Die alltäglichen, in ihrer Tendenz immergleichen Nachrichten zu Symptomen der großen Krankheit zu verdichten, ist für den Diaristen allmählich so attraktiv wie eine Fußwanderung durch Treibsand ohne Ziel. Er muss sich dafür, wie es im Blödendeutsch unseres Epöchleins heißt, stets von Neuem selbst motivieren. Oft besiegt freilich die Erschlaffung – es gäbe psychologisch relevantere Begriffe – die Selbstermunterung so spielend wie Real Madrid den BVB. Zumal der Diarist der Ansicht ist, alles längst gesagt und zumindest mit seinen die allgemeine Entwicklung betreffenden Prognosen meistens richtig gelegen zu haben; wozu also immer wieder von Neuem in die Bütt steigen?
Wo sogar schon die haltungsstärksten Opportunisten schmerzhaft umschwenken?
Die Kommentare waren fast noch besser.
Das war übrigens niemals anders. Der Wechsel zur anderen Meinung oder ins andere Lager ist immer nur eine Frage des richtigen Zeitpunkts; dann kann das Personal, das sich am neuen Ort unter neuer Fahne zusammenfindet, nahezu identisch und unter sich bleiben.
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Der Charakter von Entschädigungs- bzw. Wiedergutmachungsforderungen, wenn sie mit dem Zeitgeist als Rückenwind gestellt werden, gleicht jenem von Erpressungen. Wer einmal nachgibt, wird sich ständig mit neuen Ansprüchen konfrontiert sehen. Es war klar, dass es bei der Rückgabe der Benin-Bronzen nicht bleiben würde (so wie es klar ist, dass nach den Herero, die die deutschen Offerten zur Entschädigung für einen Völkermord, von dem sie selbst erst ein Dreivierteljahrhundert später durch die Deutschen erfuhren, schließlich angenommen haben, die nächsten Stämme, Völkerschaften und deren Oberindianer bereitstehen, sich für irgendetwas entschädigen zu lassen, das damals als Üblichkeit und Normalität galt und jetzt nur noch entsprechend umetikettiert werden muss).
Allein für das einfühlsame „Nofretete will” hat der taz-Redakteur einen Journalistenpreis verdient (auch wenn ihm Amenophis IV. für diese Impertinenz den Kopf abschlagen ließe). Aber warum sollte Nofretete das wollen? Der einzige, wenn auch nur formale Grund bestünde darin, dass sie Herrscherin eines Reiches war, das zwar nicht mehr existiert und mit den aktuellen Bewohnern des Landes nichts zu tun hat, aber dort lag, wo inzwischen eben Araber leben, genauer seit dem mittleren 7. Jahrhundert, also fast 2000 Jahre nach dem Tod der Pharaonin. Während die Benin-Bronzen tatsächlich in ihr ethnisch-kulturelles Herkunftsgebiet zurückgekehrt sind, existiert für die Büste der Großen Königlichen Gemahlin Neferet-iti Nefer-neferu-Aton nichts dergleichen mehr am Nil – mit Ausnahme der Kopten. Die ägyptischen Christen, die in ihrer Urheimat von der muslimischen Mehrheitsgesellschaft unterdrückt werden und regelmäßige Terroranschläge ertragen müssen, dürfen genetisch als die Nachfahren der Pharaonen gelten, als die eigentlichen Ägypter. Ihr Name leitet sich ab vom griechischen Αἰγύπτιοι (Aigyptioi). Das Koptische bildet nicht nur eine Brücke zur Sprache des antiken Wunderlandes, sondern, wie mich vor vielen Jahren ein Ägyptologe belehrte, Koptisch ist Altägyptisch. (Während der Hellenisierung ihres Landes unter den Ptolemäern in den drei vorchristlichen Jahrhunderten übernahmen die Ägypter die griechische Schrift, sie behielten nur jene sieben Laute, für die sich im Griechischen keine Buchstaben fanden.) Champollion vermochte die Hieroglyphen nur deshalb zu entziffern, weil er das Koptische beherrschte.
