19. Juni 2024

Eine Zeit­lang dis­ku­tier­ten Gelehr­te dar­über, ob Jesus Chris­tus wirk­lich gelebt habe. An der Exis­tenz des Judas Ischa­ri­ot bestand indes nie der Hauch eines Zweifels.

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Wenn die poli­ti­sche Gesin­nung die per­sön­li­che Sym­pa­thie über­trumpft, ist man wahr­schein­lich in Deutschland.

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„Das kann ich besser.”
Sta­lin über Kafka
(Notiz zum Jubiläumsjahr)

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Ein euro­päi­sches Allein­stel­lungs­merk­mal ist die Fähig­keit zur radi­ka­len Selbst­kri­tik. Kei­ne ande­re Kul­tur kennt die­ses sich-selbst-Infra­ge­stel­len in einem sol­chen Maße, zumal die euro­päi­sche – bzw. west­li­che – Selbst­kri­tik bis zur Selbstab­leh­nung und zum Selbst­hass aus­ufert. Sie ist im Wesent­li­chen das Geschäft der Lin­ken, unter zuneh­men­der Invol­vie­rung von ein­ge­wan­der­ten Kul­tur­frem­den, und dient pro­fa­nen Herr­schafts­zwe­cken (inso­fern trifft der Begriff Selbst­hass nicht ganz zu). Die Pro­gres­sis­ten in ande­ren Erd­tei­len enga­gie­ren sich gemein­hin für ihre sozia­le Eman­zi­pa­ti­on, ohne gleich die Wur­zeln der eige­nen Kul­tur anzu­grei­fen. Nur in Euro­pa gibt es eine Lin­ke, die Kul­tur­frem­de eman­zi­pie­ren will, um der eige­nen Kul­tur zu scha­den und die eige­ne Macht auszuweiten.

Die­se unpro­duk­ti­ve, auf Sub­ven­tio­nen ange­wie­se­ne, para­si­tä­re Lin­ke ist der Haupt­feind der west­li­chen Zivi­li­sa­ti­on, und sie wird, nach­dem sie erfolg­reich die Par­tei­en, Insti­tu­tio­nen, Uni­ver­si­tä­ten, Kul­tur­ein­rich­tun­gen, Redak­tio­nen und sogar die Kir­chen durch­setzt hat, so schnell nicht ver­schwin­den. Da man die Brü­der und Schwes­tern vom Orden des zu beschä­di­gen­den Eige­nen unmög­lich ver­bie­ten kann, muss eine rech­te Regie­rung, um nicht einen stän­di­gen Feind im Rücken zu haben, danach stre­ben, des­sen Ein­fluss so weit wie mög­lich ein­zu­däm­men. Eine rech­te Regie­rung kann nichts ande­res tun, als die staat­li­chen Geld­flüs­se in die Taschen die­ser Leu­te so voll­stän­dig wie mög­lich zu kap­pen – die unver­meid­li­chen Stra­ßen­pro­tes­te wären ein Poli­zei­pro­blem –, auf dass sie weni­ger Zeit für ihr destruk­ti­ves Trei­ben haben, weil sie plötz­lich selbst für ihren Lebens­un­ter­halt sor­gen müs­sen. Es wäre ein Fest­tag, wenn man bei­spiels­wei­se den Mit­ar­bei­tern des Maxim-Gor­ki-Thea­ters eröff­ne­te, dass sie für­der­hin von den Ein­nah­men an der Abend­kas­se leben müs­sen, wenn man den Genos­sen Medi­en­schaf­fen­den der ARD mit­teil­te, dass künf­tig die fri­sche Luft des frei­en Mark­tes sie umfä­cheln wer­de, wenn man Gen­der-Pro­fes­so­rin­nen dar­auf ver­pflich­te­te, den wis­sen­schaft­li­chen Wert ihrer Arbeit zu bele­gen, andern­falls wer­de der Lehr­stuhl gestri­chen. Den mili­tan­ten Teil der Lin­ken könn­te man über­dies mit den Seg­nun­gen der Will­kom­mens­kul­tur in den Gefäng­nis­sen bekannt machen. Dann wäre näm­lich auch an die­ser Front Ruhe.

