Der Historienfilm ist, von ehrenwerten Ausnahmen abgesehen, ein ähnlich minderwertiges Genre wie der historische Roman. Die Filme von Ridley Scott gehören nicht zu den Ausnahmen. Nachdem ich die vor Fehlern, Übertreibungen, Versimpelungen und Kitsch strotzenden Historienschinken „Gladiator” und „Königreich der Himmel” gesehen hatte, nahm ich mir fest vor, seinen „Napoleon” nicht anzuschauen, doch was vermag ein machtloses sogenanntes Familienoberhaupt schon gegen den Druck der Basis? So tat ich’s denn doch contre cœur – und fand alle meine Vorurteile bestätigt.
Der Fairness halber muss man bemerken, dass Napoleons Leben jedes Menschenmaß übersteigt und der Versuch, diese gesamte Biographie in einen Film zu prokrusten, zwangsläufig scheitern muss. Die Regisseure, die sich bisher an Bonaparte versuchten, haben deshalb immer einzelne Episoden aus dieser Kometenexistenz herausgegriffen, bevorzugt die Hundert Tage und die Schlacht bei Waterloo (auch Kubrick wollte einen Film ausschließlich über die finale Niederlage des Franzosenkaisers drehen). Ridley Scott hat sich also a priori am Thema verhoben. Die meisten Schwächen des Filmes rühren daher. Es handelt sich um willkürlich ausgewählte, chronologisch aneinandergereihte, aber jenseits der Chronologie zusammenhanglos wirkende Episodenpuzzleteilchen. Aus diesem Dilemma wird auch der Directors Cut nicht herausfinden.
Von der Persönlichkeit Bonapartes, der wie eine Naturgewalt über Europa hereinbrach, vermittelt der Film nahezu nichts. Dabei macht Joaquin Phoenix seine Sache nicht schlecht. Aber alle anderen Figuren sind deprimierend miserabel gecastet (außer der Darstellerin der Marie-Antoinette für ihren präludierenden Kurzauftritt). Der Weltmann, elegante Plauderer und eiskalte Intrigant Talleyrand etwa wirkt wie der Türhüter eines Dracula-Schlosses.
Das ging schon mal besser.
Einer der göttlichsten Streiche Talleyrands, die Erzwingung der Demission von Barras, die jenem mit einem Wechsel von mehreren Millionen Francs schmackhaft gemacht werden sollte – der Bürger Außenminister steckte aber den Wechsel ein und drohte dem Direktoriumschef nur nachdrücklich mit den vor dem Schloss kampierenden Truppen –, wird im Film nicht gezeigt (die Szene selbst kommt vor).
Die Sex-Szenen sind fad und von unfreiwilliger Komik (den doggy style wird man jetzt wohl in le style de l’empereur umbenennen). Der Darsteller des Alexander wäre als Werber in der Agentur von Don Draper („Mad Man”) besser aufgehoben als in Tilsit. Der Zar hat nach Napoleons Abdankung tatsächlich Josephine besucht, die sich für ihren (Ex-)Mann verwenden wollte, doch die Szene, in der die beiden in trauter Zweisamkeit in Josephines Schlösschen miteinander tanzen, ist geschmacklos. Dass Napoleon wegen der Untreue seiner Favoritin die Ägyptenarmee im Stich lässt, ist historisch falsch, dass er im Film aus demselben Grund die Grande Armée führerlos in Russland zurücklässt, ebenfalls (gegenüber Caulaincourt begründete er seine Quasi-Desertion mit der immerhin witzigen Bemerkung: „Mit den Franzosen ist es wie mit den Frauen: Man darf sie nicht zu lange allein lassen.“)
Und so geht es munterdämlich weiter. Die Schlacht gegen die Mamluken des Murad Bey findet im Film, anders als in der Realität, zu Füßen der Pyramiden statt; diesen Effekt wollte sich der Regisseur wohl nicht entgehen lassen, doch dass er die Franzosen aus Spaß auf das Grabmal des Chephren feuern und dessen ohnehin ramponierte Verkleidung noch mehr demolieren lässt, obwohl Bonaparte extra eine Gelehrtenkommission mitgenommen hatte, um die ägyptischen Altertümer zu erforschen, fällt wiederum unter: Blödsinn.
Marschall Ney, der „Mutigste der Mutigen”, schaut aus wie der Fozzibär. Warum nicht er, wie in Wirklichkeit, Napoleon nach dessen Rückkehr von Elba entgegenzieht, um ihn zu verhaften und „in einem Käfig nach Paris zu bringen”, sondern General Marchand (der tatsächlich mit seinen Truppen in Grenoble stand, um die Stadt gegen den Elba-Rückkehrer zu verteidigen), bleibt schleierhaft. Die Völkerschlacht bei Leipzig, der eigentliche Grund für Napoleons Abdankung und Exilierung, kommt nicht vor. Dass Bonaparte die letzte Kavallerieattacke von Waterloo selbst zu Pferde anführt, setzt dem Nonsens die Kaiserkrone auf. Ich will’s dabei bewenden lassen.
