Der Tweet des Tages bestätigt entweder eine Verschwörungstheorie – oder bloß meine Ansicht, dass sich Journalisten wie Sardinen verhalten, die jede Richtungsänderung mit der Seitenlinie registrieren und ihre Bewegung so penibel dem Schwarm anpassen wie weiland die Marschblöcke auf der Zeppelinwiese.
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Zum Tage.
Oder so.
(Netzfund)
Wobei es sich nicht um Faschismus handelt – „Faschismus ist die bürgerliche Gesellschaft im Belagerungszustand”, wie Wolfgang Venohr treffend formulierte –, sondern vielmehr um einen in neuer Maskerade auftretenden Sozialismus.
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Aber – und apropos Sozialismus – die Sonntage immer (mal wieder) den Künsten!
Neulich, am Rande einer Lesung, machte mir ein freundlicher Mensch ein paar Komplimente zum Roman „Land der Wunder“, den er schon mehrmals verschenkt habe, versicherte mir sein Faible für sogenannte „Wenderomane“, aber einen, sagte er, fände er besser als meinen, nämlich „Kruso“ von Lutz Seiler. Ich hatte von diesem Hiddensee-Epos raunen hören, doch meine Skepsis gegen die Kriterien, die bei der Vergabe spätbundesrepublikanischer Literaturpreise walten, sowie ein gewisses Desinteresse am mir ja hinlänglich bekannten Sujet – um nicht direkt von Zonophobie zu sprechen – verhinderten bislang die Lektüre. (Davon abgesehen, mein Herr, ist „Land der Wunder“ weniger ein „Wende-“ als vielmehr ein Entwicklungsroman bzw. ‑porno, in dessen Mitte eben die Mauer fällt.)
Solchermaßen freundlich unter Vergleichsdruck gestellt, kaufte ich mir denn Seilers Buch und danke hiermit für die so keck vorgetragene Empfehlung. „Kruso“ ist ein großartiger Roman, vor allem weil er blendend geschrieben ist – das ist immer das Erste. Sodann, weil er die Ehemalige in aller Stupidität, Hässlichkeit, Piefigkeit, Verlorenheit, in ihrer aus räumlicher Enge und relativer sozialer Gleichheit geborenen stallwarmen Intimität, die jederzeit ins Klebrige oder Aggressive umschlagen konnte, sichtbar, fühlbar, schmeckbar, riechbar macht. Die realsozialistische Tristesse sprachlich zu ästhetisieren, gelingt Seiler vorzüglich.
Das Schlimmste und das Erträglichste an der DDR waren die Menschen. In den Nischen dieses Landes sammelten sich die Originale und veranstalteten ihre tägliche Sisyphosiade zur Widerlegung des Adorno-Bonmots, dass es kein richtiges Leben im falschen geben könne. Hiddensee hält bei Seiler mit landschaftlicher Überwältigung (und einer illusionären Westnähe) dagegen: „Zehn Prozent Land, neunzig Prozent Himmel: Dass sie hier waren, auf der Insel, genügte. Erst recht für ihren Stolz. Die Insel adelte ihr Dasein. Diese Schönheit, die einfach unbeschreiblich war und wirkte. Die Magie ihrer Schöpfung. Das Festland bildete dafür nicht mehr als eine Art Hintergrund, der langsam verwischte und erstarb im immerwährenden Rauschen des Meeres; was war schon der Staat?“ Auf der Insel sammeln sich neben allerlei Outcasts und Sonderlingen, die in der Als-ob-Enklave „übersommern“ wollen, auch viele Fluchtwillige, doch sie entkommen dem Mauerstaat so gut wie nie; die meisten werden verhaftet, der Rest verschwindet im Meer.
Eine merkwürdige Melancholie ergriff mich bei der Lektüre. Da kommst du ja her, dachte ich mir, aus diesem Dreck, aus dieser Hässlichkeit, wo alles provisorisch war und zusammengeflickt, wo nichts funktionierte außer dem Grenzregime, aber die Propaganda von Zukunft und Ewigkeit kündete. Dort weilte ich, „als ich ein Kind und glücklich war“ (Thomas Mann), in diesem stacheldrahtumzäunten Ländchen habe ich die Träume meiner Jugend geträumt, die erste Liebe durchlitten, die ersten Freundschaften geschlossen, die ersten großen Bücher gelesen, die erste eigene Bleibe bezogen, die Freuden des Erotischen kennengelernt. Und, du lieber Himmel, gesoffen, als gäbe es kein Morgen. Denn strenggenommen gab es ja kein Morgen.