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Unter dem Stich­wort „Rechts­extre­mis­mus” mel­det die Tages­schau: „Der Ver­fas­sungs­schutz beob­ach­tet eine Instru­men­ta­li­sie­rung von Kri­sen, um die eige­ne Erzäh­lung zu ver­brei­ten. Das sei am Bei­spiel des Ter­ror­an­griffs der Hamas auf Isra­el deut­lich gewor­den. Von eini­gen Akteu­ren sei ange­sichts pro­pa­läs­ti­nen­si­scher Demons­tra­tio­nen in Deutsch­land von einem ‚Import’ des Kon­flikts gespro­chen und Migra­ti­on pau­schal als Wur­zel gesell­schaft­li­cher und sozia­ler Pro­ble­me dar­ge­stellt wor­den. Das The­ma Migra­ti­on und Asyl habe für Rechts­extre­mis­ten wie­der an Bedeu­tung gewonnen.”

Mit ande­ren Wor­ten: Die Rech­ten tun, was der Ver­fas­sungs­schutz tun müsste.

Man soll sagen: Hal­den­wangs Bun­des­amt für Islamschutz.

Und jetzt zum angeb­li­chen Klimawandel.

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Gar viel und schön ward hier in die­ser Hal­le schon gesun­gen, nur, so weit ich mich ent­sin­ne, kein ein­zi­ger Ton oder Takt zur Por­no­gra­phie. Aus­ge­nom­men mei­ne Notiz zu jenem bra­si­lia­ni­schen Urwald­stamm, in wel­chem nach dem Anschluss ans Inter­net ein Teil der Män­ner der Por­no­sucht ver­fiel (Acta vom 16. Juni). Im Anschluss schrieb mir eine Dame mit DDR-Bio­gra­phie, sie habe sich zwar sei­ner­zeit über die Wie­der­ver­ei­ni­gung gefreut, aber sie sei „scho­ckiert“ gewe­sen, als sie im Zim­mer ihres damals noch min­der­jäh­ri­gen Soh­nes por­no­gra­phi­sche Maga­zi­ne ent­deckt habe (so etwas gab es im Osten nicht), ihr Sohn sei damals auf ähn­li­che Wei­se ein Opfer der unbe­schränk­ten west­li­chen Frei­heit gewor­den wie jetzt die­se Busch­leu­te. Ich ent­sann mich stracks einer Leser­zu­schrift, die ich irgend­wann anno 1990, damals noch als Redak­teur des Ost­ber­li­ner Mor­gen, eben­falls von einer Frau erhielt: Es war ein klei­nes quer­for­ma­ti­ges Heft­chen, in wel­chem – des­halb das Quer­for­mat – durch­weg unbe­klei­de­te Mai­den mit gespreiz­ten Bei­nen abge­bil­det waren, also prak­tisch eine gynä­ko­lo­gi­sche Bil­der­stre­cke, und der bei­gefüg­te Kom­men­tar, halb höh­nisch, halb empört, lau­te­te: Das sei also die über­le­ge­ne west­li­che Kul­tur, die uns DDRlern jetzt ange­dient wird.

Ich schau­te mir das Heft­chen inter­es­siert und durch­aus ani­miert an, ich bin ja ein Kerl und stand damals über­dies noch so im Saft, dass die Anzie­hungs­kraft eines juve­ni­len weib­li­chen Zen­tral­or­gans mit dem Wort „magisch” noch weit unter­trie­ben auf den Begriff gebracht wäre. Die abge­bil­de­ten Mädels waren jung, kna­ckig, und bei dem, was sie dort prä­sen­tier­ten, han­del­te es sich um wah­re Viel­falt, ja gera­de­zu um Diver­si­tät. Dage­gen ist kein mora­li­sches Kraut gewach­sen – und das erst recht nicht, wenn sich die Bil­der oben­drein noch bewe­gen. Aller­dings schei­nen gewis­se Unter­schie­de zwi­schen Buben und Maderln zu bestehen, was die, sagen wir: Rezep­ti­on sol­cher Erzeug­nis­se betrifft. Die Geschlech­ter unter­schei­den sich ja bekannt­lich in nahe­zu nichts, aber beim soge­nann­ten Umgang mit der Por­no­gra­phie denn wohl doch. Nen­nen wir es den Gen­der Por­no Gap. Man muss den Unter­schied zwi­schen Mann und Weib in die­sem Belang berücksichtigen.

Bevor es der einen oder ande­ren Lese­rin zu fri­vol wird, will ich einen Merk­satz ein­schal­ten: Wer zur Por­no­gra­phie eine unge­bro­chen posi­ti­ve Mei­nung hat, ist ein Schwein, wer zu ihr eine dezi­diert nega­ti­ve Mei­nung hat, ist ein Heuch­ler (*:in).

