Die Sonntage aber den Künsten!
Nachdem ich gestern so über Berlin gelästert habe, will ich heute ein werbendes Wort für die Hauptstadt einlegen, nicht gleich für die ganze Stadt, nur für einen vergleichsweise klitzekleinen und gut versteckten Teil von ihr. Im Bezirk Tiergarten zwischen Potsdamer Platz und Landwehrkanal befindet sich, auf einer Berlin-typischen Brache, das sogenannte Kulturforum, und dort, neben der Philharmonie, die eines der besten Orchester des Planeten beherbergt, stößt der geführte Berlin-Besucher auf eine der besten Gemäldesammlungen überhaupt. Er muss allerdings tatsächlich dorthin geleitet werden, denn von allein verfiele niemand auf die Idee, dass ausgerechnet an diesem zugigen Ende der bewohnten Welt, inmitten großzügig verstreuter architektonischer Scheußlichkeiten, eine hochbedeutende Kunstsammlung existieren könnte, die freilich ebenfalls in einem Bau mit dem Charme einer etwas hipperen Gesamtschule untergebracht ist.
Vergangenen Freitagvormittag verbrachte ich dort zwei Stunden in völliger Seligkeit.
Nämlich in der Sonderausstellung „Frans Hals. Meister des Augenblicks”, die ungefähr siebzig Gemälde des Niederländers zeigt (beinahe hätte ich mechanisch „Arbeiten” geschrieben, aber so nennen Journalisten Kunstwerke ja erst, seitdem ihre Herstellung kaum mehr Arbeit erfordert).
Frans Hals war einer der größten Porträtisten der Geschichte. Er stellt auf seinen Bildern eine Art Überwirklichkeit her – und zwar egal, in welchem Malstil, er bedient sich ja mehrerer. Überwirklich bedeutet, dass seine Bilder (oft) etwas wiedergeben, das eigentlich nicht oder nicht für jedermann zu sehen ist; ich würde es geradezu als einen Blick in die Seele des Dargestellten bezeichnen. Man hat den Eindruck, mit diesem Menschen persönlich bekannt, ja vertraut zu sein und sein Inneres schauen zu können. Das für meine Begriffe bedeutendste Beispiel eines überwirklich gemalten Porträts stammt von Diego Velázquez und zeigt Innozenz X.; der Papst soll vor seinem Konterfei fast erschrocken sein und sich erkannt gefühlt haben („Troppo vero” – zu wahr – habe Innozenz angeblich gesagt, ergänzt Freund ***, womit der Begriff überwahr ein frühes Copyright erhielte). Aber Hals kommt dem Maler der Maler schon sehr sehr nahe.
Erwarten Sie bitte keine künstlerische oder gar „kunstwissenschaftliche” Abhandlung über den Meister aus Haarlem; hier muss man mit den Augen begreifen, durch die Augen atmen, das ist alles.
Apropos verschiedene Malstile bei Hals.
Er konnte sehr viel, dieser Frans Hals, er beherrschte die klassische Inkarnatmalerei und schuf zur gleichen Zeit Bilder im Stile des Impressionismus oder des Naturalismus – Kunstrichtungen bzw. ‑moden, die 200 Jahre nach seinem Tod entstanden (er starb 1666). Dasselbe gilt übrigens für Velázquez oder den späten Rembrandt. Was einmal mehr zeigt, wie unsinnig solche Schubladen sind. Und warum mir das 17. Jahrhundert in der Malerei vollkommen genügt.
Gleichwohl kommt kein Museum, keine Galerie, keine Ausstellung ohne diesen Entwicklungsnonsens aus. Impressionismus heißt schließlich nicht, dass zwei oder drei gelegentlich impressionistisch malen, sondern dass es plötzlich alle tun und alles andere auf einmal als falsch und rückständig gilt.
Wobei der Begriff „Vorreiter” noch halbwegs vertretbar ist, da reitet jemand auf eigene Kappe ins Unbekannte, und andere interpretieren das eben als ein Voraus und folgen ihm. „Mit seinem außergewöhnlich lockeren, freien Malstil inspirierte der Haarlemer Maler wie kein anderer Künstler seiner Zeit die Malerei der Moderne”, heißt es im Katalog. Die Moderne ist nämlich das Klassenziel der Malerei, die Postmoderne wäre dann quasi das Abitur. Ein Vorreiter kann natürlich auch in die Irre oder bergab unterwegs sein, aber diesen Gedanken verwehren sich die Kunstwissenschaftler, Kunstkritiker und Kunsthändler, er könnte ihr Geschäft verderben.
Wie der oben gezeigte Fischerknabe gehört auch das als exemplarisches Produkt eines Vorreiters unter die Schlagzeile gehängte Porträt eines jungen Mannes nicht zu den ganz großen Großtaten dieses großen Künstlers.
