapitän Ahab oder Anna Karenina, aber seinen Büchern darf man gleichwohl eine hohe Halbwertszeit prophezeien. In einer unio mystica mit allen seinen Ich-Erzählern ist Houellebecq selber der Archtetyp. Er verkörpert, analog zu Nietzsches Letztem Menschen, den Letzten Europäer. Als Kind seiner Zeit und echter Dekadent ist er außerstande, etwas anderes zu tun, als um sich selbst zu kreisen. Houellebecq mag keiner der ganz großen Schriftsteller sein, aber er ist der bedeutendste Literat unserer Zeit.
Natürlich ist der Mann viel zu reflektiert, als daß ihm dieser Befund bei der Selbstbetrachtung entgangen wäre. Bereits 1995 vertraute er dem Magazin „Art Press“ an, er sei „ein wenig überrascht, wenn man mir sagt, daß mir psychologische Porträts von Individuen, von Personen gelingen“. Er habe „oft den Eindruck, daß die Individuen in etwa identisch sind, daß das, was sie ihr Ich nennen, nicht wirklich existiert, und daß es in gewissem Sinne einfacher ist, den Gang der Geschichte zu definieren“.
Dieser Gang ist ein Niedergang, und er verläuft historisch in den Stadien: Trennung von Sex und Fortpflanzung, Verabsolutierung der Lust, Liberalisierung der Lust, Zerstörung der Familie, Zerstörung der Tradition, Abschaffung des Kinderwunsches, Entwertung des Alters, Vernutzung aller Dinge im Namen der individuellen Freiheit, Tod der westlichen Kultur.
Der Chronist dieser Entwicklung ist körperlich in den vergangenen zehn Jahren auf schockierende Weise gealtert, sein Hirn indes scheint vom Verfall nicht tangiert zu sein. „Der jugendliche Körper ist das einzige begehrenswerte Gut, das die Welt je hervorgebracht hat“, hat Houellebecq geschrieben. Das ist sein Credo, und seine Theodizee lautet: „Der einzige Ort auf der Welt, an dem ich mich je wirklich wohlgefühlt habe, war in den Armen einer Frau, wenn ich tief in ihrer Scheide steckte; und ich sah keinen Grund, warum sich das in meinem Alter ändern sollte. daß es überhaupt so etwas wie eine Muschi gab, war schon als solches eine Segnung, sagte ich mir, und allein die Tatsache, daß ich mich darin verkriechen konnte und mich dabei wohl fühlte, war Grund genug, um diesen beschwerlichen Weg fortzusetzen“ („Die Möglichkeit einer Insel“).
In „Plattform“ erklärt der Ich-Erzähler: „Es war nicht sicher, ob die Gesellschaft sehr lange mit Individuen wie mir überleben konnte.“ Wahrscheinlich nicht, aber über diesen einen auserwählten Fall darf man sagen, daß die Gesellschaft durch ihn überlebt, wenn auch nur literarisch, wenn auch nur als Flaschenpost eines degenerierten, nihilistischen Spätlings.
(Acta diurna vom 9. Oktober 2016)