Zufäl­li­ger­wei­se las ich ges­tern in der Zeit einen Arti­kel über die Beliebt­heit, wel­cher sich Lite­ra­tur über die bzw. aus der DDR neu­er­dings in den USA erfreue. Der Arti­kel erwähnt unter ande­rem Jen­ny Erpen­becks Roman „Kai­ros“ aus dem Jahr 2021. „Kai­ros” spielt Mit­te der 1980er Jah­re im Ost-Ber­li­ner Intel­lek­tu­el­len­mi­lieu. Katha­ri­na, die weib­li­che Haupt­fi­gur, darf ihre Groß­mutter in Köln besu­chen, und dort stellt sie fest, dass der Wes­ten sie anekelt: „Bett­ler am Bahn­hof, der kli­nisch rei­ne McDonald’s, Ramsch­lä­den in der Fuß­gän­ger­zo­ne” (ich erin­ne­re mich einer Jour­na­lis­tin des Mor­gen, die 1988 in den Wes­ten durf­te, um eine Repor­ta­ge zu schrei­ben, und womit sie zurück­kam, war ein Inter­view mit einem Bahn­hofs­pen­ner). Die Neu­gier­de führt Katha­ri­na schließ­lich in einen Sex­shop. Dort sieht sie „offe­ne Mün­der, offe­ne Arsch­lö­cher, pral­le Scham­lip­pen, fal­ti­ge Hoden, alles wetzt sich anein­an­der, reibt sich, zieht sich aus­ein­an­der, presst, würgt, lutscht sich aus, saugt sich fest, spuckt sich an, sie sieht also hier, am Grun­de der Frei­heit, Tit­ten und Schwän­ze und Fot­zen, sieht Stän­der und Mösen, sieht dicke Din­ger, gei­le Zun­gen, sieht Flüs­sig­kei­ten her­vor­quel­len aus Eicheln.” Der Zeit-Redak­teur kom­men­tiert: „Das ist der Wes­ten, und viel mehr wird von ihm hier nicht gezeigt. Frei­heit? Das ist in Kai­ros nur die obs­zö­ne Frei­heit des Konsums.”

Es folgt der zwei­te, höchst tri­via­le, aber immer wie­der zu erin­nern­de Merk­satz: Frei­heit gibt es nur ganz oder gar nicht.

Frei­heit schließt sehr vie­le Aspek­te ein, die unan­ge­nehm, befrem­dend, schäd­lich, läs­tig und eklig sein kön­nen, so wie Men­schen eben unan­ge­nehm, befrem­dend, läs­tig und eklig sind. Aber wenn man anfängt, sie ein­zu­schrän­ken, was in der Regel vom Staat her oder sei­tens star­ker Ein­fluss­grup­pen geschieht – ich rede hier nicht von Jugend­schutz, Zivil- oder gar Straf­recht –, dann ist meis­tens eine geneig­te Ebe­ne beschrit­ten, auf der es lang­sam, aber sicher hin­ab geht in die Unfrei­heit. Es gibt kei­ne idea­len Zustän­de, kein Para­dies ohne Schlan­ge. Nun wähle.

Zum Bei­spiel in Sachen Meinungsfreiheit.

Das­sel­be gilt natur­ge­mäß für die Sphä­re des Sexu­el­len und Ero­ti­schen. Omne ani­mal post coi­tum tris­te: Alle Tie­re sind nach dem Geschlechts­ver­kehr trau­rig. Aber davor eben geil. Und das ist die gan­ze Geschich­te. Wobei ich anmer­ken möch­te, dass jenes Nase­rümp­fen man­cher Ost-Intel­lek­tu­el­ler über die Obs­zö­ni­tät des Wes­tens – und, machen wir uns nichts vor, der Wes­ten ist obs­zön wie ein Pavi­an – in ers­ter Linie nichts ande­res als Selbst­wert­sta­bi­li­sie­rung war. Und mit­un­ter noch – oder wie­der – ist.

Wei­ter die Zeit: „Bei Erpen­becks Dar­stel­lung der bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Wirk­lich­keit von einem Zerr­bild zu spre­chen, wäre ein Euphe­mis­mus. Man meint, stel­len­wei­se in die agi­ta­to­ri­sche DDR-Fern­seh­sen­dung Der schwar­ze Kanal gera­ten zu sein. Kaum ist Katha­ri­na zurück in der DDR, erstrahlt wie­der das herr­lich düs­te­re Bohe­me-Leben die­ser weit­ge­hend ange­pass­ten Kul­ture­li­te in Ber­li­ner Restau­rants und Cafés wie dem Gany­med und den Offen­bach-Stu­ben, als sei Ost-Ber­lin das Paris des Ostens gewesen.”