„Kruso“ handelt von einer Tafelrunde aus Saisonkräften, kurz SK oder „Esskaas“ – es sind derer zwölf wie bei König Artus –, die im Norden Hiddensees, das man auch das „Sylt des Ostens“ nannte oder nennt, oberhalb des Hochufers eine Urlaubergaststätte betreiben. Im „Klausner“ herrscht zwar der saisonale Hochbetrieb, doch zugleich steht die Zeit still. Die Hauptpersonen sind zwei Männer, Edgar Bendler („Ed“), Literaturstudent, durch dessen Augen der Leser blickt, und der titelgebende Alexander Krusowitsch, kurz Kruso oder Losch genannt (von Aljoscha), ein seltsamer, nicht hundertprozentig zurechnungsfähiger junger Mann mysteriöser Herkunft, halb Inselpate, halb Aussteigerguru – er ist schon am längsten dort und kennt jeden Winkel des Eilands –, der als Abwäscher arbeitet und Ed quasi zu seinem Freitag macht, während beider Hände durch den Saisonjob jenen von Wasserleichen immer ähnlicher werden. „In Krusos Gefolgschaft kam ihm die Frage Warum? nicht in den Sinn. Niemand, der wirklich zur Insel gehörte, brauchte ein Warum.“
Die Titelfigur, erfährt der Leser, ist der Sohn eines sowjetischen Generals und einer Artistin, die vom Hochseil zu Tode stürzte, als er ein kleines Kind war, weshalb der Vater ihn und seine ältere Schwester zu Verwandten gab, die sie fortan als Pflegeeltern aufzogen. Krusos Schwester Sonja ging vor vielen Jahren auf Hiddensee vor ins Meer, nachdem sie ihrem neunjährigen Bruder befohlen hatte: „Hier wartest du und rührst dich nicht weg.“ Seither wartet Kruso und rührt sich nicht weg. Auch Ed hat der Verlust eines geliebten Menschen in Verzweiflungsnähe und schließlich auf die (für Zonenverhältnisse) entlegene Ostseeinsel getrieben. Ausgerechnet im Wendejahr 1989.
Wir befinden uns im DDR-Verweigerer-Milieu, wie es für solche Jobs typisch war (ich habe selbst an der Ostsee als „Saisonkraft“ gearbeitet, im Sommer 1981, auf der anderen Küstenseite des mitteldeutschen Gatters, in Bansin auf Usedom, und erlebte bei der Lektüre zahlreiche Déjà-vus). Das heißt, man hat es mit Leuten zu tun, die sich dem realsozialistischen Gegängeltwerden entziehen wollten, um auf dem Ostsee-Eiland, soweit dies eben möglich war, nach ihren eigenen Vorstellungen zu leben. Im Arbeiter- und Bauernstaat waren das selten Arbeiter und Bauern, sondern meistens Intellektuelle (auch wenn sie oft gezwungen waren, ihren Lebensunterhalt als Arbeiter zu fristen). Repräsentativ für diesen Menschenschlag stehen die beiden Kellner Rimbaud und Cavallo.
„Gastronomisches und philosophisches Wissen sind hier aufs Schönste vereint“, stellt der Geschäftsführer des „Klausner“ dem Neuankömmling sein Servierpersonal vor. „Mirko, promoviert in Soziologie, er kommt wie du, Edgar, aus Halle an der Saale und wird hier bei uns Cavallo genannt. Und hier, vom gleichen akademischen Grad, sein Freund Rimbaud, unser Philosoph – hab schon fast vergessen, wie du wirklich heißt, mein Lieber, einmal geheißen hast…“ Wenn Rimbaud an das Pult tritt, auf dem die Kasse steht, fasst er bisweilen das dort aufgestellte Foto seines Namenspatrons ins Auge und fragt: „Ruhm, wann kommst du?“ Das ist eine der stehenden Wendungen, die das Buch durchziehen. Jahre vor Eds Ankunft hielt Rimbaud im Gerhart-Hauptmann-Haus, im Arbeitszimmer des Literaturnobelpreisträgers, natürlich illegal, um Mitternacht in völliger Dunkelheit und frei sprechend, einen Vortrag mit dem Titel „Ophelia oder die Wasserleichenpoesie“. Cavallo wiederum, dessen Spitzname aus seiner Leidenschaft für das römische Altertum herrührt, auch das vierbeinige, hat, wie Kruso berichtet, seine Dissertation in jeglicher Hinsicht versemmelt – „falsches Thema, falscher Inhalt, wahrscheinlich alles falsch“. Das konnte einem passieren im zweitbesten Deutschland aller Zeiten, dem das beste so entzückend nacheifert. Während der Arbeit spielen die beiden Kellner Schach und rufen sich ihre Züge über die Köpfe der Gäste zu. Man muss sich als Hilfskraft schon eine Weile etablieren, um von ihnen eines Blickes oder gar persönlichen Wortes gewürdigt zu werden.
