Heute ist der 100. Todestag von Giacomo Puccini. Der Vollender der italienischen Oper starb, knapp 66jährig, im Spital zu Brüssel, wohin er sich zur Behandlung seines Kehlkopfkrebsleidens begeben hatte. Der Komponist war ein leidenschaftlicher Raucher – es gibt kaum ein Photo, auf dem man ihn ohne Zigarette sieht. (Am Rande: Die Frage, ob es ohne sein Laster seine Musik überhaupt gäbe, kann hier lediglich gestellt, aber kaum beantwortet werden. Merke nämlich Peter Rühmkorf: „Wer sich nicht ruiniert, wird nichts.”)
Am späten Vormittag des 29. November 1924 gaben die Kinder Tonio und Fosca seinen Tod offiziell bekannt. Noch am selben Tag verkündete Mussolini die Nachricht im italienischen Parlament, und die Abgeordneten erhoben sich zu einer Schweigeminute von ihren Plätzen. Die Mailänder Scala blieb an diesem Abend geschlossen. An der New Yorker Metropolitan Opera fügte man Chopins Trauermarsch in die laufende Vorstellung von „La Bohème” ein. Die italienischen Zeitungen erschienen am nächsten Morgen schwarzumrandet. Die Leiche Puccinis wurde in seinem Sterbezimmer zwei Tage lang aufgebahrt. Tausende Menschen säumten die Straßen Brüssels, als der mit der italienischen Flagge sowie Kränzen des belgischen und italienischen Königshauses bedeckte Sarg zum Trauergottesdienst in die Kirche Sainte-Marie überführt wurde.
Der „König der Melodien” (so der Londoner Daily Express) und „Verdi des kleinen Mannes” (so in stupender Ahnungslosigkeit Kurt Tucholsky) gehörte zu den bekanntesten Menschen seiner Zeit und wurde vom Publikum gefeiert wie ein Souverän. Bis heute gehört er zu den vier, fünf Komponisten, deren Werke nicht nur auf allen Erdteilen gespielt werden, sondern in der Regel auch ausverkauft sind. Die parallele Geringschätzung des Maestros aus Lucca ist ein Unterprivileg sogenannter Intellektueller (sowie zeitgenössischer Konkurrenten); ich habe beispielsweise noch nie mit einem Dirigenten gesprochen, der ihn nicht außerordentlich schätzte. Wahrscheinlich mögen die besagten Intellektuellen Puccinis Musik nicht, weil sie schön und gefühlswahr ist – und weil man sich in seinen Opern keine Minute langweilt. Überdies hat der Maestro sich geweigert, den Weg ins ewige Eis der Atonalität auch nur ansatzweise zu beschreiten. Der Hauptaufgabe des modernen Künstlers, der Gesellschaftskritik, entzog er sich ebenfalls – so einem Menschen musste man misstrauen.
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Meine beiden Lieblingsanekdoten über bzw. mit Puccini betreffen den Sinnenmenschen.
Die erste: Bei der regionalen Premiere einer Puccini-Oper in Anwesenheit des Komponisten sah man diesen in der Aktpause leidenschaftlich auf einen Mann einreden. Danach eilten die Journalisten zu dem Herren mit der Bitte, er möge doch erzählen, was der Meister zur Aufführung gesagt habe. Doch der musste sie enttäuschen: Puccini habe ihm lediglich beschrieben, wie man Pasta mit Seemuscheln zubereite.
Die zweite handelt vom Schürzenjäger. Puccini war nach Alma Mahlers Worten der schönste Mann, den sie jemals gesehen habe, „die Weiber rissen sich um ihn”. Mehrere Jahre lang hatte Puccini eine Affäre mit der deutschen Baronin Josephine von Stengel. Im August 1912 weilt er mit der damals 26-jährigen in Bayreuth. Die beiden steigen im Hotel „Goldener Anker” ab, das Gästebuch verzeichnet: „Grase, avocatto, Turin” und „Giovani, Agloria”. Ein Sprachscherz, was die Dame anbelangt, denn übersetzt heißt a gloria giovane „zum Ruhm der Jugend” – die Holde ist exakt halb so alt wie ihr Liebhaber. Puccinis Inkognito gerät jedoch ins Wanken, als ein italienischer Wagnerianer, der gerade zu Gast bei Cosima Wagner ist, den berühmten Komponisten im Festspielhauspublikum erkennt und Cosima darauf hinweist, die ihn prompt in ihre Loge bitten lässt. Puccini leugnet heftig, derjenige zu sein, für den man ihn zu recht hält – er bei Wagners Witwe in der Loge, das würde tags darauf in den Zeitungen stehen, und seine Frau Elvira ist extrem eifersüchtig (zugegebenermaßen hatte selten eine Ehefrau mehr Gründe dafür). Schließlich begreift sein Landsmann, dass hier die Ehre einer Dame auf dem Spiel steht; er kehrt zu Cosima zurück und erklärt, dass er sich geirrt habe.