Das ist das Pro­blem. Wenn sie wenigs­tens ihre Aver­si­on gleich­ver­teil­te! (Ken­nen Sie, apro­pos Gleich­ver­tei­lung der Aver­sio­nen, den Roman „Land der Wun­der”?) Was aber ist obs­zö­ner: ein Por­no­film oder der Bericht eines Sta­si-Obser­vie­rers? Etwa: „Wolf Bier­mann führt mit einer Dame Geschlechts­ver­kehr durch. Spä­ter erkun­dig­te er sich, ob sie Hun­ger hat. Die Dame erklär­te, dass sie gern einen Kon­jak trin­ken wür­de. Es ist Eva Hagen. Danach ist Ruhe im Objekt.”

Außer­dem muss ich, bei aller Ambi­va­lenz zum The­ma, pro domo anmer­ken, dass ich aus Por­no­fil­men ent­schie­den mehr und vor allem Nütz­li­che­res gelernt habe als aus sämt­li­chen Schrif­ten von Ador­no, Haber­mas und, ohne Fran­zo­sen soll­te man die­ses Sujet nicht trak­tie­ren, sagen wir: Sartre.

Als ekel­ge­steu­er­ter Mensch – ich deu­te­te es an – habe ich gleich­wohl Vor­be­hal­te gegen das por­no­gra­phi­sche Gen­re. Im erwähn­ten Roman „Land der Wun­der” fin­den sich, noch­mals apro­pos, eini­ge durch­aus por­no­gra­phi­sche Pas­sa­gen, die ich heu­te viel­leicht nicht mehr schrei­ben wür­de, weil mich die öffent­li­che Zur­schau­stel­lung des Sexu­el­len doch etwas anwi­dert. Distink­ti­on und Dis­kre­ti­on sind in die­ser Fra­ge inzwi­schen fast dasselbe.

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Noch zum Vorigen.

Es war aber immer ein Feh­ler der Rech­ten, den Eros und sei­ne Freu­den den Lin­ken zu über­las­sen. Mag sein, dass sich der­zeit die Fron­ten umkeh­ren; ich beob­ach­te eine zuneh­men­de Prü­de­rie, die einer­seits mit der Ver­brei­tung impor­tier­ter reli­giö­ser Regeln zusam­men­hängt, deren Anhän­ger der sexu­el­len Frei­zü­gig­keit und sogar dem Flirt unfreund­lich geson­nen sind, ande­rer­seits eine Fol­ge des Femi­nis­mus und der #MeToo-Pro­pa­gan­da ist, die jeden Anmach­ver­such zu einer hals­bre­che­ri­schen und even­tu­ell kar­rie­re­be­en­den­den Ange­le­gen­heit machen.

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„Bei Frau Lang möch­test du nicht Hüf­te sein.”
Freund *** (obwohl nicht mal Orthopäde)

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Auf sei­ner Web­sei­te kom­men­tiert Alex­an­der Wal­l­asch das Inter­view mit einem Exper­ten für Kriminalastrologie.

Dirk Bai­er heißt der Mann, und dass er Pro­fes­sor in Zürich ist, näher­hin am „Insti­tut für Delin­quenz und Kri­mi­nal­prä­ven­ti­on an der Hoch­schu­le für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten, Depar­te­ment Sozia­le Arbeit”, deu­tet dar­auf hin, dass die aka­de­mi­schen Qua­ran­tä­ne­vor­keh­run­gen auch in der Schweiz im sel­ben Maße ver­sa­gen wie die Abwehr von Asyl­grund­vor­täu­schern an Hel­ve­ti­ens Grenzen.

Bai­er ist bei­spiels­wei­se der für einen Kri­mi­no­lo­gen fast schon auf DDR-Level ori­gi­nel­len Ansicht, „Pro­ble­me mit Mes­ser­ge­walt” könn­ten damit zusam­men­hän­gen, dass „es Mes­ser­at­ta­cken so schnell in die Nach­rich­ten schaf­fen“. Er, Bai­er, hat sei­ner­seits ein Pro­blem damit, dass „Medi­en und Poli­tik” ver­such­ten, bei den Mes­ser­ste­chen­den irgend­wel­che fal­schen Gemein­sam­kei­ten fest­zu­stel­len, wie er, Bai­er, die rich­ti­gen zwi­schen Delin­quenz und sozia­ler Arbeit. „Dabei läuft es meis­tens auf die aus­län­di­sche Her­kunft des Täters her­aus. Man könn­te aber auch auf eine ande­re Über­ein­stim­mung kom­men: Näm­lich, dass wir es in bei­den Fäl­len mit Män­nern zu tun haben.“