Treten wir etwas näher heran; das empfiehlt sich bei jeglicher Malerei und soll uns hier gewissermaßen die Hufspuren der Vorreiterei zeigen.
Oder jene.
17. Jahrhundert, kaum zu glauben. Ich vermute, das sind Gelegenheitsbilder, keine Auftragswerke, und was uns als moderner Malstil erscheint, ist letztlich bloß brotlose Kunst. Wie gründlich Hals seine Bilder durcharbeitete, hat sich gewiss nach dem Preis gerichtet, den er für ein Werk erwarten durfte. Die Porträts der wohlhabenden Haarlemer Bürger und Krämer sind äußerst penibel gemalt, während er die anderen rasch „hingeworfen” hat.
Zum Vergleich der Ärmel des Herren von vorhin mit seinen landsknechtsartigen Schlitzen, aus denen freilich feinste Spitze quillt.
Mein Freund Peter Schermuly, der von der abstrakten Malerei zur gegenständlichen zurückkehrte und neben grandiosen Stilleben eine Reihe von Porträts schuf, hat sich bisweilen despektierlich darüber geäußert, was der Jetztsasse so am Leibe trage; für den Maler sei das jedenfalls vollkommen uninteressant, und er beneide jene alten Meister, die Königsroben mit Hermelinkragen oder mit Perlen und Stickereien besetzte rauschende barocke Damenkleider malen konnten. Man darf also vermuten, dass die moderne Malerei auch ein Resultat der Entwicklung der Bekleidungsindustrie ist.
Meine Herren, haben Sie etwas Vergleichbares im Kleiderschrank? Wozu auch, es könnte ja doch niemand mehr in Öl verewigen.
In welchem Jahrhundert wurde wohl diese Hand gemalt?
Jene haben wir bereits gesehen. Dazwischen scheinen Jahrhunderte zu liegen.
Der Zinnkrug, aus dem die bekannte närrische „Malle Babbe” trinkt, materialisierte sich irgendwann zwischen 1633 und 1635 auf der planen Leinwand.
230 Jahre später, bei Manet, dem einzigen Impressionisten, von dem ich gern ein paar Bilder besäße, kehrt er wieder.
Zu loben ist die Gemäldegalerie für die schöne Hängung der Bilder vor dunkelgrauem bzw. ‑blauem Hintergund (wir blicken auf die „Schützengilde des XI. Bezirks von Amsterdam”, auch „Die magere Kompagnie” genannt, eines der wenigen Großformate von Hals).
Sacht zu tadeln ist sie für ihre Zeitgeistereien.
Heißt es nicht Auftraggebende?
Davon abgesehen, ob „schelmisch” wirklich das treffende Wort für das Lächeln dieser Außenseiter*in ist: Wer sagt, dass „sie” als Frau gelesen werden wollte? (Dass der Maler sie so gelesen hat, steht leider außer Zweifel.)
Und das durfte natürlich auch nicht fehlen.
Es handelt sich um diesen bekannten Gesellen; ich habe ihn in der Schau gar nicht photographiert – darf man mit dem Händi gemachte Fotos noch mit ph schreiben? –, wahrscheinlich aus latentem Rassimus. Blackfacing also, „wahrscheinlich”, es könnte freilich auch ein echter Mohr bzw. in diesem Fall ein Mulatte das Modell gewesen sein. Und wenn es ein Bleichgesicht war (und kein Kaminkehrer), woher schließen unsere Kunstdeutungskommissare, dass der Kerl sich aus mutmaßlich rassistischen Motiven das Antlitz angepinselt hat? Und nicht, weil er sich als Genie verkleiden wollte? Der „törichte Narr” – keineswegs zu verwechseln mit den opportunistischen Narren, die dergleichen Ausstellungsbegleitgeschwafel verzapfen – ist in der Geschichte der abendländischen Malerei aber fast immer weiß. Für das 17. Jahrhundert ist in Holland noch nicht einmal der Brauch des Zwarte Piet (Schwarzer Peter) als Knecht-Ruprecht- oder Krampus-artiger Helfer des Sinterklaas (Nikolaus) belegt. Aber wenn’s denn der Rassismus(er)findung dient.
Wollen wir wirklich so dumm enden? Nein.
Ein ferner Ahne von Peter Sloterdijk stand dem Frans Hals auch einmal Modell.
Ich kannte das Gemälde unter dem Titel: „Porträt des Claes Duyst van Voorhout”, heuer steht ein möglicherweise davor. Sowie: „Bei dem Dargestellten handelt es sich wahrscheinlich um den Eigentümer einer Haarlemer Brauerei.” Aber gewisslich um einen Konsumenten des dort hergestellten Produktes.
(Die Ausstellung läuft noch bis zum 3. November.)