Als die Araber in den Jahren 640ff. in Ägypten eindrangen, islamisierten sie das Land, und die Ureinwohner, die längst christianisiert waren, wurden immer mehr zur Minderheit. Mit den kulturellen Hinterlassenschaften der Pharaonen hatten die neuen Herrscher nichts zu schaffen, so wenig wie sich der durchschnittliche arabischstämmige Franzose für die Opéra, Notre-Dame oder den Louvre interessiert. All die Tempel, Pyramiden, Obeliske und Statuen waren in ihren Augen heidnisches Gerümpel, tauglich allenfalls als Steinbruch für ihre eigenen Bauten, und wenn die neuen Bewohner des Nillandes in der Lage gewesen wären, vergleichbar kühn zu bauen wie die alten, gäbe es die Pyramiden von Gizeh heute nicht mehr. Der Diplomat, Kunstsammler und spätere Louvre-Direktor Vivant Denon, der am Napoleon-Feldzug nach Ägypten teilnahm – durch den das Land am Nil sozusagen aus seinem jahrhundertelangen Schlaf erweckt wurde –, hat berichtet, dass die Beduinen und Fellachen die ägyptischen Mumien als Brennmaterial für ihre Lagerfeuer oder schlicht als Sitzgelegenheit benutzten. Die alten Ägypter hatten ja alles mumifiziert, was lief, kroch oder fleuchte, nicht nur Menschen, sondern auch Hunde, Katzen, Affen, Vögel, Krokodile, sogar Stiere, da gab es später einiges zu verheizen. Über die architektonischen Gepflogenheiten der arabischen Nillandbewohner notierte der Franzose: „Sie bauen so wenig wie möglich. Nie bessern sie aus: einer Mauer droht der Einsturz, sie stützen sie, sie fällt wirklich, gut, so hat man einige Zimmer weniger im Haus, sie richten sich neben den Trümmern ein; das Gebäude selbst versinkt endlich, sie verlassen den Fleck.”
Hätte es damals bereits die Taliban gegeben, außer den Pyramiden wäre wohl wenig vom alten Ägypten übriggeblieben, aber vielleicht haben auch die schiere Monumentalität der architektonischen und bildhauerischen Hinterlassenschaften, die Härte des Materials und die Unlust der neuen Ägypter zur körperlichen Betätigung Schlimmeres verhindert. Das ist übrigens keine „Islamkritik”; die Europäer gingen mit den Resten der Antike jahrhundertelang nicht anders um. Chateaubriand schrieb, nachdem er 1806 den Poseidontempel auf Kap Sunion an der Südspitze Attikas besucht hatte, in sein Tagebuch: „Um mich herum waren Gräber, Schweigen, Zerstörung, Tod und einige griechische Matrosen, die sorgenfrei und gedankenlos auf Griechenlands Trümmern schliefen.” Auch für die christianisierten Kopten waren die Zeugnisse der altägyptischen Religion kaum mehr als heidnisches Blendwerk.
Erst als verrückte Europäer anfingen, die Relikte des Pharaonenreiches zu bergen, zu verschiffen, privat zu sammeln oder in ihren Museen auszustellen und für deren Erwerb Geld zu bezahlen, erst als Bildungsreisende als Vorläufer der heutigen Touristen an den Ruinen auftauchten, erkannten die Einheimischen, dass es hier etwas zu verdienen gab. Seither pochen die Ägypter darauf, dass das pharaonische Erbe ihnen gehöre, und kümmern sich um dessen Pflege. In dieser Reihenfolge vollzog sich die „Aneignung”. (Im Übrigen war Ägypten nie eine europäische Kolonie – wenn, dann eine osmanische.)