Der nahe­lie­gen­den Kom­bi­na­ti­on, dass es sich um Aus­län­der und Män­ner han­delt, von denen es immer mehr gibt, gera­de in den Kri­mi­nal­sta­tis­ti­ken, weil seit Jah­ren Hun­dert­tau­sen­de jun­ge Män­ner aus gewalt­a­ffi­nen Kul­tur­krei­sen in die deutsch­spra­chi­gen Lan­de und Gaue strö­men, die­sem nahe­lie­gen­den Schluss, sage ich, wider­stre­ben sowohl Bai­ers ten­denz­kon­for­me Anpas­sung an die Ideo­lo­gie des Mon­dia­lis­mus und der Woke­ness als auch eine gewis­se Bereit­schaft zu struk­tu­rel­ler Ver­lo­gen­heit, also mut­maß­li­che cha­rak­ter­li­che Defi­zi­te, ohne die ein sol­cher Lehr­stuhl in einem sol­chen Fach frei­lich heu­te kaum mehr zu erlan­gen sein dürf­te. Umge­kehrt exis­tiert kei­ne Instanz mehr – das heißt, sie exis­tiert schon, aber auch dort herrscht die Angst, auf­grund poli­tisch uner­wünsch­ter Ansich­ten gemaß­re­gelt zu wer­den –, die einen sol­chen Schwa­fel­hans abbe­ruft. Des­we­gen erzählt der Bub auch seit Jah­ren das­sel­be. Als ich sei­nen Namen las, dach­te ich mir, den kennst du doch, und sie­he: Ich hat­te ihn schon ein­mal am Wickel, näm­lich im Acta-Ein­trag vom 18. April 2018. Damals ging es um das näm­li­che mit nix zu tun haben­de Phä­no­men, und ein gan­zer Chor media­ler Abwieg­ler trat in die Bütt, mit­ten­mang der Genos­se Bai­er. Ich zitiere:

„Die Zeit beru­higt: Die ‚Angst vor zuneh­men­der Mes­ser­ge­walt’ sei ‚unbe­grün­det’. Das haben zwei ARD-Jour­na­lis­ten her­aus­ge­fun­den, und die müs­sen es ja wis­sen. Und ob die 572 Vor­fäl­le aus Nord­rhein-West­fa­len ‚eine Zunah­me der Stich­waf­fen­kri­mi­na­li­tät bedeu­ten, lässt sich nicht sagen, denn es feh­len Ver­gleichs­zah­len für die Vorjahre’.

So wie, bei­spiels­wei­se, die Ver­gleichs­zah­len für Aids-Infek­tio­nen aus den 1970er Jah­ren feh­len? Aus dem glei­chen Grund kann auch nie­mand sagen, ob die Gewalt gegen Ret­tungs­kräf­te oder das Per­so­nal von Kran­ken­häu­sern zuge­nom­men hat. Kei­ne Zah­len! War­um man frü­her kei­ne Zah­len erho­ben hat? Nun, die einen sagen, um die Täter zu schüt­zen und der Tou­ris­mus­in­dus­trie nicht zu scha­den, wie es etwa durch das sys­te­ma­ti­sche Klein­re­den der Mas­sen­ver­ge­wal­ti­gun­gen auf dem Münch­ner Okto­ber­fest seit Olims Zei­ten bewerk­stel­ligt wird. Die ande­ren, die Ewig­gest­ri­gen und kon­ser­va­ti­ven Spin­ner, behaup­ten, man habe die Mes­ser­at­ta­cke als Erschei­nungs­bild der hie­si­gen All­tags­kri­mi­na­li­tät frü­her eben nicht gekannt… – aber was liegt an den ande­ren? Die wol­len sich bloß nicht erin­nern! Wie kann man die vie­len auf offe­ner Stra­ße mas­sa­krier­ten Frau­en, die Klein­kin­der mit durch­ge­schnit­te­ner Keh­le, die bei Mas­sen­schlä­ge­rei­en in deut­schen Innen­städ­ten hun­dert­fach nie­der­ge­sto­che­nen Jüng­lin­ge in den Acht­zi­gern und Neun­zi­gern ein­fach so vergessen?

‚Wenn man die nack­ten Zah­len der Fäl­le von schwe­rer Gewalt bei Jugend­li­chen betrach­tet, so kann man in den letz­ten Jah­ren kei­nen Anstieg beob­ach­ten’, erklär­te ein Sozio­lo­ge namens Dirk Bai­er der taz. ‚Die Zah­len sind sta­bil oder sogar rück­läu­fig, es han­delt sich momen­tan eher um eine zufäl­li­ge Häufung.’