Ich erkannte das merkwürdige Selbstbewusstsein der Esskaas wieder, ihre Geringschätzung der normalen Urlauber, denen sie zu Diensten sein mussten, was nichts an ihrer elitären Herausgehobenheit änderte, denn sie lebten „nach sonderbaren, schwer zu begreifenden Formen legaler Illegalität in einem Land, das sie entweder ausgespuckt und für unbrauchbar erklärt hatte oder dem sie sich schlichtweg nicht mehr zugehörig fühlten“. Früher, sagte Krusos Ziehvater, ein Professor für Strahlenphysik, sei es noch anders gewesen auf der Insel: „Es gab keine Gesellschaft jenseits der Gesellschaft, es gab Saisonkräfte, gut, aber nicht diese Kaste und ihr Gewese, manches ist einfach geschmacklos, nicht wahr?“ Ja, auch das.
Was Ed und Kruso neben ihrer Trauer verbindet, ist die Liebe zur Lyrik; Kruso schreibt selbst Gedichte. „Poesie war Widerstand“, heißt es an einer Stelle, an einer anderen: „Woraus ihr Unglück bestand (und was ihr Handeln bestimmte), war besser aufgehoben in einem Gedicht.“ Die einsetzende große Fluchtbewegung, die DDR-Bürger zu Tausenden über die offene ungarische Grenze gen Westen treibt und auch die „Klausner“-Tafelrunde leert, ergreift die beiden nicht. Für sie besitzt die Insel haltende Kräfte. Ihr Sonderbewusstsein – ihr „Inselpatriotismus“ – wirkt wie eine Buhne in den Wellen der tristen Wirklichkeit. Sie gehören zwar nicht zu den indigenen Insulanern, aber empfinden sich als solche.
„Selbst auf vollbesetzten Schiffen erkannte man die Eingeborenen sofort. Sie erschienen vollkommen unempfindlich gegen das Getöse ringsum, als hätten sie ihr Dasein endgültig abgedichtet, ja, als wären sie geimpft und für immer immun gegen jenes abscheuliche Wesen namens Feriengast.“
Oder:
„Cavallo schenkte aus, niemand sprach, sie saßen sich auch nicht gegenüber, sondern in einer Reihe, wie unversehens gealterte Schüler in ihrer Schulbank, und starrten auf die Kiefern am Waldrand, die im Licht der frühen Abendsonne zu leuchten begonnen hatten. Es gab nichts Besseres.“
Oder:
„Es wurde mehr Wein und mehr Bier herangetragen; Getränke und Speisen, alles gehörte allen, wenn man es bis hierher geschafft hatte, auf die Terrasse über dem Meer, in den Garten des Klausners, an den Tisch der Auserwählten.“
„Unsere Schiffbrüchigen“ nennt Kruso die Ankömmlinge jenseits der Touristenströme. „Sie alle gehören nicht mehr wirklich zum Land, sie haben das Land unter ihren Füßen verloren, verstehst du das, Ed?“, fragt er. „Sie wissen nicht weiter. Zuerst die große Sehnsucht, die hier noch größer wird, und dann sitzen sie da und können weder vor noch zurück.“
Die Seekarten sind falsch, denn die realen Entfernungen sind Staatsgeheimnis im Grenzregimestaat.