Das Berliner Ägyptische Museum berufe sich – noch? – darauf, „formal im Recht zu sein”, weil es die Büste 1913 auf legitimem Wege erworben habe, notiert die taz. „Tatsächlich hätte die ägyptische Regierung über den Gerichtsweg keine Chance, die Büste zurückzubekommen, genauso wenig, wie die griechische Regierung per Klageweg die Parthenon-Friese aus dem Britischen Museum oder die türkische Regierung den Pergamon-Altar wiedererlangen kann.” Davon abgesehen, dass auch der Pergamon-Altar – der übrigens einen Sieg über gewalttätige Migranten feiert – nicht den Türken gehört, die erst Jahrhunderte nach dessen Metzung das Land eroberten, sondern wenn, dann jenen Griechen, die dort vorher siedelten. Das eigentliche Verdienst besteht aber in der Wertschätzung, Erforschung, Ausgrabung und Konservierung solcher Artefakte, in der Enträtselung ihres Sinns, der Entschlüsselung der toten Sprachen, und dieses Verdienst gehört den Europäern. Ohne ihr Interesse an fremden, vielfach schon ins Vergessensein abgesunkenen Kulturen, das heute als „Aneignung” geschmäht wird, gäbe es viele Kunstschätze gar nicht mehr. Das genau passt den Postkolonialisten aber nicht, sie möchten gern eine Untat, einen Raub, ein Verbrechen daraus machen.
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Apropos Oberindianer. Sie haben sicherlich aus Funk und Fernsehen erfahren, dass nun auch Udo Lindenberg (dessen Songs ich als Teenager mochte, den ich aber inzwischen für einen unerträglich peinlichen Fall von Regression halte) den Reinigungskommandos der Wokeness zum Opfer gefallen ist, weil er in seinem Lied „Sonderzug nach Pankow”, also vor einem halben Menschenleben, den Genossen Erich Honecker den „Oberindianer” der DDR genannt hatte. Die Stiftung Humboldt-Forum zu Berlin fand diese Formulierung „diskriminierend und rassistisch” und strich sie aus dem Text für irgendein Chorfestival; wann der Stiftungsnamenspatron folgt, sollte eine Frage der Zeit sein. Merke: Nur ein Schwarzer darf „Neger” (oder Schlimmeres), nur ein Indigener darf „Indianer” sagen!
Nun aber begab es sich und trug sich zu, dass …
Genannt werden wollen bedeutet ja, dass Bleichgesichter wie der besonders, ja geradezu ungesund bleiche Herr Lindenberg das Wort gebrauchen sollen. Was jetzt?
Bekanntlich stammt der Name von Kolumbus – oder vielleicht war es auch jemand aus seiner Mannschaft –, der angesichts der ersten karibischen Eingeborenen der irrigen Meinung war, Bewohner Ost-Indiens vor sich zu haben und sie deshalb Indianer nannte.
Der amerikanische Autor Tony Hillerman, der als Fachmann für indianische Kultur galt, erzählt in seinen Memoiren eine köstliche Anekdote. Die Szene spielt in den frühen 1970er Jahren. An der „Smithsonian Institution“ in Washington war eine Abteilung for artifacts from tribal history gegründet und ein Indian als Direktor ernannt worden. Als dessen Mannschaft sich der Öffentlichkeit vorstellte, lautete eine der ersten Fragen aus dem Publikum, welche Bezeichnung die Leute auf dem Podium bevorzugten. Zuerst antwortete ein Hopi: „Er sagte, sein Volk bevorzuge es, als Hopi angesprochen zu werden, aber wenn ihr unseren Stamm nicht kennt, nennt uns einfach Indianer.” Dann meldete sich ein Cherokee und wies auf das Problematische am Begriff „Indigenous People” hin, er sagte: „Da die westliche Welt keine indigenen Primaten besitzt, von denen die Menschheit abstammt, deutete dies darauf hin, dass wir uns aus etwas anderem entwickelt haben könnten – vielleicht aus Kojoten…“
Den Abschluss machte ein Navajo mit der Bemerkung: „Wir sind alle glücklich, dass Columbus nicht geglaubt hat, er sei auf den Jungfern-Inseln gelandet.”
Das Schlimmste an diesen Woken ist ihre inquisitorische Humorlosigkeit.
PS: Ich habe diese Geschichte schon einmal zum Besten gegeben, in meinem Podcast zur Kulturellen Aneignung. „Warum”, fragt La Rouchefoucauld, „haben wir ein so gutes Gedächtnis für die kleinsten Einzelheiten unserer Erlebnisse, und ein so schwaches für die vielen Gelegenheiten, bei denen wir sie schon ein und derselben Person erzählt haben?”
Gilt hier also nicht. Sonst aber bedenklich oft.
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Finde den Fehler.
Ich meine nicht die angepasste Kommasetzung.