Der Qua­li­täts­jour­na­lis­ten-Anwär­ter hak­te pflicht­be­wusst nach: ‚Woher kommt der Ein­druck, sol­che Atta­cken näh­men zu?’

Und der Quan­ti­täts­exper­te repli­zier­te: ‚Das liegt mei­nes Erach­tens an der media­len Fokus­sie­rung auf das The­ma, denn inner­halb kur­zer Zeit wur­de viel über die­se Fäl­le berich­tet. Men­schen ver­su­chen immer einen Sinn zu fin­den und Din­ge mit­ein­an­der in Bezie­hung zu set­zen – auch wenn die­se eigent­lich gar nichts mit­ein­an­der zu tun haben.’

So wie es zum Bei­spiel nichts mit­ein­an­der zu tun hat, dass der Herr Bai­er, der momen­tan dank media­ler Fokus­sie­rung als Kron­zeu­ge für die The­se auf­tritt, es gebe weder einen Anstieg der Zahl der Mes­ser­at­ta­cken, noch hät­ten impor­tier­te Gepflo­gen­hei­ten oder wenigs­tens geschenk­te Men­schen etwas damit zu schaf­fen, bis 2015 wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter am Kri­mi­no­lo­gi­schen For­schungs­in­sti­tut Nie­der­sach­sen gewe­sen ist, wo er zehn Jah­re lang dem Gefäl­lig­keits­the­sen­be­schaf­fer Chris­ti­an Pfeif­fer sei­ner­seits Gefäl­li­ges appor­tier­te, mit Schwer­punkt ‚Aus­län­der­feind­lich­keit und Rechts­extre­mis­mus’ übri­gens, bevor er eine eige­ne Jahr­markts­bu­de als Delin­quenz­geist­hei­ler und kri­mi­na­li­tät­prä­ven­ti­ver Hand­auf­le­ger bzw. ‑auf­hal­ter in Zürich eröffnete.

Man­che sehen die Ent­wick­lung in die­sem spe­zi­el­len Delikt­feld frei­lich anders. ‚Ins­ge­samt ist die Zahl der Ver­bre­chen, bei denen Mes­ser ein­ge­setzt wur­den, in den letz­ten zehn Jah­ren um 1.200 Pro­zent gestie­gen’, schreibt das Gates­tone-Insti­tu­te, das aber viel unse­riö­ser ist als das Pfeif­fer-Bai­er-Insti­tut, wes­halb die­ser Ein­zel­fal­l­ad­di­ti­ons­ra­dau von der Qua­li­täts­pres­se zu Recht nicht zer­ti­fi­ziert wor­den ist.

Doch zurück zu unse­rer süd­deut­schen Beob­ach­te­rin, die uns bei so vie­len Gleich­ge­sinn­ten fast schon aus dem Blick gera­ten war. Vor allem für Jugend­li­che sei das Mes­ser ‚eine Art Life­style-Pro­dukt’ gewor­den, zitiert sie, na wen schon, den Herrn Bai­er. Gera­de unter Jungs sei es längst Brauch und Sit­te, ein Mes­ser in der Hosen­ta­sche zu haben. Der ‚Hang, im Jugend­al­ter auf­zu­rüs­ten’, sei aller­dings nicht neu, trös­tet die Jour­na­lis­tin sogleich, ‚wenn man an die Halb­star­ken der 1950er-Jah­re denkt, zu deren Macho­po­sen immer auch Mes­ser gehör­ten’. Da sie kei­nen Migra­ti­ons­hin­ter­gund hat­ten, wur­de ihre Blut­spur aber nicht wei­ter thematisiert.

Den­noch, fährt die SZ fort, gäben man­che aktu­el­le Zah­len ‚Anlass zu Beden­ken’: Einer Stu­die aus Nie­der­sach­sen zufol­ge, ‚die auf Befra­gun­gen unter Jugend­li­chen beruht, zie­hen 29 Pro­zent der Jun­gen zumin­dest gele­gent­lich mit einem Mes­ser los, Ten­denz stei­gend.’ Sogar zur Schule!

‚Und wer sind die Jugend­li­chen, die ihre Mes­ser dann auch ein­set­zen? Oft Jun­gen und Mäd­chen, die selbst Gewalt erlebt haben oder gemobbt wur­den, so Bai­er. Gene­rell gilt nach Ansicht des Sozio­lo­gen: Wer jung und mit Mes­ser unter­wegs ist, hat ein dop­pelt so hohes Risi­ko, eine Gewalt­tat zu bege­hen, wie Jugend­li­che ohne Messer.’