„Was bedeuten diese Linien, Losch? Dieses Schnittmuster im Rot zwischen den Küsten?“
„Das sind die Wege der Toten.“
Da Kruso klar ist, was denen droht, die tatsächlich die Flucht wagen – „Losch wusste, dass dieses Meer ein Grab war“ –, bietet er ihnen als Alternative drei Tage auf Hiddensee an, auf dass sie die Freiheit in ihrem Innern entdecken. Mit einem Initiationsritual, das die illegale Beherbergung einschließt, werden sie in die „Gemeinschaft der Schiffbrüchigen“ aufgenommen, einer Art Gegengesellschaft im zerbröselnden Realsozialismus. Kruso glaubt, dass sie durch das Ritual die Wurzel ihrer inneren Freiheit entdecken und so, gewissermaßen von innen gegen das Regime imprägniert, aufs Festland zurückkehren können, bis eines Tages „das Maß der Freiheit in den Herzen die Unfreiheit der Verhältnisse mit einem Schlag übersteigt“. Bei Krusos Vision handelt es sich, auf den Punkt gebracht von seinem Ziehvater, um „eine Art Untergrund zur Anhäufung innerer Freiheit, eine geistige Gemeinschaft, irgendetwas in diesem Sinne; ohne Verletzung der Grenzen, ohne Flucht, ohne Ertrinken. Keine kleine Illusion, eher eine ausgemachte Wahnvorstellung“. Inwieweit Losch mit den „staatlichen Organen“ kooperiert, bleibt ungeklärt.
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„Ein einziger Verlust, so kommt es dir vor. Aber niemand ist wirklich verloren, Ed, niemand.” Niemand werde für immer vermisst. Verheißt Kruso. Es ist das Vermächtnis, welches er Edgar bzw. dessen Erfinder auferlegt.
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Seiler ist ursprünglich Lyriker, und das merkt man dem suggestiven Rhythmus des Romans an. Es gibt Leitmotive und geflügelte Worte, die immer wieder anklingen. In den Rezensionen tauchte der Begriff „magischer Realismus“ auf (ein Genre, das übrigens keineswegs im Lateinamerika der jüngeren Gegenwart erfunden wurde, sondern vielleicht irgendwo zwischen E. T.A. Hoffmann und Leo Perutz), auch von Surrealismus war die Rede. Ich würde eher von Animismus sprechen: Alles lebt und ist beseelt, sogar die Toten erstehen am Ende auf. Aber lassen wir die Ismen, es ist schön, und das genügt. Auf gleichsam somnambule Weise lernen wir diese Welt kennen durch die Perspektive des Hiddensee-Debütanten Ed. Die Schönheit der Bilder und der Sprache deckt den realsozialistischen Dreck zu. Auch wenn sie ihn an manchen Stellen zur Überdeutlichkeit bringt.
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Ein Füllhorn von toten Begriffen, Namen und Geschmäckern, längst ausgestorben und vergessen, tat sich bei der Lektüre auf: Kali, Kiwi, Pfeffi, der unvermeidliche Blaue Würger (offiziell „Klarer Juwel”) und „Lindenblatt”, ein sogenannter Wein aus Ungarn (den auch Johannes Schönbach trank). „Er schaffte es nicht, sich Kaffee zu machen, und übergoss Kaffeelikör mit kochendem Wasser”. Genau so! Der Kunde, wie man aus unerfindlichen Gründen die Bluestypen bezeichnete („ein urster Kunde”). Der Bello – so nannten wir auf dem Bau den Vorschlaghammer. Der klapprige, ganz und gar un-ikarische Ikarus-Bus. Der Bebo sher, bekanntester Rasierapparat der DDR, unter anderem von mir selbst hergestellt beim VEB Bergmann Borsig im Unterricht für produktive Arbeit, kurz PA (kein Wunder, dass die Dinger nichts taugten). Peter Kotte und Reinhard Häfner. Die Transportpolizei (Trapo). Der Dentaldraht zur Herstellung von Schmuck aus Tinnef, verscherbelt an die Urlauber, zur Finanzierung des täglichen Alkoholkonsums. Und und und.
Was mich am meisten überraschte, war allerdings, dass (in der DDR) der Name Anton Kuh auftaucht.
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Während Edgar und Kruso als Tellerwäscher frönten, gehörte ich zum Detachement der Tischabräumer, nur ein paar Wochen, weil ich mir bei einer nächtlichen Allotria betrunken den äußeren Mittelhandknochen brach (irgendwer war auf die Idee verfallen, Stuhllehnen mit Karateschlägen zu spalten; ich scheiterte am kürzesten Stück) und tags darauf in Gips zur Knuffe erschien. Der Chef war erbost, weil ich ausfiel, und er meinte, ich hätte mich geprügelt; dasselbe unterstellte übrigens der Doktor, der die beiden auseinanderstehenden Knochenteile recht rabiat wieder zusammenfügte.