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Im Episodenschnipsel Ägyptenfeldzug gibt es eine Szene, in welcher Bonaparte eine Königsmumie präsentiert wird, vor welcher er – welthistorische Autokraten, Jahrtausende verbindend, unter sich – in stiller Zwiesprache verharrt wie reichlich hundert Jahre später der junge Winston Chruchill vor einer Büste von Napoleon („Langsam, Winston, langsam”, soll der Engländer damals zu sich gesagt haben). Der Mumienschrein ist jenem des Tutanchamun nachempfunden, während die Mumie jener von Ramses II. gleicht. Beides ist historisch unmöglich. Die Königsmumien des Neuen Reichs wurden erst 1871 in ihrem Versteck in Deir el-Bahari entdeckt, das Grab Tutanchamuns 1922. Aber dass sich der petit général auch Mumien angesehen haben wird, vielleicht die eines höheren Beamten, darf als sicher gelten.
Der Maler Maurice Henri Orange hielt eine solche fiktive Szene in seinem Gemälde Napoléon Bonaparte devant les pyramides, contemplant la momie d’un roi von 1895 fest, (es hängt im Musée d’Art moderne Richard-Anacréon, Granville); da dürfte Scott es herhaben.
Ich nahm die Szene zum Anlass, einmal wieder in Vivant Denons Buch „Mit Napoleon in Ägypten” zu lesen, das Bonapartes oberster Kunsträuber und Leiter des Musée Napoléon, des späteren Louvre, nach seiner Rückkehr aus Ägypten veröffentlichte und das zu einem internationalen Bestseller wurde, der viel zur sich damals in Europa ausbreitenden Ägyptomanie beitrug. Ein paar Zitate daraus – ich wechsle jetzt das Thema – illustrieren die enormen Mentalitätsunterschiede zwischen Morgen- und Abendländern.
Im Orient stand damals die Zeit buchstäblich still. „Sie scheinen nur dazu da zu sein, um das Land zu bevölkern”, notierte der Franzose. Seine Eindrücke aus Kairo schildert er so: „Überwiegend findet man Paläste mit Mauern umzogen, die die Straßen traurig machen, statt sie zu verschönern. Die Wohnungen der Armen sind hier noch elender als anderwärts, denn außer der Trostlosigkeit und Dürftigkeit im Allgemeinen kommen hier noch die Sorglosigkeit und Nachlässigkeit hinzu, die das Klima erlaubt. (…) Es scheint überhaupt, als wenn bei ihnen alles zur Ruhe einlädt, die Diwans, auf welchen man mehr liegt als sitzt, wo man sich wohl befindet, und von denen aufzustehen ein Geschäft ist; die Kleidung, deren Oberteil aus weiten Röcken besteht, die die Beine mit umwickeln, die großen Ärmel, die acht Zoll über die Fingerspitzen hin ausreichen; ein Turban, dessentwegen man den Kopf nicht beugen kann; ihre Gewohnheit, in der einen Hand eine Pfeife zu halten, mit deren Dampf sie sich betäuben, und in der anderen einen Rosenkranz, dessen Perlen sie zwischen den Fingern durchgehen lassen; all dies verhindert jede Tätigkeit und jedes Nachdenken; sie sinnen, ohne zu wissen, worauf, verrichten alle Tage das Gleiche und haben am Ende gelebt, ohne sich Mühe zu geben, in die Einförmigkeit ihrer Existenz Abwechslung zu bringen.”
„Der Despotismus, der ewig befiehlt und nie belehrt, ist wohl unstreitig die Quelle und der fortdauernde Grund dieses Stillstehens von Handwerk und Gewerbe. (…) Sie bauen so wenig wie möglich. Nie bessern sie aus: einer Mauer droht der Einsturz, sie stützen sie, sie fällt wirklich, gut, so hat man einige Zimmer weniger im Haus, sie richten sich neben den Trümmern ein; das Gebäude selbst versinkt endlich, sie verlassen den Fleck.”
Nach einiger Zeit haben sich die Europäer angepasst: „In der zweiten Nacht stürzte unsere Küche und unser Pferdestall ein; aber gleichgültig wie echte Muselmanen rührten wir uns nicht von der Stelle.”
Faul bis zu Lethargie, waren die Araber doch mutige Krieger. Es half ihnen nicht gegen die europäische Technik. Eines der Resultate dieses in endlosem Gottvertrauen ruhenden Stillstands war die Niederlage der besten Reiterei des Morgenlandes (wenn nicht der Welt, wie Denon schreibt) gegen ein Häufchen französischer Infanteristen, die sich zu Karrees formierten und die Mamluken einfach zusammenschossen.
Auch darüber kann man meditieren.