Die har­ten Erkennt­nis­se der pro­gres­si­ven Sozi­al­wis­sen­schaft wir­ken auf den ers­ten Blick oft sim­pel. Mer­ke, zum einen: ‚Gewalt ist immer auch ein Hil­fe­ruf!’ (Cl. Roth) – bzw. eben eine Reak­ti­on auf Mob­bing oder erlit­te­ne Gewalt, sie­he RAF, NSU, Anti­fa, Vier­te Gewalt usf. Mer­ke, zum ande­ren: Wer ohne Mes­ser los­zieht, geht ein gerin­ge­res Risio ein, damit zuzu­ste­chen. Der Herr Bai­er ist übri­gens Pro­fes­sor, was ja nichts ande­res heißt als: sich-zu-erken­nen-Geben­der. Als was, dür­fen Sie entscheiden.

Und, jetzt kommt’s end­lich, die Süd­deut­sche stellt die sta­tis­tisch-will­kom­men­kul­tu­rel­le Gret­chen­fra­ge: ‚Immer wie­der dreh­te sich die Dis­kus­si­on der ver­gan­ge­nen Wochen dar­um, dass unter Migran­ten Mes­ser­an­grif­fe zuneh­men wür­den. Tat­säch­lich gibt es in der Stu­die, die auf Schü­ler­be­fra­gun­gen aus Nie­der­sach­sen basiert, Hin­wei­se dar­auf, dass man­che Grup­pen häu­fi­ger Mes­ser tra­gen als ande­re. So hät­ten Jugend­li­che aus Süd­eu­ro­pa, Polen, Nord­afri­ka und dem ara­bi­schen Raum am häu­figs­ten Mes­ser dabei. Es sei aber Quatsch, die Taten der ver­gan­ge­nen Wochen und Mona­te ‚auf die Migran­ten­schie­ne’ zu schie­ben, sagt Kri­mi­na­li­täts­for­scher Bai­er. Weil es schlicht kei­ne Zah­len dazu gebe. Und weil nicht jeder, der ein Mes­ser bei sich tra­ge, auch kri­mi­nell werde.’

Es gibt kei­ne Zah­len, aber der Sozio­lo­ge weiß Bescheid. Und da man die täg­li­chen Mel­dun­gen über Mes­ser­an­grif­fe, deren aus­üben­des Fach­per­so­nal fast aus­nahms­los zu den­je­ni­gen gehört, die noch nicht län­ger hier leben, auch wenn sie als Pass­deut­sche fir­mie­ren, nicht ver­all­ge­mei­nern darf, wird eine (!) Schü­ler­be­fra­gung (!) her­bei­zi­tiert. Doch schau­en wir allein auf die Ein­gangs­bei­spie­le des SZ-Arti­kels: Bei drei der vier Fäl­le lacht uns der berühm­te Hin­ter­grund ent­ge­gen, und die 16jährige Mes­ser­maid zu Dort­mund gehört wahr­schein­lich auch in die­se Kategorie!

Aber die süd­deut­sche Hos­pi­tan­tin zitiert als Sie­gel der Kri­mi­no­lo­gen einen Herrn von der Kri­mi­no­lo­gi­schen Zen­tral­stel­le in Wies­ba­den mit den Wor­ten: ‚Es gibt kei­nen Kul­tur­be­griff von Gewalt; kei­ne Reli­gi­on, kei­ne Staats­an­ge­hö­rig­keit greift schnel­ler nach einem Mes­ser.’ Auch die­se For­mu­lie­rung muss man am Gau­men lieb­ko­sen und schme­cken: ein ‚Kul­tur­be­griff von Gewalt’, nicht zu ver­wech­seln mit dem Gewalt­be­griff von Kul­tur übri­gens! Dafür, dass es ihn nicht gibt, ist er ambi­tio­niert for­mu­liert. Was der Bra­ve uns sug­ge­rie­ren will, ist die erwünsch­te Illu­si­on der Gleich­heit aller Kul­tu­ren bzw. eher eben doch Eth­ni­en, als ob die­se sich nicht auch in punc­to Gewalt­be­reit­schaft erheb­lich von­ein­an­der unter­schie­den, sogar gene­tisch, wie neue­re For­schun­gen immer wie­der ver­bo­te­ner­wei­se nahe­le­gen. Es greift auch kei­ne Reli­gi­on oder Staats­an­ge­hö­rig­keit zum Mes­ser, son­dern das tun Men­schen mit Staats­an­ge­hö­rig­keit oder reli­giö­ser Über­zeu­gung, und auch hier sto­ßen wir auf sta­tis­tisch signi­fi­kan­te Unter­schie­de zwi­schen staat­lich und reli­gi­ös von­ein­an­der unter­schie­de­nen Kollektiven.