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Zuweilen begab es sich, dass junge Sänger und Sängerinnen in Puccinis Haus in Torre del Lago (heute: Torre del Lago Puccini) aufkreuzten, um dem Maestro vorzusingen; die Frauen streng beäugt von Elvira. Eines Tages wurde ein junger Tenor vorstellig. Der Komponist bat ihn in sein Arbeitszimmer, setzte sich an den Flügel, begann zu spielen, und der Sänger setzte ein. Puccini brach sofort ab, drehte sich dem jungen Mann zu und fragte: „Wer hat sie zu mir geschickt? Gott?”
Der Name des Tenors war Enrico Caruso.
(Es kann aber auch sein, dass der Tenore assoluto diese Geschichte erfunden bzw. pointiert zugespitzt hat.)
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Meine Begeisterung für Elvira Puccini rührt daher, dass sie ihrem Mann, bevor der sich zum Weltruhm hinaufkomponiert hatte, beständig mit dem Vorwurf in den Ohren lag: „Verdi hätte in dieser Zeit schon drei Opern komponiert!” Als ich meinem lieben Weib erzählte, dass Elvira aus Kummer und Nervenschwäche der offiziellen Beerdigungszeremonie ihres Mannes am 3. Dezember 1924 im Mailänder Dom fernblieb, versicherte sie mir, sie werde dereinst, ganz lustige Witwe, meine Grablege als Aufgalopp meiner potentiellen Nachfolgekandidaten betrachten.
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Das Tucholsky-Zitat oben ist nur zur Hälfte wiedergegeben; es lautet vollständig: „Puccini ist der Verdi des kleinen Mannes, und Lehár ist dem kleinen Mann sein Puccini.” Franz Lehárs populärste Operette ist „Die lustige Witwe”. Ich finde es bemerkenswert, dass einer der größten Witwenmacher aller Zeiten, A. Hitler, gerade dieses Werk ganz besonders mochte.
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Wen’s aus gegebenem Anlass interessiert (und wer’s noch nicht kennt): In meinen Klassik-CD-Kolumnen habe ich mich zu „Manon Lescaut”, „Tosca”, „Madama Butterfly” und „Il Trittico” und im Acta-Eintrag vom 4. August zu „La Fanciulla del West” eingelassen.
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PS: Der Deppenfunk – in diesem Falle die Deutsche Welle – meldet sich so unvermeidlich wie verwechselbar zum Thema.
Heute noch aktuell sein – ganz wichtig. Popstar gegen Tyrannei. Hitproduzent gegen sexuelle Ausbeutung. Puccini gegen Putin. Puccini gegen Trump.
Sie meinen, ich scherze? Schauen Sie mal:
Turandot, die freiermordende keusche Prinzessin aus chinesischer Sagenzeit, ist ein musikalisches Sinnbild gegen 77 Millionen amerikanische Tyrannenwähler? Na was denn sonst! Ihre Botschaft lautet schließlich, meisterhaft auf den Punkt gebracht: You never will grab my pussy!
Befragt bzw. zitiert wird übrigens der Kölner Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen, der eben eine Puccini-Biographie veröffentlicht hat. Über den Gegenstand seines Interesses spricht er die – hiermit von mir als geflügelt zertifizierten – Worte: „Gründe für seinen Erfolg habe ich immer in der Qualität der Musik vermutet, und je mehr ich mich damit beschäftigt habe, desto mehr bin ich auch dahintergekommen, dass es tatsächlich an der Qualität der Musik liegt und nicht am schlechten Geschmack des Publikums, wie viele böse Zungen ja lange Zeit behauptet haben.”
Wem solche Erkenntnisse im Gedankenfach reifen, der schreibt am besten ein Buch und teilt’s der Welt mit, ehe er’s womöglich wieder vergisst.
„Neben Puccinis hollywoodreifem Privatleben aber ist sein größeres und wichtigeres Vermächtnis seine Kunst”, sekundiert vergleichbar geschmackssicher die Kulturredakteurin der Deutschen Welle.
In der Münchner Neuen Pinakothek hängt ein Gemälde von Gabriel Cornelius von Max, auf dem Sie die beiden vielleicht finden können.
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PS zum PS: Natürlich ist „Madama Butterfly” (auch) ein „Aufschrei gegen sexuelle Ausbeutung und Kolonialismus”, wie Jacobshagen meint, wenngleich eingeräumt werden muss, dass Japan selbst Kolonialmacht und, trotz der „Ungleichen Verträge”, keine Kolonie war. Aber im Wesentlichen erscheint Cio-Cio-San als Archetyp der verlassenen Frau, und deswegen können sich seither Millionen Frauen mit der kleinen Gheisa identifizieren. Die psychologische Komponente überwiegt die gesellschaftliche bei weitem. Die Gheisa ist eine sexuell ausgenutzte Betrogene, aber auch eine „Selbstirreführerin” (Eckhard Henscheid) von geradezu pathologisch klettenhafter Treue. Sie muss ja nicht drei Jahre lang auf diesen blöden Ami warten, von dem sie sich unvorsichtigerweise in Kind hat machen lassen.