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Das führt uns zum Thema Nummer eins.
Der „gewaltsame Tod” darf kein gefundenes Fressen für rassistische Hetzer werden. Die einzige angemessene Geste (für einen Alman) besteht darin, dass er (m/w/d) Kerzen aufstellt – vielleicht auch ein paar auf Vorrat kauft, es geht ja erst richtig los, und unsere Grünen achten sehr auf sichere willkommenskulturelle Nachschublinien – und sodann gegen die Nazis demonstriert, die solche seltenen Taten zu instrumentalisieren suchen, bevor er (m/w/d) sich guten Gewissens um den aktuellen Stand seines Geschlechtseintrags kümmert.
Als 2013 im niedersächsischen Kirchweyhe ein 25jähriger Deutscher von einem damals noch nicht so genannten Goldstück zu Tode geprügelt wurde, berief der SPD-Bürgermeister sofort eine Sondersitzung des „Präventivrates und des Runden Tisches gegen Rechts und für Integration“ ein, um den Anfängen zu wehren. Damals schrieb Akif Pirinçci seinen legendären Artikel „Das Schlachten hat begonnen”, die trefflichste Prognose in der Geschichte der Nachwende-Bundesrepublik seit Sieferles etwas tiefgründigerem „Epochenwechsel” und noch deutlich vor Scholzens „Zeitenwende”, die letztlich Pirinçcis eigene Schlachtung einleitete. Von Kirchweyhe spannt sich der Bogen in irgendwann praktisch jedes deutsche Kaff, jede deutsche Klein- und Großstadt, wo das Schlachten sich fortgesetzt hat bzw. fortsetzt.
Wo willkommenskulturell gehobelt wird, fallen halt Späne. Demnächst hart, aber fair kritisiert in der ARD und im stern.
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Ob auch die folgenden Fälle durch Kerzenaufstellen als getilgt und mental bewältigt gelten dürfen, war bei Redaktionsschluss noch nicht bekannt.
„In Deutschland”, schreibt die Welt, „werden immer mehr Menschen bei islamfeindlichen Straftaten verletzt. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Abgeordneten Petra Pau (Die Linke) hervor. Danach zählten die Polizeibehörden in den ersten drei Quartalen dieses Jahres bundesweit 42 Verletzte durch Straftaten, bei denen ein islamfeindliches Motiv angenommen wird, darunter sind vier Schwerverletzte.”
Der Artikel erfüllt die qualitätsjournalistischen Standards, aus ihm erfährt der so leicht verführbare Leserlaie keinerlei missverständliche Details, beispielsweise nach welchen Kriterien diese Statistik zusammengestellt wurde. Wenn sich Türken mit Kurden prügeln, was in Kein-schöner-Land bisweilen passieren soll: Fällt das unter „Gewalt gegen Muslime”? Oder haben wir es mit Fällen der Kategorie: „Wider Erwarten gewann der Angegriffene” zu tun? Interessant ist auch die Bemerkung, ein „islamfeindliches Motiv” (hier folgt ein Link auf die Welt-Seite „Rassismus”) werde „häufig erst im Laufe der Ermittlungen erkannt”, weshalb es sich „um vorläufige Zahlen” handele.
Was nun Frau Paus gewiss mit ersterbender Stimme vorgetragene Warnung vor dieser speziellen Form der Gewalt betrifft, empfand ich einen Leserkommentar in jederlei Hinsicht als erschöpfend: „42 Verletzte in drei Quartalen? Das ist doch umgekehrt die Tagesausbeute.”
Schließlich gibt es (immer noch) viel mehr Deutsche, die verletzt werden können!
Worüber unsere SED-Politikerin sich nicht echauffierte, war die folgende, nahezu zeitgleich veröffentlichte Statistik.
Nun verhält es sich ja nicht so, dass sie uns nicht gesagt hätten, wie drastisch sich dieses Land verändern werde. Und mal unter uns: Es ist doch gleich, wer die deutschen Mädels vergewaltigt, ob nun Klaus oder Achmed (außer für Klaus, der müsste länger dafür einsitzen). Reden wir nicht von der Dunkelziffer während des Hochamtes der sexuellen Belästigung, dem Oktoberfest!
Das Wetter.