Wir arbeiteten in einem riesigen Wellblech-Selbstbedienungsschuppen namens „Rakete“. Kein Mensch vermag sich heute mehr vorzustellen, was für ein miserabler Fraß dort verabreicht wurde, welche schaumlose Plörre als Bier ausgeschenkt wurde, wie hässlich das gesamte Ambiente war (Sprelacart-Tische mit Aluminiumbeinen). Eine meiner Nebenaufgaben bestand darin, die Schnitzelstücke, die der Küchenchef abgesäbelt hatte, mit einem schweren, besonders breiten Messer so flach zu prügeln, dass sie schließlich den halben Teller bedeckten und als ganze Portion durchgingen.
Das zentrale Wort in „Kruso“ ist „Freiheit“, und in der Tat empfanden wir damals Bansin als einen Ort relativer Freiheit, den Grenzstreifen zum Trotz, die natürlich auch auf Usedom patrouillierten, denn alles galt als Grenze an den Rändern von Erichs des Einzigen festumfriedeten Laufställchen. Es war Freiheit, einen jener Bungalows zu bewohnen, in denen die Saisonkräfte mit den Urlauberinnen schliefen, die sie bei den spontanen Partys am Strand aufgelesen hatten. Es war die Freiheit der Lagerfeuer, an denen irgendwer Klampfe spielte und subversive Lieder sang, die Freiheit der Brandung, der schrillen Typen, die, regimefeindliches menschliches Treibgut, von irgendwoher aufkreuzten und zielsicher uns fanden, die Freiheit der Abwesenheit von Vorgesetzten und Agitatoren und natürlich die Freiheit eines permanenten Besäufnisses mit all seinen bizarren Begleiterscheinungen. Anders als im Roman verschwand bei uns niemand Richtung Meer – Usedom lag zu weit entfernt vom „Westen“ –, niemand ertrank bei einem Fluchtversuch oder wurde verhaftet, aber zwei der pittoresken Figuren, mit denen ich dort den Rausch feierte, haben später ihr Leben im Suff verloren; der eine, weil er sich auf dem Gasherd nachts einen Tee kochen wollte, dabei einschlief, der alte, durchgerostete Kessel seinen Geist aufgab und das auslaufende Wasser die Flamme löschte; der andere, weil er, um seinen Heimweg zu verkürzen, während der Fahrt aus dem Schienenbus sprang und von dem entgegenkommenden Zug erfasst wurde…
Zu den abstoßendsten Grundtatsachen der DDR (wie jedes sozialistischen Mangelsystems) gehörte die Machtausübung der Subalternen, der ihr eigenes Geducktwerden kompensierenden Frustrierten, sobald sie einmal die Gelegenheit erhielten, sich aufzuspielen, weil sie über Ressourcen verfügen durften, ob nun als Kellner, Hausmeister, Polizist, Verkäufer oder dergleichen mehr. Über Rimbaud (auf den diese Beschreibung vielleicht nicht ganz passt) heißt es im Roman: „Gern beleidigte er Gäste. Er kommentierte ihr Aussehen, ihre Bestellungen, ihre, seines Erachtens, mehr als ungenügenden intellektuellen und sprachlichen Fähigkeiten. ‚Jeder nach seinen Fähigkeiten’, brüllte er über die Tische, wenn er mit einer Trommel voller Biergläser die Terrasse betrat. Dazu sein herrischer Ausdruck. Wie ein Feldherr am Vorabend des letzten Gefechts.” Diese Geringschätzung der Urlauber habe ich genauso erlebt. „Trink aus, Mensch!” fuhr ein Bansin-Esskaa – es war der mit dem Teekessel – ein allein bei seinem Biere sitzendes Männlein an, „du bist nicht zum Spaß hier!” Das mag noch unter derber Scherz gefallen sein, doch wenn ich an die Schlangen denke, die unser Kartoffelpufferverkäufer mutwillig entstehen ließ, weil er keine Lust zum Puffermachen hatte (schließlich empfand er sich als Gitarrist), sowie aus einem Empfinden allgemeiner Daseinsbeschissenheit, während er die Leute mit einer empörenden Unhöflichkeit behandelte – er sprach kein Wort mit ihnen –, die wiederum anstanden, weil es weit und breit keine Alternative gab, etwas „auf die Hand” zu essen zu bekommen, dann habe ich die DDR en miniature vor mir.