In gewissem Sinne ist die „Butterfly” eine antiamerikanische Oper. Der US-Marineleutnant Pinkerton, Cio-Cio-Sans Käufer und Scheinheiratspartner, ist die vielleicht unsympathischste Tenortype der Operngeschichte (am Ende packt ihn immerhin das schlechte Gewissen). Seine Arioso „Dovunque al mondo“, in welcher er das Take it easy-Gefühl des weltausgreifenden Yankees preist, zitiert zu Anfang die Melodie von „The Star-Spangled Banner”, die heute jeder Hörer als USA-Nationalhymne hört, doch als die Oper 1904 uraufgeführt wurde, war sie es noch nicht (erst 1916 erhielten die amerikanischen Militärkapellen von Präsident Wilson die Order, dieses Lied zu offiziellen Anlässen zu spielen). Aber noch mehr beschreibt dieses Werk, auch und gerade musikalisch, einen Zusammenprall der Kulturen, der bei aller Bereitschaft Cio-Cio-Sans, die Kultur Pinkertons zu übernehmen (auch musikalisch), nur die unüberbrückbare Kluft zwischen beiden zutage fördert. Fremdheit als anthropologische Grundtatsache – das wäre vielleicht die heute noch aktuelle „Botschaft”.
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Bei Peter Sloterdijk las ich die Sentenz – sinngemäß –, dass mit zunehmendem Alter die Anekdote an die Stelle der Theorie trete. Das ist durchaus philosophisch im Sinne des Nietzsche-Satzes, er mache sich „aus einem Philosophen gerade so viel, als er imstande ist ein Beispiel zu geben”. In den Anekdoten verdichtet sich ja die Persönlichkeit desjenigen, von denen sie handeln. Deswegen ist es auch egal, ob sich das anekdotisch überlieferte Ereignis wirklich so ereignet hat; manche Anekdoten sind überwahr. Und natürlich ist es allemal bedeutender, was einer getan hat, als welche Theorie er vertrat.
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Themenwechsel.
Ich predige seit vielen Jahren, bereits bevor ich diese windige Branche verließ, dass Teile des als seriös gelabelten Printjournalismus nach dem Wegbrechen des Lesermarktes zunächst indirekt und schließlich ganz unverhohlen von der Bundesregierung finanziert bzw. gekauft werden, zum einen, um deren Politikziele unkritisiert unters Publikum zu bringen, zum anderen, um einen potemkinschen Fassadenpluralismus aufrechtzuerhalten.
Nius meldet:
Die FAZ „steht” nach ihrer Selbstauskunft zwar nicht, wie alles Große, im Sturm, sondern „für Unabhängigkeit“. Wie unabhängig könne man jedoch sein, fragt Nius, „wenn ein Tochterunternehmen seit 2014 sagenhafte 36,2 Millionen Euro Fördergelder für den Betrieb der Website ‚deutschland.de’ kassiert hat?” Der Betrag ergibt sich aus der Antwort des Außenministeriums auf eine AfD-Anfrage. Den naheliegenden Verdacht, dass das Auswärtige Amt eine Querfinanzierung der FAZ „mit öffentlichen Geldern unternehme“, äußerte Tichys Einblick. Das Außenamt „weist die in der Fragestellung insinuierte Unterstellung einer Einflussnahme auf die journalistische Berichterstattung entschieden zurück”. (Merke: Zurückweisungen immer „entschieden”!)
„Davor kündigen immer mehr kluge Köpfe.”
(Leser ***)
Es mag unappetitlich und unerfreulich sein, aber sollen sie denen doch Geld zuschanzen; Hauptsache, immer weniger Menschen lesen diesen Agitprop noch.
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Zwischen korrupten Branchen herrscht eine gewisse Solidarität.
Wer die Fähigkeiten von Journalisten mit jenen von Ärzten vergleicht, hat keine Ahnung von den Fähigkeiten der Journalisten. Die einzigen Qualifikationen, die deutsche Journalisten heute noch vorweisen müssen, um eine journalistische Karriere zu machen, sind Regierungstreue, Trendkonformismus und Abgrenzung gegen „Rechts”.
Wer sich von Journalisten die Welt erklären lässt, hat ohnehin die Kontrolle über sein Leben verloren.
Mir fiel zum Tweet des Gevatters Polenz spontan jene Passage aus „Land der Wunder” ein (die Handlung spielt in der Chefredaktion eines SED-Blatts, also praktisch bei den Öffentlich-Rechtlichen der DDR).
Ich komme aus der Zukunft.
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