Außer natür­lich in Deutsch­land, da stellt sich sofort nach Grenz­über­tritt auf magi­sche Wei­se bei sämt­li­chen Cha­rak­ter­ei­gen­schaf­ten und Bega­bun­gen und folg­lich auch bei sämt­li­chen Delik­ten eine strik­te eth­nisch-kul­tu­rell-reli­giö­se Aus­ge­gli­chen­heit ein. Des­we­gen ist die sta­tis­ti­sche Wahr­schein­lich­keit, hier von einem Viet­na­me­sen oder Sach­sen nie­der­ge­sto­chen zu wer­den, exakt die­sel­be wie die, dass ein Syrer oder Afgha­ne es erle­digt (Abwei­chun­gen regelt ein Dis­kurs). Fast genau die Hälf­te der Tat­ver­däch­ti­gen bei Mes­ser­at­ta­cken in Hes­sen bei­spiels­wei­se besitzt die deut­sche Staats­bür­ger­schaft. Sie­ben Pro­zent haben jeweils die tür­ki­sche und afgha­ni­sche sowie 5,5 Pro­zent die syri­sche und drei Pro­zent die soma­li­sche Staats­bür­ger­schaft. Die übri­gen Taten ent­fal­len auf Men­schen aus ande­ren Natio­nen. Wobei die For­mu­lie­rung, die deut­sche Staats­bür­ger­schaft ‚besit­zen’, nicht jenes Besit­zen meint, auf wel­ches der Nazi-Slo­gan ‚Was du ererbt von dei­nen Vätern hast, erwirb es, um es zu besit­zen’ anspielt, sofern es sich um deut­sche Väter han­delt, son­dern es geht hier um einen Besitz, der kurz­fris­ti­ger und erbun­schul­di­ger sein kann, unge­fähr dem eines Mes­sers vergleichbar.”

Sem­per idem – man könn­te mei­nen, es sei ges­tern geschrie­ben wor­den, fin­den Sie nicht?

***

PS: Zur Behaup­tung der SZ-Jour­na­lis­tin, dass zu den „Macho­po­sen der Halb­star­ken in den 1950er Jah­re” immer auch Mes­ser gehör­ten, schreibt Leser ***: „Ich ich gehör­te dazu, aber es ging dabei nicht um Macho­po­sen. Jahr­zehn­te spä­ter habe ich auf mei­ner Web­site in einem ande­ren Zusam­men­hang zu die­sem The­ma geschrie­ben.” Und zwar dies: „Jeder Jun­ge, der etwas auf sich hielt, besaß damals ein Mes­ser. Es waren soge­nann­te Fahr­ten­mes­ser, Mes­ser mit einer ca. 15 cm lan­gen fest­ste­hen­den Klin­ge, die – auch in der Schu­le – offen in einer eigens dafür vor­ge­se­he­nen seit­li­chen Hosen­ta­sche oder am Gür­tel getra­gen wur­den. Mei­ne Mut­ter hat­te mir so ein Mes­ser unter äußers­ten Beden­ken gekauft und das auch nur, weil alle ande­ren Jun­gen eben­falls eins besa­ßen und ich ihr ver­spro­chen hat­te, damit kei­nen Unfug anzu­stel­len. Die­se Mes­ser waren eine Art Sta­tus­sym­bol. Sie wur­den gehegt und gepflegt, erhiel­ten durch Bema­lun­gen, Schnit­ze­rei­en oder was sonst auch immer eine per­sön­li­che Note und wur­den in den Pau­sen mit Stolz vor­ge­zeigt. Bei mir war so im Lau­fe der Zeit aus einem ganz nor­ma­len Fahr­ten­mes­ser ein per­fekt aus­ba­lan­cier­tes zwei­schnei­di­ges Wurf­mes­ser gewor­den, mit dem man pro­blem­los Papier schnei­den konn­te. Aber nie­man­dem wäre auch nur der Gedan­ke gekom­men, einen Mit­schü­ler oder einen Leh­rer damit zu bedro­hen oder gar anzugreifen.”

Zum Mes­ser gehört eben immer der Messermann.

 

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