Es gab veritable Irre unter den Eskaas dort oben, aber eben auch die wirklich wichtigen Leute, mit denen man die wirklich wichtigen Gespräche führen konnte (zumindest erschien es mir damals so). Die Irren waren zum Teil gefährlich. Auch Ed gerät in zwei schwere Schlägereien, die existentielle Erschütterungen auslösen und deren eine ihn in den Radar der staatlichen Organe bringt.
Kein Heimweh. Nirgends.
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Dass Seilers Buch autobiographische Züge trägt, ist evident. Ich nehme an, das trifft auch und besonders für den Epilog zu. Edgar wechselt aus der dritten in die erste Person („Abteilung Verschwunden. Edgars Bericht”). Der Epilog verlässt den magischen Realismus und wendet sich der erschütternden Realität zu, er ist ein Requiem für die ertrunkenen DDR-Flüchtlinge. „Grenzverletzer – so jedenfalls nennen sie das, aus ihrer Sicht ist es die Grenze, die verletzt wird“, sagt Kruso.
Nach vielen ins Leere gehenden Recherchen ist es Edgar gelungen, im Keller eines dänischen Instituts den Menschen zu finden, der Bescheid weiß über jene „unbekannten Toten eines verschwundenen Landes”, die in all den Jahren an der Hiddensee direkt gegenüberliegenden Küste angeschwemmt wurden. Dieser Archivar des Todes – er ist übrigens weitläufig verwandt mit Friedrich von Hardenberg und zitiert im Totenkeller aus den „Hymnen an die Nacht” – erklärt Edgar, es habe im Institut keiner mehr daran geglaubt, dass noch einmal jemand kommen werde, der sich für die Toten interessiere: „Sie sind der erste hier, nach vierundzwanzig Jahren.”
Seiler alias Edgar spricht vom dreifachen Verschwinden dieser Unglücklichen. Das erste Verschwinden war ihr heimlicher Aufbruch von daheim, niemand durfte wissen, dass und wohin sie gingen, zum einen weil ihr Vorhaben jederzeit verraten werden konnte (das hieß „Republikflucht”, zwei Jahre Knast), zum anderen, weil sie in ihrer Familie und unter ihren Freunden keine „Mitwisser” zurücklassen wollten, denen dann ebenfalls staatliche Repressalien drohten. Zum ersten Verschwinden gehörte auch, dass der Flüchtling nichts am Leibe trug, woran man ihn hätte identifizieren können. Irgendwann wurde aus ihm ein Vermisster.
Das zweite Verschwinden ereignete sich im Meer, wenn der Flüchtling merkte, dass seine Kräfte nicht ausreichen würden, der Seegang, die Kälte, ein Krampf ihn ermüdet hatten und der Prozess des Ertrinkens einsetzte, allein, nur Wasser ringsum und absolute Einsamkeit. Zum zweiten Verschwinden gehört auch der Weg der Leiche im oder unter dem Wasser. „Manche werden angeschwemmt. Entweder am verhassten oder ersehnten Ufer.”
Dann folgt das dritte Verschwinden. Die Leichen, oft Monate unterwegs, lassen sich nicht identifizieren. Niemand sucht nach ihnen. Ihre Überreste werden namenlos begraben. Sie sind verschwunden auf ewig.
Diese Menschen, ich wiederhole es wieder und wieder, sind vor dem Sozialismus geflohen, sie haben den Sozialismus so sehr verabscheut, dass sie lieber das Risiko auf sich nahmen zu ertrinken, als länger dort zu leben. Wenn die Grenzer sie entdeckten, wurden sie gejagt wie Tiere und, wenn ihre Flucht zu gelingen drohte, abgeschossen wie Tiere. Mehr muss man von dieser DDR gar nicht wissen.
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Und doch – oder trotzdem –:
Seilers Buch sei allein deswegen „sehr gut”, versicherte mir ein sehr sehr guter deutscher Schriftsteller, weil es „einen Mythos erschaffen” habe.